Von vorne
Fest der Taufe des Herrn A: Mt 3,13-17
I
Der Dichter Heinrich von Kleist, einer der großen Hellsichtigen seiner Zeit, hat es einmal geschafft, das ganze Rätsel des Lebens und der Geschichte in einen einzigen Satz zusammenzufassen. In seinem Aufsatz „Über das Marionettentheater” schrieb er: „Das Paradies ist verschlossen und der Cherub (der Engel mit dem Feuerschwert) hinter uns, wir müssen die Reise rund um die Welt machen und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.”
II
Genauso ist es: Was immer wir tun oder nicht tun - alles hat nur und allein einen einzigen Zweck: Dass wir es mit uns und der Welt einigermaßen aushalten. Dass wir einverstanden sein können damit, wie es ist. Dass wir daheim sind. Was immer wir ins Werk setzen, wem immer wir nachlaufen – immer geht es um das Paradies. Jeder Mensch, der zu denken anfängt, entdeckt, dass er aus dem Paradies herausgefallen ist. Eine Ahnung davon muss uns zutiefst in die Seele geschrieben sein, sonst wüssten wir nichts davon. Und die vielen Rätsel, die Widersprüche, das Uneingelöste des Lebens stoßen uns darauf, dass wir im Exil leben. Aber wir möchten heim. Selbst eine Reise rund um die Welt, das Wagnis durch alle Höhen und Tiefen zu gehen, ist uns nicht zu viel dafür. Aber unbestechlich, wie Dichter sind, gesteht Kleist ein, dass selbst, wer dieses Abenteuer auf sich nimmt, vielleicht von hinten irgendwo eintreten kann. – Vielleicht. Und von hinten. Durch die Hintertür kommen in vornehmen Häusern nur die Dienstboten und in normalen Häusern die Diebe. Selbst wenn eine oder einer das Paradies auf Rechnung eines wagemutigen Lebens gewänne, er und sie wären in diesem Paradies bloß Knecht oder Magd. Oder jemand, der es sich erschlichen hat. Knecht und Magd aber oder Einbrecher kann man in keinem Paradies sein. Wer es versuchte, erlebte sein Paradies als Kasernenhof oder müsste sich dort verstecken, wo er meinte, daheim zu sein. Das Leben ist aussichtslos selbst dort, wo es sich seiner kühnsten Mittel bedient.
III
Das hat Kleist mit seinem Satz vom verschlossenen Paradies gemeint. Neu war das nicht. Knappe 2000 Jahre zuvor war der Täufer Johannes derselben Meinung. Er sagte es nur schonungsloser: Er verkündete die Buß-Taufe und meinte damit: Die Welt ist eigentlich nur noch wert, unterzugehen.
Als Jesus an den Jordan zu Johannes kam, wollte er von ihm getauft werden. Damit drückte er aus: Johannes, du hast recht. Welt und Leben, wie sie sind, haben kein Recht auf Hoffnung für sich. Sie sind gnadenlos. An diesem Punkt war Johannes in prophetischer Härte gegen sich und seine Hörerschaft stehengeblieben. Jesus tut aber einen Schritt mehr: Wer diese Gnadenlosigkeit von Welt und Leben anerkennt, hat schon die Gerechtigkeit erfüllt, die Gott fordert, sagt er dem Täufer, der zögert, ihn zu taufen. Jesus meint damit: Wer aufhört, von sich und seinem Bemühen das Glück des Lebens, das Paradies zu erwarten, der hat zu verwirklichen begonnen, was die Taufe des Johannes meinte, aber so noch nicht zu sagen vermochte: Gott soll Gott sein und der Mensch wieder Mensch. Vom Menschen, von sich selbst das Paradies zu erwarten, ist zu viel – und darum gnadenlos. Von Gott weniger als das Paradies zu erwarten ist zu wenig, und darum genauso gnadenlos. Beides zusammen macht Gerechtigkeit aus. Gerecht ist, wer Gott und dem Menschen gerecht wird.
