Ambivalenz und Kohärenz

Ronja Ganssauge, Yvonne Schäfer, Malte-Jakob Van de Water

 

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Kohärenz dient der Stabilisierung und der Eindeutigkeit des Erzählten (vgl. Kuhn 2009: 146).

Ambivalenz − synonym zu Ambiguität und Mehrdeutigkeit − wird durch widersprüchliche, ausbleibende oder nachträgliche Markierungen im Sinn von über das Textende hinausreichenden Täuschungen erzeugt (vgl. Kuhn 2009: 146; Narrative ‚Verrätselung‘). Durch verschiedene Verstrickungen kann somit Offenheit, Unbestimmtheit und Undurchsichtigkeit erzeugt werden (vgl. Brunner 2012). Ambiguität ist hierbei als stilistisches Mittel zur  ‚Verrätselung‘ von dem Konzept der Vagheit zu unterscheiden (vgl. Bauer 2013: 20). Sie ist konkret belegbar und nachvollziehbar (vgl. Brunner 2012).

Das Spiel mit mehrdeutigen Interpretationsmöglichkeiten tritt häufig in Filmen des Mind-Bender-Genres auf, da diese Art des Films eine mehrfache Rezeption erfordert und RezipientInnen anregen möchte, verschiedene Lesarten auszuprobieren, um die interpretationsoffenen Leerstellen mittels verschiedener Hypothesen zu füllen (vgl. Kuhn 2009: 141 f.).

Im Medium des Films kann das Stilmittel sowohl auf der Ebene der Histoire als auch im Discours eingesetzt werden (vgl. Kuhn 2009: 141). In Genres wie dem Thriller wird häufig mit einem offenen Ende oder einer uneindeutigen Figurencharakterisierung gearbeitet, womit sich die Mehrdeutigkeit auf der Ebene der Histoire befindet (vgl. Kuhn 2009: 141). Im Mind-Bender wird zusätzlich der Discours einbezogen, um Verrätselungen zu erzeugen, nämlich indem narrative Ebenen verschachtelt und Wirklichkeit und Einbildung überlagert werden (vgl. Kuhn 2009: 142) (Narrative ‚Verrätselung‘; Unzuverlässigkeit im Film; Plot Twist, Final Twist).

Drei Grundmuster der − meist impliziten − Aufforderung, genau aufzupassen, lassen sich ausmachen: „Erstens die Filme, die mit einem uneingeschränkt offenen Ende schließen, weil sich auch nach eingehender Analyse keine kohärente Interpretation konstruieren lässt, die alle Elemente logisch und widerspruchsfrei zueinander in Beziehung setzt“ (Kuhn 2009: 155) – siehe Lost Highway (USA 1997), Mullholand Dr. (USA/F 2001) und Inland Empire (USA/PL/F 2006) von David Lynch.

Zweitens die Filme, die in Form eines final twists gegen Ende eine eindeutige Lesart bieten, die der im Verlauf des Films suggerierten Lesart entgegensteht; hier bleibt nicht die Frage offen, wie das Ende zu verstehen ist, sondern, warum der Rezipient auf die erste, letztlich falsche Lesart ‚hereinfallen‘ konnte und ob er eine Chance gehabt hätte, die Wendung schon vor der Offenbarungssequenz zu durchschauen.
(Kuhn 2009: 155)

In diesem Zusammenhang zu nennen sind A Beautiful Mind von Ron Howard (USA 2001), The Sixth Sense von M. Night Shyamalan (USA 1999), The Usual Suspects von Bryan Singer (USA 1995) und Fight Club von David Fincher (USA 1999).

[D]rittens die Filme, die am Ende eine weitgehend eindeutige Auflösung der Ebenen- und Erzählstruktur liefern, die nicht im Widerspruch zum Verlauf des Films steht, die jedoch so verschachtelt und komplex erzählt sind, dass eine Zweitrezeption von Fragen angetrieben wird wie: Funktionieren die Ebenenübergänge auch, wenn man weiß, worauf sie hinauslaufen? Ist die Erzählstruktur konsequent durchgehalten oder gibt es logische Brüche?
(Kuhn 2009: 155f.)

Zu nennen sind hier Adaptation von Spike Jonze (USA 2002), La Mala Educación von Pedro Almodóvar (E 2003) und bedingt Memento von Christopher Nolan (USA 2000).

Anhand des Filmes Abre Los Ojos von Alejandro Amenábar (E/F/I 1997) sollen die Begriffe Ambivalenz und Kohärenz exemplarisch verdeutlicht werden. Der Film nimmt eine Position zwischen den drei Grundmustern ein,

weil das Ende einiges, aber nicht alles offen lässt, weil die Erzählstruktur komplex, aber nicht undurchschaubar ist, weil der final twist zwar nicht erwartbar ist, aber durch Hinweise vorbereitet wurde und weil der werkinternen Interpretationslösung einige, aber nicht alle Details widersprechen. (Kuhn 2009: 156)

Der Film ist sowohl in eine filminterne Realität als auch in einen filminternen virtuellen Traum aufgeteilt. Die erste Hälfte schildert das Leben des Spaniers César im Jahr 1995 bis zu seinem Selbstmord. Die zweite Hälfte ist ein virtueller Traum, der 150 Jahre später stattfindet, da er vor seinem Tod einen Vertrag bei der Firma ‚Life Extension‘ unterschrieb. Diese ist darauf spezialisiert, ihren Kunden ewiges Leben zu bescheren, indem sie eingefrorene Leichen wiederbelebt und eine virtuelle Welt inszeniert.

