Einführungen in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts
impressum :: feedback :: kontakt ::  
 
   LINKWEG ::: Inhalt / Der Sozialstaat / Historische Paradigmen der Sozialstaatlichkeit / Anfänge der kommunalen Leistungsverwaltung / Quelle: Denkschrift Friedrich Wendenburg (1919)
zurück   Wandel der Sozialfürsorge von der Armenfürsorge zur Wohlfahrtspflege


Der Sozialstaat
3. Historische Paradigmen von Sozialstaatlichkeit
3.3. Anfänge der kommunalen Leistungsverwaltung
3.3.2. Wandel der Sozialfürsorge von der Armenfürsorge zur Wohlfahrtspflege


  Denkschrift des Gelsenkirchener Stadtarztes Friedrich Wendenburg zur Bekämpfung der grassierenden Tuberkolose (1919)  
zum Seitenanfang
 

»II. Ziele und Aufgaben der neu einzurichtenden Tuberkulosefürsorge

  1. Volkstümliche Belehrung.
    Die Zentralstelle dafür ist die Fürsorgestelle. Außerhalb des Rahmens der Sprechstunden muß die Belehrung der Kranken, Gefährdeten und Gesunden in dem ganzen Kreise der Beteiligten wirksam gemacht werden
  2. Aufsuchung und Einschränkung der Tuberkulose-Herde, deren Mittelpunkt die offenen Tuberkulösen, die "Bazillenspucker" sind. (...)
  3. Der Schutz der Gefährdeten. Seine Durchführung ist oft gegen das subjektive Empfinden des uneinsichtigen Kranken gerichtet, kennzeichnet aber das gesamte Verfahren als eine notwendige soziale Maßnahme.
  4. Das Aufsuchen der beginnenden Erkrankungsfälle, der Anfangsstadien, diese durch den richtigen Rat zu schützen und der Behandlung zuzuführen. So wichtig gerade diese Vorbeugungsmaßnahme ist, so schwierig ist ihre Ausführung. Nur wenige dieser Fälle suchen von selbst den Arzt. Darum fällt die Aufgabe unbedingt der öffentlichen Fürsorge zu. Da Nachlaufen und Anlocken seitens der Fürsorgestelle entwürdigend und nicht zweckdienlich ist, bleibt die Fürsorge neben der Aufklärung auf Mittelspersonen angewiesen.
  5. Die praktische Beratung aller Erkrankten und Gefährdeten; sie kann nur aufgrund des eingehend festgestellten Gesundheitszustandes und der genauen Kenntnis der wirtschaftlichen und familiären Verhältnisse des Erkrankten, seinen Beziehungen zu Kassen und Versicherungen erfolgen.
  6. Wirtschaftliche Unterstützung. Ohne diese ist gerade die Fürsorge für Lungenkranke nicht denkbar, andererseits muß sie unbedingt nur da angewandt werden, wo sie das alleinige Mittel zur Verhütung der Weiterverbreitung eines Krankheitsherdes ist. Dadurch kennzeichnet sie sich als soziale Maßnahme und wird im Sinne jedes Charakters als Armen-Unterstützung zweckmäßig entkleidet.
[...] b) Durchführung
  1. Die Belehrung soll durch gelegentliche kurze Hinweise in den Zeitungen geschehen. Wirksamer aber werden zur Mitarbeit auffordernde Vorträge in einem geladenen Kreise. [...] Bei dieser Aufklärungsarbeit haben die Fürsorgerinnen mitzuwirken.
  2. Das Aufsuchen der Herde. Die Anzeigen der Ärzte bei Erkrankungen und Todesfällen werden der Fürsorgestelle übermittelt. Wo der praktische Arzt aufgrund eines Einzelfalls den Eindruck hat, vor einem Tbc-Familienherd zu stehen, kann der den Fall der Fürsorgestelle zur Aufklärung der Verhältnisse überweisen.
  3. Einschränkung der Herde, Schutz der Gefährdeten.
