Wenn der Messias kommt

14. Sonntag A: Sach 9, 9-10 + Mt 11,25-30

I
Vor wenigen Wochen war ich zu Vorlesungen in Jerusalem. Die Stadt brodelte. Christliche Pilgerscharen aus aller Welt, die sich zu Orten führen lassen, von denen fast keiner historisch gesichert ist – wie etwa die Via Dolorosa, der Kreuzweg Jesu, der in heutiger Gestalt eine Erfindung der Franziskaner aus dem 16. Jahrhundert ist. Oder aber in der Grabeskirche, in der sich gern Mönche verschiedener orthodoxer Provenienz um Gottesdienstzeiten prügeln: Seht, wie sie einander lieben, hieß es einmal in der Apostelgeschichte über christliche Glaubensgeschwister. Forget it. Und dass die Marmor-Platte, wo der tote Jesus gesalbt worden sein soll, aus dem 16. Jahrhundert stammt, hindert Pilgerinnen und Pilger nicht, Rosenkränze und Taschentücher darauf zu drücken, um etwas von dieser angeblichen Realpräsenz nach Hause zu retten. Alles ein bisschen crazy, wie man heute sagt.

Die anderen Religionen, die in Jerusalem präsent sind, machen es nicht viel besser. Es war gerade Ramadan. Deshalb durften die Besucherinnen und Besucher des Tempelberges trotz glühender Hitze keine Wasserflasche dorthin mitnehmen. Dass deswegen ein paar von den Leuten wegen Dehydration umfielen – was solls.

Und die Juden – nicht viel besser. In der Nähe der erstaunlich großen Hurva-Synagoge, die nach etlichen Zerstörungen erst 2010 durch die Deposition von Torah-Rollen wieder neu eingeweiht wurde, steht in einem Glaskasten eine neue Menorah, also ein siebenarmiger Leuchter. Die alte Menorah ging wohl bei der Zerstörung des zweiten Tempels 70 n. Chr. verloren. Der Titus-Bogen in Rom dokumentiert das. Endlose Verschwörungsgeschichten erzählen bis heute, dass diese alte Menorah irgendwo versteckt sei. Das aber hat die Herstellung der eben erwähnten neuen Menorah nie gebremst. Im Gegenteil: Es gibt eine radikale jüdische Gruppierung, die die Absicht hat, den muslimischen Felsendom zu sprengen, einen dritten Tempel zu erbauen und in diesen dann die bereits fertige Menorah zu stellen. Man kann es nicht anders sagen: Jerusalem brodelt von Endzeiterwartung. Man braucht dazu nur in das jüdische Viertel zu gehen, wo einem die ultraorthodoxen Juden mit ihren diversen Hüten begegnen, und wo man Steinwürfe erntete, wenn man es wagte, sich am Sabbat in den entsprechenden Straßen auch nur mit dem Fahrrad zu bewegen.

II
Wie unendlich anders ist das all dem gegenüber, was uns die heutigen Schriftlesungen aus dem Alten und Neuen Testament sagen. Zuerst das Buch des Propheten Sacharja: Der Messias kommt nicht als ein triumphierender Machthaber, sondern demütig. Er reitet auf einem Esel. Das hätte kein Usurpator auch nur erwogen. Der wäre auf einem Streitross eingeritten oder hätte sich noch besser auf einem Triumphwagen präsentiert. Auf einem Fohlen, dem Jungen einer Eselin. Diese typische Formulierung aus der Sprache der Psalmen hat spätere Illustratoren der Szene in die Bredouille gebracht – mit der Folge, dass sie den Jesus des Palmsonntags so darstellen, dass er auf einer Eselin sitzt und seine Füße auf ein Eseljunges stützt, also gleichsam auf zwei Eseln auf einmal unterwegs ist. Was natürlich völliger Unsinn ist. Das erklärt sich einfach aus der hebräischen Sprache, in der manchmal der Gehalt des ersten Halbsatzes im zweiten mit leichten Variationen nochmals wiederholt wird.

III
Genau dem entspricht, was unser heutiges Evangelium sagt. Die Verse, die wir gehört haben, leiten Jesu Aussendungsrede ein, nach der Bergpredigt die zweite Redekomposition, in der Matthäus verdichtet, was er über Jesus, seine Absicht und sein Geheimnis weitersagen will. Und so wie bei der Bergpredigt kann man auch diese Rede nur recht verstehen, wenn man ihre ersten Worte genau genug betrachtet. Die lauten: Als Jesus die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen.