Wichtig ist die Inszenierung des Films zwischen realer und virtueller Welt. Im Fokus steht die Verrätselung, was der Protagonist César wirklich erlebt und was er träumt (Narrative ‚Verrätselung‘). Die erzählerische Unzuverlässigkeit ergibt sich hier durch eine Verschiebung der Fokalisierung. Derartige Wechsel werden üblicherweise durch deutliche Markierungen angezeigt. In Ingmar Bergmans Smultronstället wird der Beginn eines Traums durch Darstellung des Einschlafenden, Weichzeichnung, Überblendung usw. geradezu übermarkiert (vgl. Helbig 2005: 135). In Abre Los Ojos werden entsprechende Hinweise verschleiert. Erst mittels eines Final Twist werden Protagonist und RezipientInnen über den Umstand der Traumebene innerhalb der zweiten Hälfte des Filmes aufgeklärt. Im Anschluss bleibt aber die Frage offen, wie sich eine inszenierte Realität zu einem solchen Alptraum entwickeln konnte. Um diesem endlich zu entkommen, begeht César auch auf der Traumebene Selbstmord, indem er vom Dach der Firma ‚Life Extension‘ springt. Eine Schwarzblende markiert den finalen Aufprall. In der Dunkelheit, bevor der Abspann beginnt, ist eine Frauenstimme zu hören, die „Öffne die Augen!“  flüstert. Diese Phrase, welche eine vermeintliche Aufforderung aufzuwachen suggeriert, markiert im Verlauf des Films wiederholt den Übergang unterschiedlicher Realitätsebenen. Hier stellt sie den Realitätsgehalt der Erzählung ein letztes Mal in Frage und verleiht dem Film zugleich eine Art Ring- oder Schleifenstruktur.
Der Film weist ein offenes, aber ausgeglichenes Verhältnis von Kohärenz und Ambivalenz auf:

Einerseits werden, konventionellen Mechanismen der Zuschreibung folgend, eindeutige Erzählebenen etabliert und zueinander in Beziehung gesetzt, was kohärenzstiftend und stabilisierend wirkt, andererseits werden diese durch andere, teilweise widersprüchliche Markierungen ausgehebelt, was Raum für Mehrdeutigkeit eröffnet. Hinzu kommen Ambivalenzen durch ausbleibende Markierungen sowie Täuschungen durch nachträgliches (Um-)Markieren. (Kuhn 2009: 146)

 

Filme

A BEAUTIFUL MIND (A BEAUTIFUL MIND – GENIE UND WAHNSINN, USA 2001, Ron Howard).
ABRE LOS OJOS (VIRTUAL NIGHTMARE – OPEN YOUR EYES, E/F/I 1997, Alejandro Amenábar).
ADAPTATION. (ADAPTION. – DER ORCHIDEEN-DIEB, USA 2002, Spike Jonze).
FIGHT CLUB (D/USA 1999, David Fincher).
INLAND EMPIRE (F/PL/USA 2006, David Lynch).
LA MALA EDUCACIÓN (LA MALA EDUCACIÓN – SCHLECHTE ERZIEHUNG, E 2004 Pedro Almodóvar).
LOST HIGHWAY (F/USA 1997, David Lynch).
MEMENTO (USA 2000, Christopher Nolan).
MULHOLLAND DR. (MULHOLLAND DRIVE – STRAßE DER FINSTERNIS, F/USA 2001, David Lynch).
SMULTRONSTÄLLET (WILDE ERDBEEREN, S 1957, Ingmar Bergman).
THE SIXTH SENSE (SIXTH SENSE, USA 1999, M. Night Shyamalan).
THE USUAL SUSPECTS (DIE ÜBLICHEN VERDÄCHTIGEN, D/USA 1995, Bryan Singer).

 

Forschungsliteratur

Bauer, Matthias: „Ambiguität“. In: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. 4. Auflage. Stuttgart: 2013, S. 20.
Brunner, Philipp: „Ambiguität“. In: Lexikon der Filmbegriffe (2012). http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=2078 (10.12.2016).
Helbig, Jörg: „‚Follow the white Rabbit!‘ Signale erzählerischer Unzuverlässigkeit im zeitgenössischen Spielfilm“. In: Fabienne Liptay/ Yvonne Wolf (Hg.): Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Film und Literatur. München 2005, S. 131−146.
Kuhn, Markus: „Ambivalenz und Kohärenz im populären Spielfilm: Die offene Werkstruktur als Resultat divergierender Erklärungs- und Darstellungsmuster am Beispiel von Alejandro Amenábars ABRE LOS OJOS“. In: Julia Abel u.a. (Hgg.): Ambivalenz und Kohärenz. Untersuchungen zur narrativen Sinnbildung. Trier 2009, S. 141−158.