‚Verstörendes‘ Erzählen und Perturbatory Narration im Film

Larrisa Berlin, Theresa Dreher, Jannis Fughe, Mandy Grotke

 

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Definition

Beim ‚verstörenden‘ Erzählen handelt es sich um eine in der Literatur- und Filmwissenschaft bisher eher vernachlässigte narrative Technik. Sabine Schlickers plädiert dafür, das ‚verstörende‘ Erzählen sowohl im literarischen als auch filmischen Kontext als neue transmediale Kategorie zu etablieren. Im Gegensatz zum ‚verstörenden‘ Erzählen gibt es zu verwandten Konzepten wie dem unzuverlässigen Erzählen (Unzuverlässigkeit, unzuverlässiges Erzählen) bereits zahlreiche Forschungsbeiträge, in denen sich im Hinblick auf das Kino Begriffe wie puzzle films, mindgame-movies und Mind-Bender manifestieren (Mind-Bender: Forschung, Positionen, Begriffe).

Schlickers will die charakteristischen Merkmale des puzzle films als narrative Technik des ‚verstörenden‘ Erzählens kategorisieren. Thomas Elsaesser subsumiert unter diesen Merkmalen: unzuverlässige Erzähler, mehrfache Erzählstränge, ungewöhnliche Einstellungen, unmarkierte Rückblenden, problemhafte Fokalisierung und Perspektivierung, unerwartete kausale Umkehrungen und narrative Schleifen (vgl. Elsaesser 2009: 18). Schlickers erkennt das verbindende Element der „implizit metafiktionale[n], (ver)störende[n] Funktion, durch die die (Wahrnehmung der) Realität hinterfragt wird“ (Schlickers 2015: 49). Sie differenziert deshalb in die erzähltextanalytischen Kategorien: (a) die unzuverlässige Erzählung (Unzuverlässigkeit, unzuverlässiges Erzählen), (b) die paradoxale, (c) die explizit metafiktionale und (d) die phantastische Erzählung. Von ‚verstörendem‘ Erzählen kann laut Schlickers jedoch erst gesprochen werden, wenn mindestens zwei dieser Merkmale im filmischen Kontext gegeben sind und der fiktionale Text mehr als nur eine „unzuverlässige, paradoxale, explizit metafiktionale oder phantastische Erzählung“ (ebd.: 50) ist. Durch diese Erzählverfahren werden bei den RezipientInnen Verwirrung, Desorientierung und Täuschung hervorgerufen. Schlickers empfindet den Begriff der Unzuverlässigkeit hinsichtlich der Komplexität der Kombination dieser verschiedenen Verfahren als unzureichend und sieht sich aus diesem Grund dazu gezwungen, die Kategorie des ‚verstörenden‘ Erzählens zu systematisieren.

Angekündigt für Dezember 2017 ist in der Narratologia-Reihe des de Gruyter-Verlags ein Sammelband zur Perturbatory Narration (hg. von Sabine Schlickers und Vera Toro), der diese Grundideen in einem breiteren Umfang weiterverfolgt.

 

Filmbeispiele: El aura, La mujer sin cabeza

Der Film El aura (E/F/ARG 2005) von Fabián Bielinsky folgt nach der Eingangsszene den Konventionen des Kriminalfilms (vgl. ebd.: 58). Mehrere Szenen zeichnen sich durch unzuverlässiges Erzählen aus, welches hier somit punktuell eingesetzt wird. Andere Kriterien unzuverlässigen Erzählens, wie z.B. externe oder Nullfokalisierung sowie Nicht-Übereinstimmung zwischen implizitem/r AutorIn und implizitem/r ZuschauerIn liegen dagegen nicht vor. Erst in der letzten Szene, die zur Rahmenhandlung zurückführt, wandelt sich der Film in eine ‚verstörende‘ Erzählung. El aura endet mit der Detaileinstellung eines „blauen Hundeauges mit hypnotisierendem Blick“ (ebd.: 60). In der Folge können im Kontext des Films zwei gleichberechtigte Lesarten entwickelt werden, deren Nebeneinander dazu führt, dass sich die Erzählung nicht weiter allein als unzuverlässig charakterisieren lässt. Aus den beiden Aspekten der Unentscheidbarkeit der zwei Lesarten, die auf phantastisches Erzählen hinweisen, und der Unzuverlässigkeit des Erzählens, entsteht so der Effekt des ‚verstörenden‘ Erzählens (ebd.: 61).

Noch eindeutiger als El aura lässt sich La mujer sin cabeza (E/F/I/ARG 2008) von Lucrecia Martel dem ‚verstörenden‘ Erzählen zuordnen. Ebenso wie El aura endet der Film ohne Auflösung und widerspricht damit einem relevanten Kriterium unzuverlässigen Erzählens, welches eine „überraschende Pointe [fordert], mit der die Täuschung aufgedeckt wird“ (ebd.: 55). Grob zusammengefasst handelt der Film von einer Frau, die sich nach einem Unfall mit dem Auto merkwürdig und für den/die implizite/n ZuschauerIn wenig nachvollziehbar verhält. Durch die strikt interne Fokalisierung teilt der/die implizite ZuschauerIn die Verunsicherung und Zweifel der Frau und ist, ebenso wie sie selbst, dazu gezwungen, stetig Dinge und Situationen neu zu deuten, da den gezeigten Bildern nicht getraut werden kann (vgl. ebd.: 62). Die Kamera agiert so als unzuverlässige Erzählinstanz. Im Gegensatz zu Fight Club (D/USA 1999), in dem diese Unzuverlässigkeit am Ende durch die Schizophrenie des Protagonisten aufgedeckt wird (Subjektivität/Wahrnehmung/(Psycho-)Pathologie der Figuren), fehlt bei La mujer sin cabeza eine Auflösung. Es zeigt sich, dass Martel in ihrem Film Strategien des unzuverlässigen Erzählens einsetzt, allerdings auf einen Plot Twist (Plot Twist, Final Twist) verzichtet. Gleichzeitig wirkt der Film paradoxal, weist aber keine passenden Verfahren wie Metalepsen (Metalepse) oder Möbiusbandstrukturen auf (vgl. ebd.: 63). La mujer sin cabeza lässt sich daher am besten mit Hilfe des ‚verstörenden‘ Erzählens beschreiben, da der Film die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge extrem erschwert (ebd.: 63f.).

 

Filme

El aura (E/F/ARG 2005, Fabián Bielinsky).
Fight Club
(D/USA 1999, David Fincher).
La mujer sin cabeza
(Die Frau Ohne Kopf, E/F/I/ARG 2008, Lucrecia Martel).
 

Forschungsliteratur

Elsaesser, Thomas: „The Mind-Game Film“. In: Buckland, Warren (Hg.): Puzzle Films. Complex Storytelling in Contemporary Cinema. Malden, Mass. 2009, S. 13–41.
Schlickers, Sabine: „Lüge, Täuschung und Verwirrung. Unzuverlässiges und Verstörendes Erzählen in Literatur und Film“. In: Diegesis. Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung 4/1 (2015), S. 49–67. http://www.montage-av.de/pdf/162_2007/162_2007_Alexander-Boehnke_Die-Zeit-der-Diegese.pdf (17.01.2017).