Kaum war Jesus getauft, ...da öffnet sich der Himmel, erzählt Matthäus. So deutet er aus, was Jesus mit seinem Schritt über Johannes hinaus gebracht hat: Die Anerkenntnis Gottes als Gottes und des Menschen als Menschen beendet die Verschlossenheit des Himmels gegen die Erde, die Unerreichbarkeit Gottes für die Welt. Und das ist auch der Weg ins Paradies, der nicht erbuckelt und erschlichen werden muss. Das sagt Matthäus, indem er mit dem Bild von dem wie eine Taube auf Jesus herabkommenden Gottesgeist auf den Schöpfungsmorgen mit dem über dem Urchaos brütenden Geist anspielt und zugleich auf die Taube, die dem Noach in der Arche den frischen Olivenzweig als Zeichen des neuen Anfangs Gottes mit seinen Geschöpfen überbringt.
IV
Als Mensch Mensch sein wollen und zugleich Gott Gott sein lassen, das stiftet – wo immer und wie immer – den Neuanfang, den es braucht, dass wir heimfinden zu uns. Für Christinnen und Christen ist das nicht schwer, denn Jesus hat jene Gerechtigkeit, die den Neuanfang ausmacht, nicht nur gefordert. Er hat sie auch gelebt. Schon die frühen Christen brachten darum den Glauben auf eine ganz einfache Kurzformel: Leben, wie er gelebt hat. Für das Paradies braucht es nicht mehr. Aber was heißt Paradies genau?
V
Eine erstaunliche Antwort finden wir in der Liturgie der Ostkirche. Es ist kein Zufall, dass dort bei den orthodoxen Christen bis heute das Fest der Taufe Jesu mit dem Dreikönigstag – also dem Fest der strahlenden Erscheinung – vor allem mit dem ersten Wunder aus dem Johannesevangelium, der Hochzeit zu Kana, zusammengezogen wird. Ein Echo davon findet sich sogar noch im Stundengebet der lateinischen Kirche für das Epiphanie-Fest. In der Magnifikat-Antiphon für die zweite Vesper heißt es da:
Drei Vorzeichen feiern wir an diesem Tag:
Heute hat der Stern die Magier zur Krippe geführt,
heute wurde das Wasser in Wein gewandelt bei der Hochzeit,
heute wurde Christus von Johannes im Jordan getauft zu unserem Heil. Halleluia.
Im ersten Augenblick mag sich diese Kana-Geschichte unmittelbar nach dem ersten, steil theologisch-mystischen Kapitel des Evangeliums, dem berühmten Prolog, der mit dem Vers „Im Anfang war das Wort…“ anhebt und dann in jenem „Und das Wort ist Fleisch geworden“ aufgipfelt, wie ein Bruch ausnehmen. In Wirklichkeit aber besteht ein doppelter Zusammenhang zwischen Kana und Weihnachten.
VI
Der erste Zusammenhang: Der Vers vom Fleischwerden des Wortes geht weiter mit den hymnischen Worten „… und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit“, wörtlicher übersetzt: „voll Charme und Treue“. Die Geschichte von der Hochzeit zu Kana mit der Erzählung, wie der Gast Jesus Wasser zu köstlichem Wein wandelt, als der den Gastgebern ausgeht, tut nichts anderes, als eben jene Herrlichkeit, also das Wunderbare, Gütige und Beglückende an Gott, das durch Jesus offenbar wird, buchstäblich in Szene zu setzen. Deswegen muss man die Geschichte von der Kana-Hochzeit gleichsam als Programm-Ansage für Jesu Einstieg in seine Sendung lesen.
Das zweite Bindeglied zum Weihnachtsfest besteht darin, dass das Ineinander des Stern der Weisen, des geöffneten Himmels bei der Jordantaufe und des Weinwunders von Kana ahnbar machen, was es mit diesem Jesus auf sich hat: dass sich in ihm, diesem Menschen aus Fleisch und Blut, Gott selbst in seiner Menschenliebe mitteilt.
