Schrift im Wandel - Wandel durch Schrift

Folgen der Verschriftlichung in der Gesellschaft des Mittelalters

Exposé


1. Der Ausgangspunkt: Medienwandel

Der aktuelle Umwälzungsprozeß im Bereich der Medien (man denke nur an das Internet und die damit verbundene Potenzierung von Kommunikationsmöglichkeiten) läßt zumindest Historiker an einen Medienwandel in früherer Zeit denken: Im Hoch- und Spätmittelalter war es die Schrift, die durch ihren ausgreifenden Gebrauch beinahe alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erfaßte und neuen Bedingungen unterwarf.

Von der derzeitigen Umwälzung der Medienlandschaft aus gesehen, erlaubt der Blick auf einen historischen Medienwandel einen Brückenschlag zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Er kann den heutigen Menschen für Veränderungen sensibel machen, die von neu entstehenden Kulturtechniken ausgehen.

Lange betrachtete man die Erfindung des Buchdrucks um 1450 als entscheidenden Auslöser für die revolutionären gesellschaftlichen Veränderungen an der Schwelle zur Neuzeit. Doch seit einiger Zeit hat die mediävistische Forschung gerade in Münster immer deutlicher hervorgehoben, daß ausgehend von einer "Explosion" des Schriftgebrauchs bereits im 12. Jahrhundert Prozesse in Gang gesetzt wurden, die die Lebenswelt des mittelalterlichen Menschen deutlich umformten. In dieser Phase der Umgestaltung wurden die Fundamente gelegt, die weit über das Mittelalter hinaus den Umgang mit dem Medium 'Schrift' prägten. Die Folgen dieser Umgestaltung standen im Mittelpunkt der Arbeiten des Sonderforschungsbereichs "Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit im Mittelalter" und des Graduiertenkollegs "Schriftlichkeit und Gesellschaft im Mittelalter" der Universität Münster. An die hier gewonnenen Erkenntnisse anknüpfend, wollen wir einzelne Projekte aus der Geschichtswissenschaft, der Deutschen, Englischen und Mittellateinischen Philologie sowie der Kunstgeschichte und Theologie auf einer Multimedia-CD-ROM mit dem Titel "Schrift im Wandel Wandel durch Schrift" präsentieren.

In den Möglichkeiten des Mediums sehen wir eine Chance, die vielfältigen Forschungsergebnisse auf innovative Weise miteinander in Beziehung zu setzen. Die multimediale Umsetzung erschließt wissenschaftliche Inhalte zudem einem neuen Adressatenkreis. Ihre Visualisierung verschafft einem breiteren Publikum Zugang zu einem Themenkomplex von allgemeinem Interesse.

2. Die Idee der CD-ROM ...

Die in Münster geleisteten Forschungen der letzten Jahre haben gezeigt, wie die Schriftlichkeit im lateinischen Abendland für die Gesellschaft wie für den einzelnen neue, lebensbestimmende Funktionen gewann. Während Schrift im frühen Mittelalter vorwiegend im religiösen und herrschaftlichen Bereich Verwendung fand, vermochte sie im Hoch- und Spätmittelalter weite Gebiete des alltäglichen Lebens zu durchdringen. Die CD-ROM soll diesen Umwälzungsprozeß sichtbar machen.

Für die Zeit des 12.-15. Jahrhunderts d.h. von der Aufbruchsphase der abendländischen Schriftlichkeit bis in die Frühzeit des Buchdrucks stellt die CD-ROM anhand von ausgesuchten Beispielen dar, welche Personenkreise an dieser Ausweitung teilhatten, welche Anwendungsgebiete davon erfaßt wurden und welche Formen von Schriftlichkeit dadurch entstanden. Der Illustration dienen dabei Beispiele aus fast allen Ländern Alteuropas, insbesondere Italien, Frankreich, England, den Niederlanden und Deutschland.

... und ihre Umsetzung:

In einer einleitenden Animation deuten Bildfolgen den Wandel der Schriftlichkeit im Mittelalter an. Darauf folgt eine Einführung in Thema und Konzept der CD-ROM. Der Hauptteil stellt verschiedene Erscheinungsformen des Schriftgebrauchs vor, von denen hier drei exemplarisch erläutert seien:

a)
Bei den mittelalterlichen Enzyklopädien läßt sich ein Wandel von einem religiös motivierten Ordnungsprinzip zu einem alphabetischen Aufbau deutlich erkennen. Immer stärker rückte angesichts stetig wachsender Informationsmengen der Wunsch in den Vordergrund, einzelne Informationen schnell aufzufinden.
b)
Ein weiteres Beispiel bietet der Übergang von bischöflicher zu städtischer Geschichtsschreibung im spätmittelalterlichen Norddeutschland. Neue städtische Gruppen entdeckten die Geschichtsschreibung für sich, griffen dabei aber auf das zurück, was ihnen aus der Verschriftlichung im Umfeld der Bischöfe bekannt war. Alternative Fortsetzungen und Bearbeitungen von Bistumschroniken zeugen von der Kreativität der städtischen Geschichtsschreiber. In diesem Bereich führte die Ausweitung der Schriftlichkeit also auch zu neuen Ausdeutungen überlieferter Inhalte.
c)
In einem Beitrag über Einblattdrucke im 15. Jahrhundert wird untersucht, in welchen Bereichen und in welchem Umfang sich Innovations- und Auswahlprozesse, die mit dem Wechsel von der Handschrift zum Buchdruck einhergingen, auch für Schrifttum geringeren Umfangs (z.B. Ablaßbriefe, Almanache, Gebetszettel, Andachtsblätter, amtliche Schreiben) nachweisen lassen. Die Vielfalt der auf den Einblattdrucken überlieferten Text- und Bildquellen gewährt Einblicke in zahlreiche Facetten des damaligen Lebens, wie etwa Politik, Recht, Frömmigkeit, Didaxe, Welterfahrung, Unterhaltung etc.

