Metalepse

Alexander Arndt, Patrick Zemke

 

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Definition

Der Begriff der narrativen Metalepse wurde von Gérard Genette eingeführt und bezeichnet eine erzähllogisch paradoxe „Überschreitung der Grenzen zwischen unterschiedlichen diegetischen Ebenen“ (Thon 2009: 86; vgl. Hanebeck 2017). Genette definierte diese Grenze als „eine bewegliche, aber heilige Grenze zwischen zwei Welten: zwischen der, in der man erzählt, und der, von der erzählt wird“ (Genette 2010: 153). Für Sonja Klimek ist das Auftreten einer Metalepse daher per definitionem nur in solchen Geschichten möglich, die eine Rahmen-Binnen-Struktur aufweisen. Nach Klimek „sind narrative Metalepsen ein fiktionsinternes Verfahren, bei dem logikwidrig über eine Grenze zwischen Darstellungsebenen hinweg erzählt, gehandelt oder etwas versetzt wird“ (Klimek 2010: 37). Zusätzlich zu Genettes Transgression zwischen Ebenen werden Metalepsen häufig auch als paradoxe Schleifen (mise en abyme) in der narrativen Struktur eines Textes oder als Kurzschluss zwischen der „fiktionalen Welt und der ontologisch vom Erzähler besetzten Ebene“ (McHale 1987: 119, 213) beschrieben; als „narrativer Kurzschluss“, der einen „plötzlichen Kollaps des narrativen Systems“ (Wolf 1993: 358) mit sich bringt oder einen illusionsbrechenden Effekt zeitigt, der häufig eine weitere Fiktions- oder Erzählebene zu erkennen gibt. Damit stehen Metalepsen häufig im Dienste verrätselnder Erzählstrategien (Narrative ‚Verrätselung‘). Das „metaleptische Grundprinzip“ weist für die Forschung eine „genuin transmediale“ (Thon 2009: 86) Struktur auf und kann somit „prinzipiell in allen Medien realisiert werden, die zur hierarchischen Einschachtelung unterschiedlicher Darstellungsebenen und deren logikwidriger Transgression fähig sind“ (Klimek 2010: 74).

Übertragen auf den Film, liegt auch für Kuhn ein Abgrenzungskriterium für das Phänomen der Metalepse in der Transgression zwischen verschiedenen Ebenen vor. Kuhn möchte diesen Ebenenwechsel aber nicht nur auf den Wechsel zwischen diegetischen Ebenen begrenzt wissen; darüber hinaus sieht er auch den Wechsel zwischen Fiktionsebenen als konstitutiv für die Extension des Begriffs an (Kuhn 2011: 358). Für Jan-Noël Thon handelt es sich beim „metaleptischen Erzählen um eine der zentralen narrativen Techniken, die sogenannte mind-bender typischerweise beim Spiel mit den Zuschauern einsetzen“ (Thon 2009: 91). Sofern als formales Ziel bei der Rezeption von Filmen die Konstruktion der mentalen Repräsentation eines möglichst konsistenten Weltbildes angesehen wird, können Metalepsen, die innerhalb der Diegese nicht logisch erklärt werden, den Rezipienten dazu provozieren, „vorläufig aufgestellte Hypothesen über die erzählte Welt angesichts von im Filmverlauf nachgereichten Informationen zu verwerfen oder zu modifizieren“ (ebd.: 100). Neben dem tendenziell illusionsbrechenden Effekt des metaleptischen Erzählens macht Thon damit auf den graduellen und prozesshaften Charakter metaleptischer Erzählstrategien aufmerksam. Er verweist so auch auf die Schwierigkeit einer hinreichenden Definition des Phänomens und all seiner Varianten.

 

Forschungsverlauf und -kontroversen

In der Forschung ist seit Genettes Begriffseinführung in den frühen 1970er Jahren ein Streit über mögliche Abgrenzungs- und Klassifikationskriterien entbrannt, die eine sinnvolle Extension des Begriffs sowie eine Taxonomie der durch den Terminus beschriebenen Phänomene erlauben würden. John Pier sieht es aus Ermangelung dieses allgemein akzeptierten Abgrenzungskriteriums als bisher unmöglich an, die unterschiedlichen Ansätze in „clearly identified paradigms“ (Pier 2016) zu fassen.

