Abstract


Im 14. Jahrhundert wurden in Italien Buchhaltungsmethoden entwickelt, die auch heute noch die Basis des modernen Rechnungswesens bilden. Ist dies schon Grund genug, sich als Mediävist mit dem Thema zu befassen, hat darüber hinaus die Einschätzung des Soziologen Werner Sombart, die Methode der doppelten Buchführung und die kapitalistische Wirtschaftsform seien als untrennbar miteinander verbunden zu betrachten, zu einer intensiven Beschäftigung der Forschung mit den aus dem Spätmittelalter überlieferten Rechnungsbüchern geführt. Neben vielen anderen war es vor allem Federigo Melis, der die doppelte Buchführung - und damit, Sombarts These folgend, die ersten 'kapitalistischen' Unternehmungen - bereits in den letzten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts in der Toskana finden zu können glaubte. Dagegen hat Basil Selig Yamey zeigen können, daß es auch für die großen italienischen Handelsgesellschaften des 14. und 15. Jahrhunderts von nachrangiger Bedeutung war, welcher Methode sie sich beim Führen ihrer Rechnungsbücher bedienten. So wie die doppelte Buchführung im Spätmittelalter angewandt wurde, scheint sie der einfachen Form der Buchhaltung hinsichtlich der Bereitstellung von Informationen für betriebswirtschaftliche Entscheidungen kaum überlegen gewesen zu sein. Es bleibt festzuhalten, daß zwar im spätmittelalterlichen Italien einerseits äußerst komplexe, auch heute noch grundlegende Buchführungstechniken entwickelt wurden, andererseits aber als Antrieb für die Entwicklung dieser Techniken nur sehr bedingt auf 'moderne' Funktionen für das Führen von Rechnungsbüchern - z.B. schnell und zuverlässig über Gewinne und Verluste zu informieren - verwiesen werden kann. Wie und warum kam es dann aber zu elaborierten Formen des Rechnungswesens?

Angesichts dieser Forschungslage läßt die vorliegende Arbeit bewußt komplexere Vorannahmen über die vermeintlichen oder tatsächlichen Antriebe für die Weiterentwicklung von Buchführungstechniken zunächst einmal beiseite. In einem ersten Zugriff werden hier die Rechnungsbücher lediglich als Datenspeicher für geschäftliche Transaktionen betrachtet, ohne daß weitere Annahmen über einen möglicherweise intendierten Verwendungszweck dieser Daten getroffen werden. Nähert man sich auf diesem Weg der Problemstellung, muß folgerichtig die Form der Informationsspeicherung und -bearbeitung, d.h. die Art und Weise, wie die Geschäftsinformationen schriftlich fixiert und manipuliert wurden, in das Zentrum der Analyse rücken. Die sich aus dem Stand der Forschung und dem gewählten Zugang ableitende Schwerpunktsetzung verlangt 1., die Verschriftlichung von geschäftlichen Transaktionen in einem breiteren kulturellen Zusammenhang zu betrachten; 2. legt die Fokussierung des Aspektes 'schriftliche Informationsverarbeitung' nahe, diesen Vorgang zunächst einmal synchron auf der Basis möglichst aller Bücher einer Handelsgesellschaft detailliert zu untersuchen.

Zu 1: Um die Struktur der Rechnungsbücher zu verstehen, ist es notwendig, den kulturellen Kontext auszuleuchten, in dem sich das Schreiben dieser Texte vollzog. So kann zwar generell davon ausgegangen werden, daß die im Fernhandel engagierten italienischen Kaufleute und ihre Angestellten bereits im 14. Jahrhundert aufgrund ihrer schulischen Ausbildung fast alle lesen, schreiben und schriftlich rechnen konnten. Der Umgang mit den Rechnungsbüchern selbst war jedoch noch nicht Gegenstand der Schulcurricula, sondern wurde in den botteghe der einzelnen compagnie vermittelt. Dieser gegenüber dem späten 15. Jahrhundert vergleichsweise geringe Grad an institutioneller Verfestigung dessen, was unter dem Führen von Rechnungsbüchern zu verstehen ist, ließ damit den notwendigen Spielraum für jenen evolutionären Prozeß, in dem die Kaufleute an konkreten Problemen neue Lösungsvorschläge erarbeiteten und weniger geeignete Verfahrensweisen verwerfen konnten.

