Subjektivität/Wahrnehmung/(Psycho-)Pathologie

Teresa Kölling, Frederike Labahn, Melanie Mohnes, Marisa Uphoff

 

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Wahrnehmung, Subjektivität und (Psycho-)Pathologie erweisen sich als zentrale Elemente der Mind-Bender-Filme (Mind-Bender: Forschung, Positionen, Begriffe). Subjektivität und Wahrnehmung stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang. Bei der Wahrnehmung werden bestimmte Informationen aus der Umwelt aufgenommen und selektiert verarbeitet. Jeder Mensch nimmt also nur einen selektiven und subjektiv interpretierten Ausschnitt der Wirklichkeit wahr, wodurch in der außerfiktionalen Welt eine zuverlässige Wahrnehmung unmöglich zu sein scheint (vgl. Poppe 2009: 80). Dieser Wahrnehmungsprozess kann ebenso auf die fiktionale Welt über-tragen werden. Es wird nicht die gesamte fiktionale Welt in Filmen dargestellt, sondern es werden immer nur Teile dieser Welt gezeigt und somit wird Wahrnehmung explizit gesteuert (vgl. Poppe 2009: 81) (Filmische Wirklichkeit, Diegese). Der Begriff Psychopathologie ist altgriechischen Ursprungs. Er lässt sich als Lehre von den seelischen Leiden definieren und bezieht sich im Filmkontext auf die psychisch gestörte Identität von Figuren (vgl. Liu 2014: 15). Im Mind-Bender-Film wird die Verschränkung und Funktionalisierung dieser Phänomene fokussiert. Verschiedene Arten von Auseinandersetzungen mit psychopathologischen Figuren treten bereits seit der Antike auf. Innere und äußere Wahrnehmung von Wahnsinn oder psychischen Erkrankungen sind häufig verwendete Motive der Literatur; dabei spielt vor allem die gestörte Identität von Figuren eine wichtige Rolle (vgl. Liu 2014: 14). Seit Beginn des Kinos als Massenmedium sind psychische Erkrankungen und ihre filmische Darstellung auch für FilmemacherInnen von großem Interesse. Als populäre Beispiele dienen unter anderem Das Cabinet des Dr. Caligari (D 1920), Vertigo (USA 1958), Fight Club (USA 1999) und Shutter Island (USA 2010). In diesen Filmen werden die ZuschauerInnen mit psychisch bedingten Identitätskrisen der Figuren konfrontiert.

Eine psychische Störung der Figur kann wie bspw. in Memento (USA 2000) und Black Swan (USA 2010) vorliegen, wenn die Identität einer anderen realen oder fiktiven Figur auf sich selbst projiziert wird (vgl. Brössel 2015: 193). Als Beispiele für weitere Formen sind Besessenheit, Verdrängung und auch Wahnsinn zu nennen. In diesen Fällen verschwimmen die Grenzen zwischen Einbildung und Erzählung, wodurch die subjektive „Wahrnehmungsproblematik [der] Unzuverlässigkeit des filmischen Erzählens“ (Kaul 2009: 11) entspricht (Unzuverlässigkeit, unzuverlässiges Erzählen). Die Wirklichkeit der Figuren wird als neutrale Realität dargestellt. Dadurch besteht die Täuschung also zumeist aus einer Illusion der Hauptfigur (vgl. Brütsch 2011: 2). Filmisch funktioniert diese Täuschung über die Fokalisierungstechnik. Durch interne Fokalisierung mitunter verbunden durch interne Okularisierung und Aurikularisierung, haben die ZuschauerInnen ausschließlich Teil am Wissen und der Wahrnehmung der pathologischen Figur (vgl. Kuhn 2013: 140). Die interne Fokalisierung ist in den genannten Beispielfilmen nicht als solche markiert und führt die ZuschauerInnen dadurch auf falsche Fährten. Erst am Ende wird das Problem des durch die kaschierte Fokalisierung entstehenden unzuverlässigen Erzählens durch einen Plot-Twist gelöst, was einen ‚Aha-Effekt‘ bei den ZuschauerInnen auslöst und eine neue Deutungsoption eröffnet (z.B. Shutter Island).