Eine der für den Forschungsdiskurs grundlegendsten Begriffsdefinition stammt von Marie-Laure Ryan, die den Terminus im Kontext der Übertragbarkeit auf andere Medien beschreibt und dabei zwischen rhetorischen/diskursiven und ontologischen Metalepsen unterscheidet:

Rhetorical metalepsis opens a small window that allows a quick glance across levels, but the window closes after a few sentences, and the operation ends up reasserting the existence of boundaries. […] Whereas ontological metalepsis opens a passage between levels that results in their interpenetretion, or mutual contamination. (Ryan 2006: 207; vgl. auch McHale 1987: 119-121)

Rhetorische Metalepsen nach Ryan könnten also als sprachliche Formen der Transgression begriffen werden, in der die Stimme eines Erzählers die Grenzen zwischen den diegetischen Ebenen überschreitet. Thon glaubt in Ryans Überlegungen aber noch eine weitere Interpretationsmöglichkeit zu erkennen, die rhetorische Metalepsen als nur scheinbar paradoxe bzw. schwache Transgressionen (auf der Ebene des Discours und lokal begrenzt) von ontologischen Metalepsen als genuin paradoxen bzw. starken Transgressionen (auf der Ebene der Histoire und mit globalem Effekt) abgrenzt (vgl. Wolf 2005: 89). Ob eine Transgression nun stark oder schwach er-scheint, kann nur mit Blick auf das gesamte Syntagma des Films beantwortet werden und hängt damit zusammen, ob die der „Logik der Fiktion“ (Thon 2009: 92) zuwiderlaufenden Elemente durch den Film selbst plausibilisiert werden (wie bspw. in Fight Club durch die Psychopathologie einer unzuverlässigen Erzählerfigur). In dieser Forschungstradition beruht die Explikation des Metalepse-Begriffs laut Klimek auf zwei Kriterien:

1.) Es müssen mindestens zwei textinterne diegetische Ebene vermischt werden, und zwar
2.) auf logikwidrige Art (d.h. bei den beiden betroffenen Ebenen muss es sich um zwei hierarchisch angeordnete Ebenen handeln, die normalerweise typentheoretisch streng voneinander getrennt sind). (Klimek 2010: 72)

Für Klimek ist daher jede Metalepse paradox, „aber nicht jede Paradoxie garantiert, dass mit ihr auch eine Metalepse vorliegt“ (ebd.: 45). Paradoxien der Zeit, des Raums oder der Kohärenz will Klimek nicht darunter subsumiert wissen, sondern nur solche Paradoxien, deren Transgression eine vertikale Relation zwischen erzähllogisch getrennten Ebenen bilden.

Dieser eng an Genettes ursprünglicher Definition anknüpfenden Explikation des Begriffs stehen Positionen entgegen, welche das Kriterium der Transgression von seiner Bindung an Genettes klassische Ebenentaxonomie lösen und somit auch horizontale Transgression zwischen getrennten diegetischen Bereichen – derselben Erzählebene – als Metalepsen beschreiben wollen.1 Hierfür stellvertretend können die Forschungen Klaus Meyer-Minnemanns und Sabine Schlickers angesehen werden. Das Modell nach Meyer-Minnemann/Schlickers muss im Kontext einer allgemeinen und transmedial ausgelegten Theorie paradoxen Erzählens gesehen werden, in welcher narrative Instrumente entweder zum Zweck der Löschung (Syllepsen, Epanalepsen als mise en abyme) oder Überschreitung von Grenzen (Metalepsen, Hyperlepsen als Etablierung von (Pseudo-)Metadiegesen) funktionalisiert sind. Den Parametern des Modells nach Minnemann/Schlickers folgend, identifizierte Sabine Lang bereits 2006 (vgl. Pier 2016) einundvierzig Sub-Typen narrativer Paradoxien.2

 

Funktionalisierung im Film

Kuhn schlägt einen weiteren Klassifikationsansatz vor, der sich sowohl an den überschrittenen Ebenen als auch an der Funktionalisierung der Metalepse im Text orientiert und die Menge aller filmischen Metalepsen in innere und äußere teilt. Hier soll laut Kuhn nun nochmals danach unterschieden werden, ob zwei Ebenen nur ‚kurzgeschlossen‘ werden (metaleptische Tendenz): wenn eine Einstellung die in die Kamera sprechende Figur zeigt; oder „Übergänge im engeren Sinn“ vorliegen, sprich: eine Figur von der Diegese in die Metadiegese (⇒ mentale Metadiegese) tritt (wie in Sherlock Jr. ); oder umgekehrt, die Figur einer Metadiegese in die Diegese (Purple Rose of Cairo) eintritt. Eine weitere Variante der inneren Metalepse nach Kuhn läge z.B. in ebenenübergreifenden Doppelbesetzungen vor, wie in David Lynchs Lost Highway (die Figuren der Renée Madison/Alice Wakefield werden beide von Patricia Arquette gespielt). Eine weitere Variante der inneren Metalepse nach Kuhn wäre die sogenannte mentale Metalepse. Diese liegt vor, sobald „von einer Reflektorfigur eingebildete Figuren (und Gegenstände) so inszeniert werden, dass sie wie Elemente der diegetischen Realität wirken und agieren“ (bspw. die diversen drogeninduzierten Halluzinationen in Fear and Loathing in Las Vegas [USA 1998]) (Kuhn 2011: 156, Abb. 19: 191, 362).