Wenn sich so einerseits ein Freiraum ausmachen läßt, der diese durch 'trial and error' bestimmte Phase in der Entwicklung der Buchhaltung begünstigte, so muß andererseits festgestellt werden, daß die Form, in der die Kaufleute ihre Geschäfte schriftlich niederlegten, stark durch die Art und Weise geprägt war, in der man im Spätmittelalter im allgemeinen und in den italienischen Stadtkommunen im besonderen mit Schrift umging. Sowohl bei einem historisch sehr frühen Gebrauch der Schrift - etwa im Reich der Babylonier - wie auch bei ihrer modernen Verwendung kommt dort, wo dies günstig erscheint, üblicherweise die Tabellenform zur Anwendung. Im Hoch- und Spätmittelalter scheinen dagegen Tabellen, deren Sinn tatsächlich erst durch ein räumliches In-Beziehung-Setzen der Zahlen oder Begriffe auf der beschriebenen Seite entschlüsselt wird, nur für wenige Bereiche - etwa in der Kalenderberechnung - durchgängig zur Anwendung gelangt zu sein. Auch die Buchungen der Kaufleute entpuppen sich bei näherem Hinsehen als vollständige, geschickt über drei Spalten umgebrochene Sätze, und die Konten können als Texte gelten, deren Sätze / Buchungen in der Tat durch Konjunktionen miteinander verbunden sind. Damit ist nicht gesagt, daß die Kaufleute nicht in der Lage gewesen wären, Tabellen zu erstellen; diese lassen sich im Schriftgut der Händler durchaus finden. Gemeint ist vielmehr, daß das Notieren von Geschäftsvorgängen in den Rechnungsbüchern stark von der im Mittelalter allgemein üblichen Art und Weise, Informationen schriftlich zu fixieren, bestimmt war.

Zu 2: Die Buchhaltung der italienischen Handelsgesellschaften bestand schon seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts aus einer mehr oder weniger großen Anzahl zeitgleich geführter Geschäftsbücher, die miteinander verzahnt waren. Betrachtet man die Buchhaltung als ein System, in dem Daten über geschäftliche Transaktionen schriftlich fixiert sind, so ist für die Analyse zunächst einmal jedes der angelegten Bücher prinzipiell von gleicher Wichtigkeit. Ja, man könnte fast umgekehrt postulieren, daß nicht das Hauptbuch, sondern gerade die Kladden, d.h. die Ricordanze, und die auf diesen Büchern aufbauenden Memoriali bei der gewählten Herangehensweise von besonderem Interesse sind. Zugleich gilt es, die Beziehungen der Bücher untereinander, d.h. wie und warum Einträge von einem Rechnungsbuch in ein anderes übertragen wurden, zu untersuchen. Neben der Frage, welche Motive die Kaufleute dazu bewogen haben mögen, das einzelne Rechnungsbuch anzulegen, geht es - ohne daß sich dies gegenseitig ausschlösse - zentral darum, die Funktion eines bestimmten Buches jeweils in Relation zu den übrigen Geschäftsbüchern zu erfassen. Nur so kann die italienische Buchhaltung des Spätmittelalters als Form schriftgestützter Informationsverarbeitung begriffen und analysiert werden. Statt - wie in den meisten Arbeiten zur Buchführung - auf der Basis von aus dem 13. und 14. Jahrhundert überlieferten Fragmenten oder einzeln überlieferten Rechnungsbüchern, die Teil eines komplexen Buchführungssystems waren, diachron die Entwicklung der Buchführung zu erfassen, ist nach dem bisher Erläuterten in dieser Untersuchung ein anderer Weg zu beschreiten. Statt aus dem Kontext gerissene Bücher verschiedener Handelsgesellschaften diachron zu betrachten, gilt es, in einer synchronen Analyse möglichst aller Geschäftsschriften, die eine compagnia während eines relativ kurzen Zeitraums benutzte, die Funktionsweise der Buchhaltung zu erfassen.

Als erste Unternehmung des Mittelalters, von der (fast) alle Rechnungsbücher - von der Kladde bis zum Geheimbuch - überliefert sind, darf eine von Francesco Datini zusammen mit Toro di Berto 1367 in Avignon gegründete und 1373 aufgelöste Handelsgesellschaft gelten. Die insgesamt 35 noch nicht in der doppelten Buchführung gehaltenen Rechnungsbücher der compagnia lassen sich in acht verschiedene Typen einteilen. Nach einer komprimierten Betrachtung der äußeren Gestalt der Bücher und der ihnen vorangestellten Kommentierungen galt es, je einen Vertreter der verschiedenen Rechnungsbuchtypen detailliert zu untersuchen. Wo sich innerhalb einer Gruppe von Rechnungsbüchern stärkere Abweichungen vom 'üblichen' Aufbau eines Typus ergaben - wie etwa bei den Memoriali -, wurde dies berücksichtigt. Insgesamt wurden in der Arbeit zehn der 35 Bücher einer detaillierten Analyse unterzogen. Ziel war es, aus dem Aufbau der Kontenart oder Kontenarten, die in einem Rechnungsbuch zu finden waren, sowie aus seinem Aufbau insgesamt, vor allem aber aus dem Verhältnis des einzelnen Rechnungsbuches zu den übrigen Büchern der compagnia die spezifische Funktion jedes der Bücher zu ermitteln. So ging es beispielsweise bei der Anlage des Libro di entrata e uscita, des 'Buches der (Bar-)Einnahmen und Ausgaben', nicht primär um die Ablesbarkeit des Kassenstandes, sondern vornehmlich um die Kontrolle der Mitarbeiter, die mit dem Bargeld umgingen.