Solche Filme sind des Weiteren dadurch gekennzeichnet, dass die „subjektive Fokalisierung die fiktionale Welt in nicht zutreffender, verzerrter oder eingeschränkter Weise wiedergibt“ (Poppe 2009: 72). Die Figuren sind häufig psychisch krank und leiden an einer Persönlichkeitsstörung, „die vor allem ihre Selbst- und damit auch ihre Fremdwahrnehmung verzerrt“ (Poppe 2009: 74). Unzuverlässiges Erzählen kann demnach Resultat und gleichzeitig Ausdrucksform der Pathologie der Figuren (siehe z.B. Fight Club oder Memento) sein. Darüber hinaus soll das unzuverlässige Erzählen im Film laut Poppe nicht nur die Psychopathologie bestimmter Figuren darstellen, sondern gleichzeitig darauf hinweisen, dass Wirklichkeit und Realität stets subjektiv bestimmt sind. Sie sieht Figuren als „Sinnbilder menschlichen Daseins in einer als komplex und wenig durchschaubar empfundenen Welt“ (Poppe 2009: 81). Zuverlässigkeit ist nur eine Illusion, vor allem auch in der Alltagswelt. Auf diese Weise lässt sich der Zusammenhang von Subjektivität, Identität und Realität im Mind-Bender-Kontext nachvollziehen.

Das Spiel mit „konventionalisierte[n] Zuschauererwartungen“ (Geimer 2006) und das Irritationspotenzial der genannten Filme stellen eine Herausforderung für die Rezeption dar (vgl. Geimer 2006) (‚Verstörendes‘ Erzählen). Dies belegen verschiedene Zugänge der psychoanalytischen Filmanalyse: „If the characters on screen are deluded as to their identities, the mindfuck movies provide us with an opportunity to work out our own similar fears about self-delusion.“ (Eig 2003: 9). Der Film Black Swan hinterlässt auch nach dem Plot Twist (Plot-Twist, Final Twist) einen großen Interpretationsspielraum: Wie die Protagonistin selbst können sich die ZuschauerInnen am Ende nicht sicher sein, was wirklich passiert ist (vgl. Blothner 2012: 128ff). Ebenso gibt Shutter Island keine definitive Auflösung des Rätsels (Narrative ‚Verrätselung‘). Im Gegensatz dazu steht Fight Club, in dessen Twist klar wird, dass Tyler keine reale Figur ist, obwohl auch hier das Ende zu einem gewissen Grad offen bleibt, da man nicht sicher sein kann, ob der Erzähler letztendlich stirbt oder überlebt und seine Identitätskrise wirklich überstanden hat. Insgesamt lässt sich festhalten, dass in allen Filmbeispielen die Identitätskrise die Verbindung zwischen Kollektiv und Individuum widerspiegelt und darüber hinaus eine Selbstreflexion für die ZuschauerInnen ermöglicht.

 

Filme

BLACK SWAN (USA 2010, Darren Aronofsky).
Das Cabinet des Dr. Caligari (D 1920, Robert Wiene).
Fight Club (USA 1999, David Fincher).
Memento (USA 2000, Christopher Nolan).
Shutter Island (USA 2010, Martin Scorsese).
Vertigo (Aus dem Reich der Toten, USA 1958, Alfred Hitchcock).

 

Forschungsliteratur

Blasberg, Sarah: Bin Ich ein Anderer? Die Krise der männlichen Identität in „Fight Club“ und „Shutter Island“. Hamburg 2014.
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Brössel, Stephan: „Zeit und Film. ,Zeitkreise‘ in Christopher Nolans Memento“. In: Weixler, Antonius/ Lukas Werner (Hgg.): Zeiten erzählen. Ansätze − Aspekte − Analysen. Berlin/Boston 2015, S. 179–204.
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