Äußere Metalepsen hingegen bilden sich bei Kurzschlüssen oder Übergängen zwischen diegetischen und extradiegetischen Ebenen, also Phänomenen, die das Verhältnis zwischen Erzähler und Erzähltem selbst thematisieren. Der Film Stranger than Fiction (USA 2006) inszeniert dieses Verhältnis zwischen der diegetischen Figur Harold Crick und einer extradiegetischen sprachlichen Erzählinstanz (voice-over narrator), indem deren Stimme durch die zentrale Metalepse des Films von Crick wahrgenommen wird und sich letztlich in einer mise en abyme3 auflöst, sobald der Protagonist das Manuskript für eben jenen (eigentlich metadiegetischen) Roman liest, der den Fortgang seiner (intradiegetischen) Lebensgeschichte bis zum Tod beschreibt.

 


1 Im Grunde steht bereits Thons Aufsatz im Zeichen einer Loslösung des Transgressions-Kriteriums im o.g. Sinne, wenn er darauf hinweist, dass sich Genettes statisches narratives Modell einer wie auch immer vektorisierten Ebenen-Taxonomie als nur bedingt hilfreich erweist, da es sich bei Metalepsen um graduelle und prozessuale Phänomene handelt (vgl. Thon 2009: 106 ff.).
2 2016 wagte Françoise Lavocat einen neuen Ansatz, indem er die Probleme mit dem Ansatz der Possible-Worlds-Theory zu lösen versuchte (Possible-Worlds-Theory und Film). Sie schlägt anstelle der rhetorisch/ontologisch-Distinktion Ryans eine graduelle Kategorisierung vor, die nach dem „degree of literalness“ fragt und drei Grade unterscheidet: „(a) passage from one level of embedding to another through an act of enunciation or its equivalent in other media; (b) (non-)fictional representation of the author or reader/spectator, but at a level different from that of the characters; (c) authors, reader/spectators and characters in same world“ (vgl. Pier 2016).
3 Als „Spiegelung einer Makrostruktur eines literarischen Textes in der Mikrostruktur innerhalb desselben Textes […] auf einer anderen Realitätsebene und/oder einer anderen erzähllogischen Ebene“ von Wolf (1993: 296) in den Diskurs eingebracht, wird die mise en abyme im Sinne von „paradoxen Möbiusband-Erzählungen“ (Klimek 2010: 50−54.) oder „paradoxe[n] Iterationen“ (Fricke 2003: 145) mittlerweile allgemein akzeptiert als Unterkategorie der Metalepse geführt.


 

Filme

Fear and Loathing in Las Vegas (USA 1998, Terry Gilliam).
Fight Club (D/USA 1999, David Fincher).
Lost Highway (USA 1997, David Lynch).
Sherlock Jr. (USA 1924, Buster Keaton).
Stranger Than Fiction (Schräger als Fiktion, USA 2006, Marc Forster).
The Purple Rose of Cairo (USA 1985, Woody Allen).

 

Forschungsliteratur

Fricke, Harald: „Potenzierung”. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. Berlin 2010, S. 144–147.
Genette, Gérard: Die Erzählung. 3. Aufl. München 2010.
Hanebeck, Julian: Understanding Metalepsis: The Hermeneutics of Narrative Transgression. Berlin/Boston 2017.
Klimek, Sonja: Paradoxes Erzählen. Die Metalepse in der phantastischen Literatur. Paderborn 2010.
Kuhn, Markus: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell. Berlin/New York 2011.
McHale, Brian: Postmodernist Fiction. London 1987.
Pier, John: „Metalepsis (revised version; uploaded 13 July 2016)“. In: The Living Handbook of Narratology (2016). http://www.lhn.uni-hamburg.de/article/metalepsis-revised-version-uploaded-13-july-2016 (30.01.2017).
Ryan, Marie-Laure: Avatars of Story. Minneapolis 2006.
Thon, Jan-Noël: „Zur Metalepse im Film“. In: Hannah Birr u.a. (Hgg.): Probleme filmischen Erzählens. Berlin 2009, S. 85–110.
Wolf, Werner: „Metalepsis as a Transgeneric and Transmedial Phenomenon. A Case Study of the Possibilities of ‚Exporting‘ Narratological Concepts“. In: Jan Christoph Meister (Hg.): Narratology Beyond Literary Criticism. Mediality – Disciplinarity. Berlin/New York 2005, S. 82–107.
Wolf, Werner: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. Tübingen 1993.