VII
Vor lauter Festtagsstimmung aber, die da mitschwingt, darf man nicht übersehen, dass in dieser Geschichte von der Hochzeit zu Kana einige ganz seltsame, näher besehen höchst befremdliche Züge stecken. Züge freilich, die gerade durch ihre Fremdheit auf das Eigentliche weisen.
Der erste dieser seltsamen Züge hat mit dem Wein zu tun: Da wird Hochzeit gefeiert. Das hat damals gut und gern acht Tage gedauert. Gäste – und nicht nur Verwandte, sondern im Grunde jede und jeder, die kommen wollten – kamen und gingen. Und wenn sie da waren, ließen sie es sich gut gehen, weil die jungen Eheleute sie gern symbolisch – durch Speis und Trank und Tanz – teilhaben lassen mochten an ihrem jungen Glück, endlich nicht mehr allein zu sein, sondern gemeinsam durchs Leben zu gehen, einer den andern zu stützen und zu schützen und bald neuem Leben Dasein zu schenken. Und dann geht – wohl weil so viele gekommen sind – der Wein aus. Auf einen dezenten Hinweis der Mutter Jesu, von dem gleich noch eigens die Rede sein muss, weist Jesus die Hausbediensteten an, die großen Wasserkrüge, die für die jüdischen Reinigungsriten bereit standen, mit Wasser zu füllen: Sechs Steinkrüge standen da, jeder von ihnen fasste – sagt das Evangelium – zwei bis drei Metreten, also ungefähr einen Hektoliter. Macht bei sechs Krügen 600 Liter. Und dann, nachdem die Krüge gefüllt sind, sagt Jesus, nun solle der Speisemeister des Festes kosten. Und der ist verblüfft, dass da auf einmal Wein in den Krügen ist, Wein unvergleichlich besser als der bisher ausgeschenkte. 600 Liter Wein! Soll das ein gnadenloses Besäufnis werden?
Natürlich nicht, sondern: Da setzt der Zeichensinn der Geschichte ein. Weinfülle gilt in der ganzen Tradition des Alten Testaments und auch später bei den Rabbinen als Symbol der messianischen Heilszeit, der Wiederkehr des Paradieses, zu der immer auch eine Fülle, ja Überfülle dessen gehört, was Menschen zum Leben brauchen und mehr noch dieses Leben zum Fest macht. In der syrischen Baruch-Apokalypse etwa heißt es:
Auch gibt die Erde ihre Frucht zehntausendfältig; an einem Weinstock werden tausend Ranken sein, und eine Ranke trägt dann tausend Trauben und eine Traube tausend Beeren und eine Beere gibt an vierzig Liter Wein.
Also in Prosa gesagt: Mit Jesus bricht die messianische Zeit an, eine Zeit des Friedens, der Versöhnung und des Segens, der sich nicht erschöpfen wird.
VIII
Zum Eigentümlichen der Kana-Geschichte gehört aber auch Jesu Verhalten gegenüber seiner Mutter Maria, das sich nach menschlichem Empfinden, was ein Mutter-Sohn-Verhältnis betrifft, mehr als befremdlich ausnimmt, um das Mindeste zu sagen. Als ihn Maria auf die Verlegenheit des gastgebenden Hochzeitspaares hinweist, lässt Jesus seine Mutter buchstäblich abfahren, wie man heute sagt. Schroff, im Grunde verletzend ist seine Antwort, wenn er sagt: Was habe ich mit Dir zu schaffen, Frau? Ältere Übersetzungen schreiben an dieser Stelle „Weib“ – und das trifft die Distanziertheit zwischen Jesus und Maria an dieser Stelle ziemlich genau. Was mischst Du Dich in meine Dinge ein?, will das heißen. Der unmittelbar folgende Rätselsatz „Noch ist meine Stunde nicht gekommen“ gibt einen Wink, worum es da geht. Darum, dass sich das, was Jesus sagt, was er tut und was er ist, nach den Gesetzen und Gebräuchen, die üblich sind, nicht bemessen lässt. Weil das Messianische, für das er steht, dieses Segensreiche von Gott her, nicht einfach dem Status quo dessen, was schon da ist, entwachsen kann. Weil da ein Bruch sein muss. Und alle, die auf die Zusage dieses Jesus in ihrem Leben setzen, müssen mit einem solchen Bruch im eigenen Dasein rechnen, ja, müssen ihn sogar suchen.