Lassen sich den Rechnungsbuchtypen oder Gruppen von Rechnungsbüchern bestimmte Funktionen zuweisen, so kann man aus der jeweils unterschiedlichen Kontinuität und Effizienz, mit der die Bücher geführt wurden, Hinweise auf die unterschiedliche Bedeutung gewinnen, die die Kaufleute den verschiedenen Funktionen zuwiesen. Die große Masse der insgesamt 100.000 Einträge, die in den Büchern vermerkt wurden, ist den Gläubiger- und vor allem Schuldnerkonten zuzurechnen. Die Vielzahl an zumeist aus Warenverkäufen auf Kredit (Zielkäufen) resultierenden Zahlungsverpflichtungen der Kunden gegenüber der compagnia mußten notiert werden, damit nicht aus dem Vergessen einer Schuld Einnahmeverluste resultierten. Die Notizen über die Zielkäufe wurden zunächst in der Reihenfolge ihres Geschehens, d.h. chronologisch, in den Kladden vermerkt. Während der wenigen Jahre des Bestehens der Handelsgesellschaft füllten die Kaufleute fünf solcher Kladden mit einem Umfang von jeweils etwa 600 Seiten. Ein Vorstrukturieren der Bücher war aber aufgrund der Tatsache, daß der Kaufmann nicht vorhersehen konnte, wann welcher Kunde als nächstes sein Geschäft betreten und eine Ware auf Kredit erstehen würde, nicht möglich. Anders als etwa in der elektronischen Datenverarbeitung heute können jedoch die in chronologischer Reihenfolge geschriebenen Notizen in einem Rechnungsbuch nicht ohne weiteres reorganisiert werden. Ohne eine Reorganisation war aber ein 'Datenverlust' - und das bedeutet in diesem Kontext Gewinneinbuße - sehr wahrscheinlich, weil a) die disparat zwischen bereits getilgten Schuldvermerken noch zu findenden offenen Konten bei der großen Menge leicht übersehen werden konnten, und b) ein Zusammenfassen der zu einem Klienten gehörenden Einträge in einem ersten Zugriff kaum möglich war.

Die Kaufleute lösten dieses ihnen weitgehend durch die Starrheit des Mediums aufgezwungene Problem dadurch, daß sie ihre Kladde in regelmäßigen Intervallen erneut durchsahen, die noch offenen Forderungen und Verbindlichkeiten - und nur diese - in ein zweites Buch, Memoriale genannt, abschrieben und dabei die eine Person betreffenden Notizen zusammenstellten. Erst durch die Übertragung der noch relevanten Informationen in den Memoriale gelang es, die Daten schon weitgehend so anzuordnen, daß ein Verlust von Informationen nicht mehr zu befürchten war. Dennoch reichte ein einmaliges Abschreiben der Buchungen nicht aus: In größeren Intervallen mußten auch die Konten des Memoriale durchgesehen und erneut in komprimierter Form auf eine dritte Ebene, in das Hauptbuch, übertragen werden. Es ist zu betonen, daß es bei der Anlage des Memoriale und des Hauptbuchs nicht darum ging, eine Datenbasis für die Ermittlung des Geschäftserfolges der Unternehmung zu erstellen. Nachweisen läßt sich, daß auch die Bücher der zweiten und dritten Ebene - gleich der Kladde - primär die Funktion hatten, als Gedächtnisstütze für noch ausstehende Forderungen und Verbindlichkeiten zu dienen. Aber damit die Buchhaltung diese Funktion erfüllen konnte, reichte es angesichts der Struktur der festzuhaltenden Daten und der relativen Starrheit des benutzten Mediums nicht aus, sich lediglich einmal eine Notiz über einen Vorgang zu machen.

Um aber auf der Basis der synchronen Analyse der Geschäftsschriften der Datini/di Berto-Handelsgesellschaft Aussagen über die diachrone Entwicklung der Buchführung machen zu können, waren in einem zweiten Schritt die gewonnenen Einsichten mit den bis 1360 erhalten gebliebenen Rechnungsbüchern zu konfrontieren. Es zeigte sich, daß auch in diachroner Perspektive die memorative Funktion die zentrale Aufgabe der frühen Buchhaltung darstellte und daß so schon für das 13. Jahrhundert von dem Zwang zur Bearbeitung der Notizen ausgegangen werden muß.