Beiträge über Rechnungsbücher, Urkunden, Bibelübersetzungen, Weltchronistik und Buchmalerei runden das Spektrum der CD-ROM ab.

Die Ausweitung der Schriftlichkeit und ihre jeweiligen Folgen werden dem Benutzer wie folgt präsentiert: Die Fallbeispiele werden in übergeordnete Themenbereiche zusammengefaßt, denen ein bestimmter Häusertyp auf dem Bildschirm entspricht. Kirche, Bibliothek, Rathaus etc. stellen sich dem Benutzer als Orte der Verschriftlichung vor. Betritt er eines dieser Häuser, erwartet ihn der Zugang zur nächsten Ebene, der aufgeteilt in die beiden Pole 'Mensch' und 'Medium' durch eine ähnliche graphische Gestaltung im gesamten Hauptteil wiederzuerkennen ist und dem Benutzer so ein freies Wechseln zwischen verschiedenen Ebenen ermöglicht. Nach der Auswahl der Ebene 'Mensch' oder 'Medium' kann man den Oberbegriffen 'Produktion', 'Rezeption', 'Form' und 'Technik' zugeordnete Einzelthemen auswählen, die über Adressaten, Überlieferungsformen, Anwendungsbereiche, Gebrauchssituationen und Problemfelder informieren.

Allen Beispielen gemeinsam ist die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen Mensch und Medium. Denn neben der zu erwartenden Einflußnahme des Menschen auf Formen und Funktionen der Schrift stellte auch das Mediums selbst Bedingungen an die Nutzer. Die CD-ROM wird die unterschiedlichen Wechselbeziehungen zwischen beiden Polen, die sich entwickelnde Eigendynamik auf einprägsame Weise verdeutlichen, indem der Einstieg in jeden der einzelnen Themenbereiche das Spannungsverhältnis z.B. in einer animierten Trickfilmsequenz aufgreift.

Die multimedialen Präsentationen bieten jedoch nicht nur umfassende Informationen zu den verschiedenen Einzelthemen, sondern eine in diesem Ausmaß völlig neue Möglichkeit des direkten Vergleichs von Verschriftlichungsprozessen, wie sie sich in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft sowie in verschiedenen europäischen Ländern vollzogen haben. Der Benutzer hat die Wahl, sich entweder über alle Einzelthemen und Aspekte zu einem Fallbeispiel zu informieren oder aber beispielsweise das Schlagwort "Adressat" nacheinander in allen Beispielen zu betrachten.

3. Fazit

Die CD-ROM "Schrift im Wandel Wandel durch Schrift" bedient in einzigartiger Weise die Interessen unterschiedlicher Benutzerkreise: Einem informierten Fachpublikum eröffnet sie neue Einblicke, indem sie die Einzelergebnisse der Arbeiten des Sonderforschungsbereiches wie des Graduiertenkollegs in neue Relationen zueinander stellt. Die von uns gewählte Form der multimedialen Darstellung trägt entscheidend dazu bei, unterschiedliche Zugänge zur Erforschung des mittelalterlichen Verschriftlichungsprozesses miteinander zu verknüpfen. Als Produkt interdisziplinärer Zusammenarbeit wird das Vorhaben auf Interesse in allen beteiligten Fächern stoßen.

Darüber hinaus bietet die CD-ROM auch einem breiteren Publikum einen Zugang zu einem Gebiet von aktueller Relevanz dem Medienwandel im Mittelalter, das heißt der Ausweitung des Schriftgebrauchs mit all seinen gesellschaftlichen Konsequenzen. Dieser so prägende und bedeutsame Vorgang wurde bisher nur in Fachkreisen diskutiert. Durch den gezielten Einsatz von Audio- und Videosequenzen, Graphik und Text erschließen sich die komplexen Sachverhalte nun auch einer größeren Öffentlichkeit.

Der von uns gewählte Weg der Vermittlung ist genau auf die multimedialen Möglichkeiten der CD-ROM zugeschnitten. So entsteht ein Bild des Wandels in der Schrift und der Schrift im Wandel im mittelalterlichen Europa, das in rein text- und buchgebundener Form nicht adäquat darstellbar wäre. Die CD-ROM beschreitet also nicht nur neue Wege in der Präsentation mediävistischer Forschung; sie eröffnet mit ihrer audiovisuellen Aufbereitung auch dem Laien einen Zugang zu einem bislang der Wissenschaft vorbehaltenen Themenkomplex.