Gott und die Geduld

Predigt zum 17. Sonntag im Jahreskreis. Die Predigt wurde nie gehalten, jedoch von Prof. Dr. Dr. Klaus Müller abgeschlossen und zur Freigabe im Internet vorbereitet.

17. Sonntag C: Gen 18, 20-32

I
Wann immer mir die Abrahamsgeschichte aus der heutigen ersten Lesung vor Augen kommt, muss ich an meine Großmutter denken. Ich war neun Jahre alt. Es war kurz nach der Erstkommunion und der Übertritt ins Gymnasium stand an. Meine Großmutter, die für mich eine ganz wichtige Bezugsperson war, musste sich Knall auf Fall einer lebensgefährlichen Operation unterziehen. Ich hatte Angst um sie, wie nur ein Kind Angst haben kann. Der operierende Chefarzt macht ihr keine große Hoffnung. Frau Scholz – so hieß sie – , es wird zu Ende gehen.

Viel später erzählte mir die Großmutter, wie sie damals gebetet hat in den Nächten: Herr, mein Gott, ich hab noch eine Aufgabe für den Buben. Schenk mir noch zwei, drei Jahre. Der Arzt: Frau Scholz, es wird nicht so recht. – Sie: Lieber Herrgott, noch zwei oder ein Jahr, dann ist der Bub aus dem Schlimmsten raus. – Der Arzt: Schaut gar nicht gut aus, Frau Scholz. – Sie: Lieber Gott im Himmel, noch ein Jahr wenigstens oder bloß ein paar Monate, dass alles noch auf gute Wege kommt. Dann magst Du mich zu Dir holen.

Da war sie 63 Jahre alt. Gestorben ist sie mit fast 90. Mit 80 besuchte sie mich in Rom und stieg mit mir auf die Peterskuppel. Und bei der Promotion und dann der Priesterweihe war sie auch dabei. Ich weiß nicht, ob ich je einen dankbareren Menschen gesehen habe und sehen werde.

II
Meine Großmutter hat mit Gott gerungen, ihn bedrängt, mit ihm buchstäblich gehandelt. Wie der Abraham in unserer Lesung vorhin. Hier wie dort ging es um Leben und Tod.

Dabei fängt diese Abrahamsgeschichte eigentlich ganz anders an. Es ist die berühmte Erzählung, da auf einmal drei Männer an den Eichen von Mamre auftauchen. Abraham erblickt sie und sogleich setzt der Ritus der Gastfreundschaft ein, wie er unter den Nomaden damals üblich war: dass man einen Fremden bedient und bewirtet und erst viel später fragt, warum er eigentlich gekommen sei. Diese Bibelstelle hat eine Wirkungsgeschichte nach sich gezogen wie den Schweif einer Sternschnuppe, bildnerisch aufgipfelnd in der berühmten Ikone von Andrej Rubljow: Drei Männer mit Engelsflügeln! Die Trinität kehrt bei Abraham ein. Aber das geschieht nicht einfach so, sondern um dem Abraham und seiner Frau Sarah übers Jahr die Geburt des so lange schon ersehnten Stammhalters anzukündigen. Das aber war wegen des Alters der beiden derart gegen die Natur, dass Sarah heimlich lacht über die Idee, dass ihr, der Alten, noch die Liebeslust werden solle, wie ältere Bibeln formulieren, mit ihrem noch älterem alten Herrn. Rembrandt hat diese Szene in winzigen Radierungen auf unglaubliche Weise ins Bild zu bringen gewusst: Wie die Sarah mit leicht spöttischer Miene den Kopf durch einen Vorhang steckt und das Gespräch ihres Mannes mit den Fremden belauscht. Aber zugleich intoniert dieses Intermezzo den entscheidenden Gedanken für das, was gleich kommen wird: Ist denn für Jahwe etwas zu wunderbar?, sagt Gott durch die Stimme der Fremden zu Abraham.

III
Und dann kommt sozusagen die Probe auf das Exempel genau dieses Satzes – der Gegenstand unserer Lesung. Denn das Wunderbare, um das es nachfolgend geht, betrifft nicht die Geburt des Isaak, sondern es besteht darin, dass Gott diesen Abraham, einen Menschen, gleichsam in seine Ratschlüsse mit einbezieht. Sehr viel anthropomorpher kann man ja von Gott kaum mehr reden – und zugleich deutet sich darin ein Gottesbild an, das man nur noch revolutionär nennen kann.

Die Männer brechen auf in Richtung Sodom und Gomorra. Gott will wissen, wie es wirklich steht um diese Städte, weil die Klage über sie und ihre Schandtaten zu ihm gelangt sei. Abraham begleitet sie und Gott – wir müssen immer die drei mit Jahwe identisch denken – überlegt sich, ob er dem Abraham, dem er doch so Einzigartiges zugedacht hat, verheimlichen soll, was geschehen wird: nämlich, dass er vorhat, diese Sündenpfuhle, wenn sie denn dies sind, in Grund und Boden zu stampfen.

In der Wendung „Ich will hinabgehen und sehen, ob ihr Tun wirklich dem Klagegeschrei entspricht“, da klingt so etwas wie ein letzter Vorbehalt gegen ein Vernichtungsurteil über die beiden Städte an. Der jüdische Exeget Benno Jacob kommentiert treffend:

„Schon ist die Feder angesetzt, das Todesurteil zu unterschreiben, da wird noch einmal gezögert, ob es nicht doch noch aufgehoben werden könne, falls etwa ein mildernder Umstand geltend zu machen ist. Es ist Gott selbst, der die Fürbitte will, und ihr Sprecher soll Abraham sein. Im Rat und Gerichte Gottes soll die Stimme der Menschlichkeit der Mensch führen. Dass Gott sie anhören will, ja herausfordert, zeigt, dass es im Grunde seine eigene andere Stimme ist.“1

Darum bleibt Abraham noch einmal vor einem der drei stehen, der nun einfach „Jahwe“ heißt – wie einer, der noch etwas auf dem Herzen hat, während sich dieser eine anders als die Weitergehenden ihm abwartend zuwendet.

