Description |
„Identität ist Differenz“: was zuerst wie ein offensichtlicher Widerspruch aussieht, liest sich bei genauerem Hinsehen als ein aufs Elementare zugespitzter Ausdruck dafür, dass in der späten Moderne eine Reihe ehemals fundamentaler Gewissheiten ins Wanken geraten sind. Beim Schlagwort „Identität“ denkt man vielleicht zunächst an das Selbstverständnis von Gruppen und Personen, an ihre jeweiligen Antworten auf die Frage, wer man sei. Und in der Tat sind auch alltagsnah erfahrbare Zugehörigkeiten, Selbstdeutungen, existentielle Vergewisserungen mindestens in Bewegung geraten, müssen als ungewiss, als auch anders möglich gelten. Das liegt nicht nur am Absenken der Schwelle zu ebenso experimentellen wie unverbindlichen Selbstdarstellungen, etwa in „sozialen Netzwerken“; sondern es liegt soziostrukturell auch an der Vervielfältigung von sozialen Arenen, an allerlei Mobilisierungen (Migration, „flexible“ Lebensläufe, „Individualisierung“), an Beschleunigungen (Märkte, Konjunkturen, Wissenswandel) und an Fragmentierungen (De-nationalisierung, Mehrfachzugehörigkeit, Öffentlichkeitswandel).
Die soziologische Theorie kann und sollte die Vielfalt der Facetten einer Verunsicherung von „Identitäten“ nicht vorschnell auf eine knappe Formel bringen. Aber sie ist schon lange auf verschiedenen Feldern der Grundlagenforschung unterwegs in Richtung eines so genannt „differenz-logischen“ Denkens. Von Beginn hat die soziologische Theorie ihren Ausgangspunkt genommen bei der analytischen Auflösung vermeintlicher Sicherheiten. Was dem Alltagswissen und –handeln als identisch, als fest gefügt, zuverlässig gegeben und elementar erscheint, zeigt sich in der theoretischen Analyse als Ergebnis einer unter dem Anschein der Identität wirksamen „Synthesis“: Personen, Objekte, Regeln und Institutionen, Handlungen und Rituale nehmen die Form stabiler und in sich ruhender Substanzen an, ihre Identität ist aber im Röntgenstrahl der Theorie abhängig von Differenzen: das Ich ist, was es ist, in Abhängigkeit vom anderen, vom „Nicht-Ich“; die kulturelle Gruppe ist mit sich (scheinbar) identisch nur in Abhängigkeit von der Unterscheidung von anderen, das Objekt des Handelns kristallisiert sich als fester Gegenstand nur heraus auf der Grundlage einer ganzen Batterie von stillschweigend konstitutiven Differenzen (Subjekt/Objekt, Gegenstand/Vorgang, Einzelding/Klasse). Die Person „verschuldet“ ihre Handlung nur in Abhängig von Zuschreibungen kausaler Beziehungen, deren Angemessenheit auf das durchaus nicht alternativlose Differenzschema von Ursache und Wirkung angewiesen bleibt.
Die Vorlesung wird am Leitfaden der Identitätsfrage die Kraft der theoretischen Enthüllung konstitutiver, aber oft verhüllter Differenzen zur Darstellung bringen, und sie wird entlang dieses Grundmotivs soziologischen Theoretisierens in exemplarische Klassiker und aktuelle Fragehorizonte der soziologischen Theoriebildung einführen.
Literaturen und Leistungserwartungen werden zu Beginn der Veranstaltung bekannt gemacht. |