Mitleid also das ist der Grund für alles, was folgt: die Worte von der großen Ernte und den wenigen Arbeitern, die Bevollmächtigung und Aussendung der Jünger, die Regeln, die sie dafür mit auf den Weg bekommen – also das Wichtigste, was Matthäus über die Kirche zu sagen hat. Aus guten Gründen gilt das Matthäusevangelium seit je als das Evangelium von der Kirche, kein anderer der Evangelisten hat sich so intensiv mit der Gemeinschaft der Jesusleute befasst. Es versteht sich von selbst, dass Matthäus an einer so zentralen Stelle seines Evangeliums nicht einfach auf eine Gefühlsregung Jesu neben anderen rekurriert. Entsprechend wichtig wird man nehmen müssen, dass der Evangelist Mitleid für den Ursprung der Kirche hält.

Um dieses Umgangs wirklich inne zu werden, müssen wir hinter unser Wort „Mitleid“ zurückgehen, so nahe wie möglich an den jesuanischen Originalton heran. „Mitleid“ klingt im Grunde viel zu gefühlhaft, zu ungeschützt dagegen, dass sich Momente von Äußerlichkeit und Überhobensein einschleichen. Ganz anders im Hebräischen. Sein Wort für Mitleid heißt „rechamim“ – und das kommt von „rechem“ – Mutterschoß. Mitleid hat, wer jemandem so gut ist, dass er ihn am liebsten gegen alle Unbill mit dem eigenen Leibe schützte und nährte, ja in sich selber bergen möchte; wer, was dem anderen aufgeladen ist, am liebsten selber trüge. Mitleid haben heißt: für den anderen mit allem, was man selber ist und hat, einstehen und aufkommen.

Wenn Matthäus von Jesus sagt, er habe Mitleid gehabt, dann erschöpft sich, was er damit meint, aber auch nicht in dieser Grundhaltung elementarer Menschlichkeit. Denn alles, was der Evangelist vom Menschen Jesus sagt, steht zugleich in einer auf Gott hin geweiteten Dimension. Jesus ist für Matthäus der „Immanuel“, der Gott-mit-uns. In Worte unserer Sprache von heute übersetzt: Jesus gilt ihm als lebendiges Gleichnis Gottes in Menschengestalt: Was Jesus sagte, was er tat, wie er war, so ist Gott. Im Mitleid-Haben Jesu kehrt sich darum das Innerste Gottes in das Äußere einer menschenmöglichen Wahrnehmbarkeit. In ihm teilt Gott sich selbst von Wesen mit. Offenbarung heißt der alte Name dafür.

IV
Und genau in diesem Akt der Entäußerung des Innersten Gottes nimmt – etwas kühn, aber durchaus matthäisch gesagt – die Kirche ihren Anfang. Weil er Mitleid mit den verstreuten und erschöpften Menschenkindern hat: verstreut, weil sie nicht wissen, wohin; und erschöpft von dem, was ihnen das tägliche Bestehen abverlangt, – darum sendet er die Zwölf aus, die er um sich gesammelt hatte als Sinnbild der Neusammlung des Volkes Israel.

Kirche ist ein Reflex – Widerspiegelung – des Erbarmens Gottes mit uns im Gleichnis menschlichen Erfahrens. Sie ist innerstes Moment dessen, was das Besondere des biblischen Gottesbildes ausmacht. Darum haben Glaubende Grund, von Kirche mit Dankbarkeit und Achtung zu sprechen. Freilich ist von diesem theologischen, diesem geistlichen Ursprung der Kirche her auch ein Maßstab aufgerichtet, an dem sich alles messen lassen muss, was in der Kirche geschieht, und genauso alle, die in dieser Kirche wirken. Niemand wird in der Kirche mit Berufung auf Jesus etwas tun können, das nicht mit jenem ihrem Ursprung – der barmherzigen Anteilnahme Gottes selbst am Geschick seiner Geschöpfe – in Einklang stünde. Natürlich braucht es menschliche Regeln, wie überall, wo Menschen einander in ihrer Verschiedenheit begegnen und miteinander zugange sind. Aber schon an der Praxis der Regelbefolgung muss Kirche ihre eigene Herkunft aus jesuanischem Mitleiden bewähren. Und wie anders sollte solche Bewährung geschehen als dadurch, dass man die durchaus anspruchsvollen Prinzipien christlicher Lebensführung so hochhält, dass man im begründeten Sonderfall auch einmal unter ihnen hindurch kann? Nicht nur bei Bagatellmaterien, sondern genauso, wenn es um Trennung von Partnern, um Abtreibung, um Laisierung von Priestern, um ein menschenwürdiges Lebensende geht. Genau das – und noch manches andere mehr – fällt doch in ebenjenen Bereich, wo Menschen sich buchstäblich verlieren, wo sie verstört werden und manchmal sich selbst zerstören bei dem Versuch, endlich ein Leben zu finden, das verdiente, ihr eigenes genannt zu werden.