Der Philosoph Peter Sloterdijk, ansonsten eher bekannt für eine etwas hemdsärmelige Religionskritik, hat seinem Buch aus dem Jahr 2014 mit dem Titel „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ ein umfängliches Kapitel mit dem provokanten Titel „Der Bastard Gottes: Die Jesus-Zäsur“ eingefügt, aber darin ziemlich genau das getroffen, was hier in der Kana-Geschichte aufblitzt. Sloterdijks leitende These: Seit der französischen Revolution mag die nachrückende Generation nicht mehr das Erbe der Eltern und der Alten antreten und fortführen. Stattdessen stürmt sie nach vorne, Neuem entgegen, das sie selber schafft und für unvergleichlich besser hält als das Überkommene. Und für eben diese Denkform macht er zwei besonders wirkmächtige Voraus- und Vorbilder aus, ohne die diese Idee der Hochschätzung des Neuen, noch Unbekannten nie aufgekommen wäre: Sokrates, der die Tradition der Alten in Frage stellt und dafür zum Tod verurteilt wird. Und – Jesus, der in einer Radikalität sondergleichen die natürlichen, familiären Bande kappt, siehe eben Kana, und sich auf eine ganz anderer Herkunft, auf den himmlischen Abba beruft und sich eine ganz andere, von Blutsgemeinschaft unabhängige Familie, die Gemeinschaft seiner Jüngerinnen und Jünger sucht, die ihm nun die wahre Mutter, die wahren Schwestern und die wahren Brüder sind, wie es übereinstimmend bei Matthäus, Markus und Lukas zu lesen steht. Man wird Sloterdijks Jesus-Bild keineswegs auch nur im Groben folgen müssen, um dennoch anzuerkennen: Ja, dieser Bruch mit der Ordnung des Natürlichen und Naturwüchsigen, mit dem, was schon immer so war, wie es war, der gehört zu Jesu Botschaft wesentlich hinzu. Nur so wird Platz für das wirklich Neue, das mit ihm kommt.
IX
Und worin besteht dieses Neue? Dafür steht, wenn ich recht sehe, die Rahmensituation unserer Geschichte: das Hochzeitsfest. „Hochzeit“ steht quer durch alle Kulturen für Neuanfang, Lebensfreude, Überschwang, Ausdruck findend im Essen und Trinken, Feiern und Tanzen. Da freuen sich Menschen am Leben, leben einmal für kurze Zeit über die Verhältnisse, weil sich nur so das Wunderbare von neuer Gemeinschaft und neuem Leben zum Ausdruck bringen kann gegen die Routine des Alltags, die auf diese Weise unterbrochen wird und einem Hauch von Sabbat im täglichen Dasein Raum geben muss.
Freilich ist für einen Spitzentheologen wie Johannes dieses Sinnbild für das Menschliche seinerseits nochmals durchsichtig auf ein unvergleichlich Größeres: Hochzeit wird da zugleich zum Sinnbild für das Zusammen von Gott und Welt überhaupt, wie es in Christus seinen unüberbietbaren Ausdruck gefunden hat. Was in Kana en miniature geschieht, deutet verhalten an, wie untrennbar Gott und Welt im Licht des Jesusereignisses zusammengehören: dass Gott der Welt einwohnt und sie in ihm geborgen ist – beiden zur Freude und zum Glück. Unter diesem Vorzeichen gehen wir nach Weihnachten ab nächster Woche ins lange Kirchenjahr der Sonntage im Jahreskreis hinein.