Narrative ,Verrätselung‘

Stephan Brössel

 

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Begriff

Narrative ‚Verrätselung‘ bezeichnet eine erzähllogische Strukturanlage, die einen inkonsistenten Bedeutungszusammenhang herstellt. Verrätselung für sich genommen beschreibt das Resultat einer Verschlüsselung, wie sie im Rätsel vorliegt; filmisch-narrative ‚Verrätselung‘ hebt auf die Isomorphie von Spielfilmen mit derartigen Strukturen in dezidiert erzählerischen Zusammenhängen ab. Im Kontext fiktionaler Filme basiert sie auf Strukturelementen der filmisch-textuellen Oberflächenstruktur (Discours) und Tiefenstruktur (Histoire) und verhindert die Rekonstruktion einer eindeutigen Bedeutung. Sie kann zutage treten in Form der Verwischung von Grenzen zwischen Realitätsebenen, der Nicht-Selektion/Auslassung wichtiger Informationen, in Form unmarkierter Perspektivierungen und pathologischer Figuren, in Form von Zeitschleifen, des Unterlaufens oder der Verschleierung kausallogischer Verknüpfungen von Geschehensmomenten, in Form achronologischer Permutationen, der Unklarheit über den Realitätsstatus dargestellter Welten im Modus der Phantastik oder in Form der Aufhebung eines konsistenten Raum-Zeit-Gefüges.

Narrative ‚Verrätselung‘ betrifft mithin komplexes Erzählen, das semiotisch eine rätselhafte Welt abbildet (vgl. Buckland 2009), wobei Ambiguität ihr mehr oder minder offen ausgestelltes, in jedem Fall aber eminentes Strukturmerkmal ist, welches wiederum nicht allein mikrostrukturell auftritt und aufgelöst wird, sondern makrostrukturell angelegt und unaufgelöst bleibt. Die Analyse hat daher Ambiguität als wesentliches Strukturmerkmal und Mechanismen ihrer Erzeugung oder Indizien, die auf jene hindeuten, zu benennen. Rätselhafte Welten können im Discours zusätzlich komplex präsentiert werden, eine (über)komplexe Erzählstruktur ist ihrerseits aber nicht zwangsläufig einer narrativen ‚Verrätselung‘ äquivalent.

Narrative ‚Verrätselung‘ ist demnach dann gegeben, wenn eine eindeutige und kohärente Rekonstruktion der Bedeutung eines Films verhindert wird, sei es aufgrund der Konstitution der dargestellten Welt, oder sei es, dass Mehrdeutigkeit, Inkohärenzen und/oder Inkonsistenzen zusätzlich durch bestimmte Erzählstrategien auf Ebene des Discours angereichert werden.

 

Forschung

In der deutschsprachigen Forschung ist der Begriff in seiner terminologischen Präzision und operationalisiert als Analysekategorie neuartig. Gleichwohl er gelegentlich früher auftaucht (vgl. Moenninghoff 2007; Kuhn 2009; Brütsch 2011: 17 u. 301), wurde er erst unlängst in einem breiteren Zusammenhang zum ‚verstörenden Erzählen‘ systematisch und taxonomisch gefasst und dabei Phänomenen wie der narrativen ‚Täuschung‘ und der narrativen ‚Paradoxie‘ gleichrangig an die Seite gestellt (vgl. Schlickers 2015; Schlickers/Toro 2017). Entsprechende Überlegungen gingen dabei aus einem Forschungsfeld hervor, das sich mit dem von Steven Johnson sogenannten Mikrogenre ‚Mind-Bender‘ beschäftigt und bis heute stark floriert (Mind-Bender: Forschung, Positionen, Begriffe): „[A] film designed specifically to disorient you, to mess with your head.“ (Johnson 2005: 129).

Die Problematik um den Bereich geht auf Warren Buckland zurück, der mit seinem Begriff ‚puzzle film‘ – verstanden als „a post-classical mode of filmic representation and experience“ (Buckland 2009: 5) − eine bestimmte Menge von Filmen abzudecken versucht, Filme „made up of non-classical characters who perform non-classical actions and events“ (ebd.).

[P]uzzle films embrace non-linearity, time loops, and fragmented spatio-temporal reality. These films blur the boundaries between different levels of reality, are riddled with gaps, deception, labyrinthine structures, ambiguity, and overt coincidences. They are populated with characters who are schizophrenic, lose their memory, are unreliable narrators, or are dead (but without us – or them – realizing). In the end, the complexity of puzzle films operates on two levels: narrative and narration. It emphasizes the complex telling (plot, narration) of a simple or complex story (narrative).
(ebd.: 6; Hervorhebungen i. Orig., S.B.)