V
Matthäus hat, als er mit dem heutigen Evangelium die geistliche Grundlegung der Kirche zu Papier brachte, nicht gezögert, die Jünger durch Jesus mit schier Unglaublichem beauftragt werden zu lassen: Sie sollten, sagte er, die Nähe des Himmelreiches vergegenwärtigen, indem sie Kranke heilten, Tote auferweckten, Aussätzige wieder in die Gesellschaft integrierten und Dämonen, also alles, was unfrei macht, vertrieben. Damit hat der Evangelist in Sprachbildern seiner Zeit der Kirche – versehen mit jesuanischer Autorität – das Wunderbare als Wesensmoment ins Stammbuch geschrieben. Für einen Ausrutscher aus dem Überschwang des Anfangs ist das Matthäusevangelium viel zu spät geschrieben. Sein Verfasser wollte wohl sagen:

Zu Kirche gehört eine Weise menschlicher Zuwendung, in der etwas von jener unbedingten Menschenliebe Gottes ahnbar wird, für die Jesus in erster Person einsteht. Die aber ist von Wesen wunderbar. Und – realistisch gefragt – kann es sie anders überhaupt geben? Mir will scheinen: Dass andere zum Beispiel neidlos – neidlos! und also ohne jeden Hintergedanken – anerkennen, eines Menschen Lage mache nötig, ihm gegen alle Prinzipien einen neuen Weg aufzutun, ist ungefähr soviel wie einen Toten wieder ins Leben zu rufen – und manchmal mindestens genauso viel. Das Befremdliche des heutigen Evangeliums ist uns weit näher, als das eingespielte Kirchentum zulassen möchte.

VI
Ich kann an dieser Stelle nicht anders als darauf hinzuweisen, dass genau das auch den roten Faden im Reden und Handeln von Papst Franziskus ausmacht. Seine scheinbar oft so spontanen Äußerungen und Gesten Menschen gegenüber, die gesellschaftlich an den Rand gedrängt wurden, haben nichts anderes als den Vers 28 aus dem heutigen Evangelium zum Movens, Matthäus Kapitel 11:
Kommt alle zu mir,
die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt.
Ich werde euch Ruhe verschaffen.
Oder in älterer Übersetzung, die in metergroßen Lettern in der Apsis der Kirche meiner Regensburger Heimatgemeinde steht:
Kommt alle zu mir,
die ihr mühselig und beladen seid.
Ich will euch erquicken.
Das sagt Franziskus unbeirrt den Geschiedenen, die wieder geheiratet haben, er sagt es Frauen nach einer Abtreibung. Sagt es Schwulen, die in einer treuen Lebensgemeinschaft verbunden sein möchten. Sagt es Priestern, die ihr Amt aufgaben, um zu heiraten. Und er wird geprügelt dafür wie kein Papst vor ihm in den letzten Jahrhunderten. Wir können nur hoffen, dass diese Spur einer Theologie der Barmherzigkeit, die er der Kirche unserer Tage eingraviert hat, in ihr unauslöschliches Elefantengedächtnis eingeht und dort Bestand hat gegen all die Revisionen, die jetzt schon versucht werden und nach seinem Pontifikat mit äußerster Macht unternommen sein werden.

Aber wer weiß: Vielleicht erleben wir ja auch konkret, wie das Wesentliche den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber, also den Einfachen und Geraden offenbart worden ist.