    Genaue Untersuchungen des Erkrankten und nach Möglichkeit seiner ganzen Umgebung. Feststellung, ob sich Bazillen im Auswurf befinden, - regelmäßige Temperaturmessungen im Hause. Eingehende Belehrung des Bazillenspuckers über Behandlung des Auswurfs, der Wäsche usw., praktische Anleitung dazu im Hause durch die Fürsorgerin und Ueberwachung der Ausführung, Schutz der Arbeitskollegen durch vertrauliche Erkundigung im Betrieb, - gegebenenfalls Arbeitswechsel im gleichen Betrieb (handschriftlicher Kommentar: vorsichtig zu behandeln) Aus dem Nahrungsmittelbetrieb müssen alle offenen Tbc.-Fälle unbedingt entfernt werden. [...] Genaue Feststellung über Familien und Wohnungsverhältnisse durch die Fürsorgerin im Hause. Aufklärung der gefährdeten Familienmitglieder, Isolierung des ansteckenden Falles entweder im Hause selbst [...] oder durch Krankenhausüberführung, Einleitung von Kurverfahren, Herausnahme gefährdeter Kinder aus den Familien.
  4. Auffinden der Anfangsstadien. [...] Nur gegenseitiges Vertrauen zwischen Fürsorge und Aerzten kann zur Hereinbeziehung der leichteren Erkrankungen in die Fürsorge führen. [...]
  5. Beratung [...] im Sinne hygienischer Lebensführung, Rat in wirtschaftlichen Fragen [...] Sorge für die Einleitung ärztlicher Behandlung; Vorschläge an den Arzt zu Heilstättenkuren aufgrund der Kenntnis der persönlichen Verhältnisse der erkrankten Familie. Ermöglichung einer Kur, Heranziehung beteiligter Stellen [...] zu geldlicher Beteiligung bei teilweiser Zahlungsunfähigkeit des Kranken - gegebenenfalls Heranziehung der Armenpflege. [...] Heranziehung von Wohltätigkeitseinrichtungen.
  6. Eigene Massnahmen mit Hilfe des Unterstützungsfonds der Fürsorge sind immer nur mit dem Zielbewußtsein und nur da anzuwenden, wo anderweitige Versorgung nicht oder nur teilweise durchzusetzen ist. [...]
IV: Betrieb der Tuberkulose-Fürsorge
  1. Arzt. Vorläufig kann der Stadtarzt allein den Betrieb leiten bei einer wöchentlichen Sprechstunde - Bei dem voraussichtlichen Zulauf wird eine tageweise Einteilung in Bezirke notwendig sein. Im Sinnes des Zusammenarbeitens mit den praktischen Aerzten wird für jeden Bezirk ein Arzt in Frage kommen, der zugleich bereit ist, in diesem Bezirk die Schulfürsorge oder einen anderen Teil der Kinderfürsorge zu übernehmen.
  2. Personal. [...] Die Fürsorgerinnen haben die praktische Fürsorge-Arbeit, die Hilfe in der Sprechstunde, den persönlichen Verkehr mit anderen Stellen und den Schriftwechsel zu erledigen.
    Für letztere Aufgabe ... ist eine für die Tuberkulose-Fürsorge gut eingearbeitete Schwester notwendig, die aber ausserdem ihren praktischen Arbeitsbezirk in der allgemeinen Fürsorge versehen muss, andererseits in Fragen der Lungenfürsorge die übrigen Fürsorgerinnen anzuleiten und zu beraten hat.
    Vorläufig ist neben dieser nur eine zweite Kraft notwendig; im Hinblick auf die anzustrebende Bezirksfürsorge erscheint es wichtig, nebenberuflich eine Säuglingsfürsorgerin des Vaterländischen Frauenvereins heranzuziehen. [...]«

Auszug aus: Literatur Weyer–von Schoultz, Stadt, S. 316-318.

zurück   Wandel der Sozialfürsorge von der Armenfürsorge zur Wohlfahrtspflege
 
zum Seitenanfang
           © 2004 by Ulrich Pfister/Georg Fertig • mail: wisoge@uni-muenster.de