IV
Und dann beginnt der Gotteshandel. Der Exegese fällt auf, dass das das erste Mal ist, dass ein Mensch im Gespräch Gott nicht antwortet, sondern das Gespräch selbst anfängt. Aber zugleich verteidigt Abraham die Bewohner von Sodom und Gomorra nicht. Er fragte nur und muss dazu jedes Mal buchstäblich Anlauf nehmen, sechsmal insgesamt, immer bescheidener werdend. Von 50 bis zehn. Und der Bezugspunkt dabei ist immer die Gerechtigkeit Gottes. Wenn es die gibt, so ist Abraham überzeugt, dann kann keiner der Gerechten vernichtet werden und ihre Anwesenheit in einem Gemeinwesen rettet dessen Bestand vor dem vernichtenden Gericht. Fünfmal antwortet Gott auf das Feilschen des Abraham: „Auch dann nicht“. Auch dann werde ich nicht vernichten, wenn da auch nur zehn Gerechte wären, heißt es am Ende. „Zehn“ ist die Mindestzahl dafür, dass Juden eine Gemeinde bilden und zur Not das Ganze des Gottesvolkes repräsentieren können.

V
Genau an dieser Stelle deutet sich im Horizont des Alten Testaments etwas an, was dann im Neuen Testament und nochmals später in der frühchristlichen Theologie seinen vollen Ausdruck findet.

Wenn so eine kleine Zahl von Gerechten reicht, um Sodom und Gomorra vor dem Untergang zu retten, könnte dann nicht sein, dass diese Aufgabe auch auf einen Einzigen zuläuft? Im Alten Testament selbst schon kristallisieren sich solche Gedanken heraus und lagern sich um die rätselhafte Gestalt des Gottesknechts im Buch des Propheten Jesaja ab. Die Evangelien nehmen dieses Motiv in ihrer Deutung des Lebensgeschicks Jesu auf und verbinden es zugleich mit Worten, die so verwegen sind, dass sie irgendwie wieder zu dem Gottesfeilschen des Abraham passen, so wenn es in der Bergpredigt etwa heißt, dass Gott seine Sonne aufgehen lasse über Guten und Bösen und dass er es regnen lasse über Gerechte und Ungerechte. Da begegnet wieder die Gerechtigkeit, die wir schon aus unserer Genesis-Lesung kennen. Die Mengenlehre der Genesis – mindestens zehn – wird dabei, modern gesagt, dialektisch aufgesprengt in der Hoffnung, dass die Ungerechten, weil sie auch noch genauso Sonne und Regen erhalten wie die Gerechten, derart bestürzt sind, dass sie sich bekehren. Aber dieses unglaubliche Jesus-Wort steht ganz und gar im Gefälle der abrahamitischen Genesis-Logik.

VI
Und das Zweite: Die frühchristliche Theologie kennt so etwas eine Theologie der Geduld Gottes. Origenes, der größte griechischsprachige Theologe der frühen Kirche, hat das auf einzigartige Weise in seinen Homilien zum Levitikus-Buch ins Wort gebracht. Da sagt er:

„(…] auch die von hinnen scheidenden Heiligen erhalten nicht sogleich den vollen Lohn ihrer Verdienste, sondern sie warten auf uns, auch wenn wir verzögern, auch wenn wir träge bleiben. Nicht nämlich haben sie volle Freude, solange sie wegen unserer Irrungen unsere Sünden betrauern und beklagen. (Wenn Du Paulus liest; K.M.] siehst Du also wohl, dass Abraham noch wartet (…]. Es warten auch Isaak und Jakob, und alle Propheten warten auf uns, um mit uns zusammen die vollendete Glückseligkeit zu erreichen. Darum denn auch jenes Geheimnis des bis zum letzten Tag verschobenen Gerichts. (…] Du wirst also (zwar) Freude haben, wenn du als Heiliger aus diesem Lande scheidest; dann aber erst wird deine Freude voll sein, wenn dir kein Glied mehr fehlt. Warten wirst nämlich auch du, wie du selbst erwartet wirst.“2

Und umso mehr gelte das von Christus als dem Haupt jenes Leibes, der die Kirche ist. Der wartende Christus – für mich ist das die Chiffre einer Theologie der Humanität, in der sich etwas von der abrahamitischen Urszene unseres Glaubens spiegelt. Einst konnte Joseph Ratzinger just mit diesen Passagen aus Origenes sein Buch über Eschatologie enden lassen. Später sind an die Stelle dieses Endes gnadenlose Urteile getreten. Und ein kardinaler drittrangiger Epigone, der sich als der Lordsiegelbewahrer des Expapstes betrachtet, treibt dies bis zum Exzess, indem er so tut, als wisse er, was Gottes Wille sei, den er zu vollstrecken habe. Armer Tropf! Unvergleichlich wichtiger ist, dass sich die Kirche, dass wir uns auf das abrahamitisch-origenistische Denkangebot einlassen.


1Jacob, Benno: Das Buch Genesis. Hg. in Zusammenarbeit mit dem Leo Baeck Institut. Stuttgart 2000. 448-449.
2Origenes: In Lev hom 7, 2 (GCS 29, 374-380).