Es ist die zentrale These der Arbeit, daß sich zahlreiche grundlegende Methoden der Buchführung bei unveränderter Motivlage in einem eigendynamischen Prozeß herausbildeten; der 'Buchhalter' selbst trug hierzu kaum durch eigene, weitreichende Konzepte bei. Statt dessen war er gezwungen, in starkem Maße auf Bedingungen zu reagieren, wie sie sich aus der Spezifik der festzuhaltenden Daten und den Anforderungen des Mediums selbst ergaben. Vollständig kann mit diesem Modell zwar die 'Erfindung' der doppelten Buchführung nicht hergeleitet werden; aber die Lücke von einer sich durch eigendynamische Prozesse weiterentwickelnden Buchführung hin zum geschlossenen System der Doppik erweist sich nun als relativ klein und leicht zu überbrücken.

Im Zuge dieses weitgehend eigendynamisch ablaufenden Prozesses kam es jedoch nicht nur zur Entwicklung elaborierter Methoden der Buchführung. Da der Gegenstand der Bearbeitungen - wie oben bereits erwähnt - nicht in Tabellenform präsentierte Daten, sondern vollständige syntaktische Einheiten waren, kann das Abschreiben und Umgruppieren dieser Sätze auch als eine rudimentäre, aber dafür permanent zu leistende Form der Textinterpretation begriffen werden. Im letzten Kapitel wird daher der Frage nachgegangen, welche Auswirkungen diese (fast erzwungene) 'Textverarbeitung' auf die Denkweise der Kaufleute hatte. Im Vergleich zwischen der strukturellen Anordnung der Informationen, wie sie auf den Ebenen 2 und 3 des Buchführungssystems zu finden ist, und der Art und Weise, wie die italienischen Händler Geschehnisse in der literarischen Gattung der 'Libri di famiglia' schildern, ließen sich auffällige, zum Teil schon von der Forschung ausgemachte Parallelen finden. Da sich aber die 'Texte' des Memoriale und des Hauptbuches in ihrer vorliegenden Form einem Prozeß verdanken, der vom Kaufmann eher teilnehmend mitvollzogen denn initiiert wurde, scheint es nicht mehr statthaft, beide Textgattungen gleichermaßen als Zeugen der mentalen Disposition der Kaufleute zu interpretieren. Vielmehr formten sich einige Elemente der kaufmännischen Mentalität im nachvollziehenden Umgang mit den Rechnungsbüchern aus und hinterließen dann ihre Spuren in den 'Libri di famiglia'.

Die Entwicklung grundlegender Methoden der Buchführung läßt sich, so das Fazit der Arbeit, nicht als Ergebnis einer Suche nach der besten Lösung für die Berechnung von Unternehmensgewinnen begreifen, sondern als Folge des Zwangs, sich mit den Bedingungen auseinander setzten zu müssen, die das Speichermedium 'Schrift' an den Kaufmann herantrug. Im Zuge dieser Auseinandersetzung scheint sich der Umgang mit den Rechnungsbüchern teilweise stärker auf das Denken der Händler ausgewirkt zu haben, als daß sich umgekehrt weitreichende konzeptionelle Vorstellungen der Kaufleute in der Struktur der Bücher niedergeschlagen hätten. Schrift tritt hier nicht als ein Werkzeug, das vom homo faber nach seinen Vorstellungen benutzt wird, in Erscheinung, sondern als ein zwar vom Menschen geschaffenes Kulturgut, das jedoch im konkreten Verwendungszusammenhang selbst normgebend und verfahrensbestimmend das Handeln des Benutzers anleitet. Daß ein Medium durch Menschen hervorgebracht wurde, sagt für eine bestimmte Situation noch nichts über den Grad seiner Verfügbarkeit aus. Die mittelalterliche Buchhaltung entwickelte sich gerade deshalb weiter, weil die Kaufleute nicht umhin kamen, sich auf die Bedingungen des Mediums einzulassen, und so an einer Dynamik mitwirkten, die letztlich zu elaborierteren Buchführungsmethoden führte.

Vermutet werden kann, daß es auch im konkreten Umgang mit modernen Medien zu eigendynamischen Prozessen kommt, bei denen die Regeln durch das Medium und nicht durch seinen Nutzer gesetzt werden. Ob auch diese Eigendynamik zu solch weitreichenden Ergebnissen führen wird, wie in dem (Spezial)Fall der mittelalterlichen Buchhaltung beobachtet, bleibt abzuwarten.