JÖRG W. BUSCH, Spiegelungen des Verschriftlichungsprozesses in der lombardischen Historiographie des 11. bis 13. Jahrhunderts, in: Kommunales Schriftgut in Oberitalien. Formen, Funktionen, Überlieferung, hg. v. Hagen Keller und Thomas Behrmann (Münstersche Mittelalter-Schriften Bd. 68) München 1995, S. 305-321.




Schrift und Buch nicht nur für Gottesdienst und Schriftdeutung, sondern auch für Gericht, Verwaltung und Wirtschaft zu nutzen, war ein Vorgang mit revolutionären Auswirkungen. Von dieser Entwicklung nahm die zeitgenössische Geschichtsschreibung jedoch nur sehr beiläufig Notiz. Denn die Veränderungen vollzogen sich allmählich und im Alltag, nicht aber durch herausragende und denkwürdige Ereignisse, für die sich die Geschichtsschreiber interessierten. Wie Beispiele aus Lodi, Mailand, Padua, Piacenza und Reggio Emilia zeigen, waren die Autoren als Gesandte, Notare und Richter ihrer Kommunen tätig, wußten also sehr wohl um die Bedeutung und den Gebrauch von Schrift und Buch im administrativen und politischen Alltag. Doch ihr tägliches Handwerk wollten sie nicht zum Gegenstand ihrer Darstellungen machen. Geschriebene Statuten, Urteile und Verträge beachteten sie vor allem wegen ihrer Bedeutung für den Gang der Ereignisse. Für Autoren wie Leser war die Schriftform hingegen so selbstverständlich, daß sie nur bei außergewöhnlichen Ereignissen eigens vermerkt werden mußte: Wenn beispielsweise ein arbeitsloser Kleriker als Briefschreiber bei den Konsuln tätig war, wenn das Hauptbuch der kaiserlichen Besteuerung als Symbol der Unterdrückung durch den Herrscher dienen sollte, wenn ein Notar in Begleitung eines Amtsträgers getötet wurde oder wenn man versuchte, einem brandschatzenden Gegner mittels einer Urkunde Einhalt zu gebieten. Solche spärlichen Nachrichten ergeben jedoch kein vollständiges Bild von den schriftlichen Verfahren in der Kommune. Somit können nicht die lombardischen Geschichtswerke, sondern müssen die Überreste selbst als Quellen zur Untersuchung von Vorgängen dienen, die wie gerade die Verschriftlichung eine Veränderung des mittelalterlichen Alltags bewirkten. Indem aber die Geschichtsschreiber gelegentlich auf das neuartige kommunale Schriftgut zurückgriffen und indem man die Geschichtsbücher selbst zu Beweiszwecken in Gericht und Politik heranzog, spiegeln diese Werke doch die mentale Bereitschaft der Zeit, Schrift und Buch in der Lebenspraxis einzusetzen. So bezeugt Historiographie dann indirekt Veränderungen, die ihre Autoren nicht unmittelbar darstellten.