So weitreichend Buckland einerseits agiert, so problematisch ist andererseits die Heterogenität des Komplexes, den er mit der von ihm umrissenen Kategorie abzudecken versucht. Miklós Kiss nimmt daher folgerichtig eine Differenzierung zwischen puzzle film und riddle film vor. Der puzzle film weist einen hohen Grad an Komplexität auf, generiert aber einen eindeutigen Bedeutungszusammenhang, die er durch einen Final Twist am Ende offenlegt; der riddle film hingegen verweigert sich einer solchen Auflösung und hält seine ambige Bedeutung über das Filmende hinaus aufrecht:

These re-selected films’s narrative strategies, such as their ambiguities, mutual exclusivities, and paradoxes, are not compensated by any ‚trade-off between innovation and norm‘ (Bordwell […]) that normally ensures cognitively manageable experience […], but keep the viewer in a perplexed state ceaselessly. From this definition, films like Lynch’s Lost Highway […], or loop-narratives, for example Christopher Smith’s Triangle […], could form that distinct category, better called riddle plots, which, providing riddles without solution, would go beyond some of the puzzle film’s ‚simple complexity‘. (Kiss 2013: 248)

Kiss argumentiert dabei aus kognitionspsychologischer Perspektive: „Riddle filmsʼ diegetic paradoxes, through destabilising our vital, embodied, real-life experienced sense of the diegetic centre (of inertia), make the viewer’s narrative navigations, that is his/her cognitive plot-mapping, practically impossible.“ (Kiss 2013, 249). Aus narratologischer und struktural-analytischer Perspektive heraus haben den Begriff zuletzt Vera Toro und Stephan Brössel im Sammelband Perturbatory Narration in Film konturiert und zur Anwendung gebracht (vgl. Brössel 2017; Toro 2017).

 

Filmbeispiele: Possible Worlds, Shutter Island, Enemy

Narrative ‚Verrätselung‘ tritt in der Regel in Kombination mit unzuverlässigem Erzählen, mit Plot Twists oder paradoxen Erzähllogiken auf und ist im Spannungsfeld zwischen Ambivalenz und Kohärenz angesiedelt.

Possible Worlds (CAN 2000) funktioniert auf den ersten Blick mittels Täuschung: Die syntagmatisch alternierende Kombination aus diegetischen und metadiegetischen Erzählsegmenten wird durch einen Final Plot Twist insofern plausibilisiert, als der Film augenscheinlich die Vorstellungen und Erinnerungen des künstlich am Leben gehaltenen Protagonisten vermittelt (Mentale Metadiegese): George Barber ist gewissermaßen in einem Zustand zwischen Leben und Tod gefangen und spielt imaginativ verschiedene Möglichkeiten der Beziehung zu seiner Frau Joyce durch. Trotzdem am Ende die Machenschaften des maliziös-ominösen Dr. Kleber aufgedeckt werden – und George wohl von seinem Zustand befreit wird −, lässt der Film einige Aspekte subtil offen: Wie ist der Tod des Hausmeisters zu erklären, der bei Zimmertemperatur einen Erfrierungstod erlitt? Was hat es mit den Lichtern auf sich, von denen dieser vorher den Police Officers berichtete? Und wie schafft es der Mörder, physikalische und biophysische Beschränkungen zu übergehen? Handelt es sich gar bei der Realität lediglich um die Imagination einer möglichen Welt neben anderen? (vgl. die ausführliche Analyse in Brössel 2017; Possible-Worlds-Theory und Film)

Ähnliches ist zu beobachten in Shutter Island (USA 2010). Auch hier deckt ein Twist am Ende des Films vermeintlich den tatsächlichen Geschehensverlauf auf; RezipientInnen haben alle bis dahin präsentierten Geschehnisse umzudeuten: Edward Daniels ist nicht US-Marshall, der auf Shutter Island nahe Boston eine verschwundene Patientin aufzuspüren hat und zugleich im Ashecliffe Hospital einen Komplott um staatlich geförderte Lobotomie-Experimente zu enttarnen versucht. Er ist vielmehr Andrew Laeddis, selbst Insasse der Psychiatrie, der mit Hilfe des Rollenspiels von seiner Neurose geheilt werden soll. Klar ist, dass es sich bei der im Fokus stehenden Figur um eine psychopathologische Figur handelt und die Pathologie aufgrund einer Verschränkung traumatischer Erlebnisse im Privatleben und im Zweiten Weltkrieg wurzelt. Weniger offensichtlich hingegen ist die Applikation der Wahrheitssuche – die der Protagonist fortwährend proklamiert – auf die filmische Präsentationsebene, die mikrostrukturell und makrostrukturell Ambiguitäten erzeugt – durch Auslassungen (Höhlenerlebnis), continuity-‚Fehler‘ (Gespräch mit Laeddis) und Fehlinszenierungen (Glas Wasser) – und ungeklärt lässt, ob nun tatsächlich der Protagonist unheilbar krank ist und sich einer entsprechenden Operation zu unterziehen hat oder er nicht etwa aufgrund seines gefährlichen Wissens von der Anstaltsleitung und seinem Psychiater manipuliert wurde und nun Gefangener der Anstalt ist. Gleichwohl erstere Deutungsoption die vom Film nahegelegte sein mag, ist Letztere am Ende nicht vollkommen auszuschließen.

Eine gesonderte Stellung im Rahmen des populären Mainstreamfilms nimmt dahingegen Enemy (CAN/E/F 2013) ein, der nicht mittels Plot Twist funktioniert, sondern sein offenes Ende durch einen Überraschungseffekt erzeugt (Riesenspinne anstelle der Freundin im Zimmer). Die Irritation ergibt sich nicht allein für die Figur, die allem Anschein nach mit einem Doppelgänger konfrontiert wird, sondern ebenfalls für RezipientInnen, die vergeblich nach kohärenzstiftenden Signalen suchen, welche das Dargestellte in einen sinnvollen Zusammenhang bringen. So bleibt denn auch die Deutungsvariante über das Filmende hinaus offen, dass es sich bei Adam – dem Protagonisten – und Anthony um ein und dieselbe Figur mit pathologisch ausgeprägter Bindungsangst handelt und der Film nicht in chronologischer Reihenfolge erzählt wird (vgl. Leiendecker 2015): Vielmehr erscheint die dargestellte Welt rätselhaft, erzählt wird im Modus einer unzuverlässigen Informationsvergabe.

 

Filme

Enemy (CAN/E/F 2013, Denis Villeneuve).
Possible Worlds (CAN 2000, Robert Lepage).
Shutter Island (USA 2010, Martin Scorsese).

 

Forschungsliteratur

Antonsen, Jan Erik: „Das Ereignis des Unmöglichen. Narrative Sinnbildung als Problem der Phantastik“. In: Julia Abel u.a. (Hgg.): Ambivalenz und Kohärenz. Untersuchungen zur narrativen Sinnbildung. Trier 2009, S. 127−139.
Bode, Christoph: „Ambiguität“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Berlin/New York 2007, S. 67−70.
Brössel, Stephan: „Narrative Empuzzlement in Robert Lepage’s Possible Worlds“. In: Sabine Schlickers/Vera Toro (Hgg.): Perturbatory Narration in Film. Narratological Studies on Deception, Paradox and Empuzzlement. (2017; in Druck).
Brütsch, Matthias: Traumbühne Kino. Der Traum als filmtheoretische Metapher und narratives Motiv. Marburg 2011.
Buckland, Warren: „Introduction: Puzzle Plots.“ In: Ders. (Hg.): Puzzle Films. Complex Storytelling in Contemporary Cinema. Malden, Mass. 2009, S. 1−12.
Dablé, Nadine: Leerstellen transmedial. Auslassungsphänomene als narrative Strategie in Film und Fernsehen. Bielefeld 2012.
Johnson, Steven: Everything Bad Is Good For You. How Popular Culture Is Making Us Smarter. London 2005.
Kiss, Miklós: „Navigation in Complex Films. Real-life Embodied Experiences Underlying Narrative Categorisation.” In: Julia Eckel u.a. (Hgg.): (Dis)Orienting Media and Narrative Mazes. Bielefeld 2013, S. 237−255.
Kuhn, Markus: „Ambivalenz und Kohärenz im populären Spielfilm: Die offene Werkstruktur als Resultat divergierender Erklärungs- und Darstellungsmuster am Beispiel von Alejandro Amenábars Abre los ojos “. In: Julia Abel u.a. (Hgg.): Ambivalenz und Kohärenz. Untersuchungen zur narrativen Sinnbildung. Trier 2009, S. 141−158.
Leiendecker, Bernd: „Enemy“. http://www.mindfuck-film.de/enemy/ (20.03.17).
Moenninghoff, Burkhard: „Paradoxon“. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Hgg. v. Dieter Burdorf u.a. 3. Aufl. Stuttgart 2007, S. 568 f.
Orth, Dominik: Narrative Wirklichkeiten. Eine Typologie pluraler Realitäten in Literatur und Film. Marburg 2013.
Panek, Elliot: „The Poet and the Detective: Defining the Psychological Puzzle Film“. In: Film Criticism 31/1−2 (2006), S. 62−88.
Schlickers, Sabine/Vera Toro (Hgg.): Perturbatory Narration in Film. Narratological Studies on Deception, Paradox and Empuzzlement. (2017; in Druck).
Toro, Vera: „‚I am a complex being‘: Filmic Puzzles in Julio Medem’s Vacas and Tierra“. In: Dies./Sabine Schlickers (Hgg.): Perturbatory Narration in Film. Narratological Studies on Deception, Paradox and Empuzzlement. (2017; in Druck).