Von der Lust und der Last der Freiheit    

7. So nach Trinitatis [Kanzeltausch]: Ex 16, 2-3. 11-18        

I
Derzeit ist viel vom „christlichen Abendland“ die Rede, von seinen Werten und Überzeugungen – freilich zumeist aus wenig berufenem Mund. Leute, die sonst kaum etwas mit der Bibel, dem Evangelium oder den Kirchen am Hut haben, tragen dieses Etikett vor sich her als eine Art Abwehrzauber gegen Fremdes und Fremde, von denen sie sich in ihren bisherigen Lebensgewohnheiten gestört oder bedroht fühlen.

II
Wie absurd das ist, wird spontan klar, wenn man auch nur einen Augenblick diesem Rätselwort „Abendland“ nachsinnt. Schon lan-ge weiß man, dass die okzidentale Kultur und ihr Selbstverständnis von einigen wenigen Großerzählungen geformt und geprägt sind – auch dort, wo man gar nicht daran denkt: Homers Odyssee gehört dazu oder – knapp zwei Jahrtausende später – das Gesamtwerk William Shakespeares, das seither von Literaten, auf der Bühne oder in der Politik öfter zitiert wird als die Bibel. Aber eine Erzählung gibt es, die überragt alle anderen und prägt das westliche Denken bis in feinste, selbst säkulare Verästelungen hinein: Die Exodus-Geschichte aus dem 2. Buch Mose. Der Ägyptologe Jan Assmann hat das vor kurzem auf monumentale Weise nachgezeichnet. Und wenn man bedenkt, dass es sich dabei um eine Flucht- und Flüchtlingsgeschichte handelt, müsste den Pegida- und AfD-Schreiern, auch den theologischen, die es mittlerweile gibt, ihr Geschwätz vom Abendland eigentlich im Halse stecken bleiben.

III
Was aber macht eigentlich diese biblische Erzählung derart wirk-mächtig? Die Antwort auf diese Frage fällt doppelt aus: Die Ge-schichte sucht zu klären, wer wir Menschenkinder eigentlich sind und – vielleicht noch wichtiger – sie ist bis ins Letzte affektiv besetzt: Es geht um Treue oder Untreue gegenüber Gott – oder menschlich gesprochen: um Vertrauen versus Angst. Das haben schon etliche Kirchenväter oder auch ein Dante gesehen und der eine oder andere Theologe der Gegenwart. Sie alle erkannten in der Exodus-Geschichte das sozusagen in den Großbuchstaben geschichtlicher Erzählung formatierte Narrativ der Geschichte, die jede und jeder durchleben muss, die sich auf den Weg machen, sie oder er selbst zu werden. Und genau da gehört auch die Murr-Episode der heutigen Lesung aus dem Alten Testament hinein. Um das zu entdecken, muss man ein wenig ausholen.

IV
Im Exodus-Geschehen hat Israel kennengelernt, wer sein Gott ist. Historisch lässt sich dazu nur wenig sagen: Die Israeliten waren Nomaden, die in Sippenverbänden in dem Gebiet vom Euphrat und Tigris im Osten bis zur Nilmündung im Westen zwischen den Städten der bereits sesshaft gewordenen anderen Völker umherzogen. Bei diesen Wanderungen sind einige Gruppen tief in ägyptisches Gebiet gekommen – und wohl aus Gründen günstiger Lebensumstände dort länger geblieben. Nach etlicher Zeit geraten sie allerdings unter die Gewalt der ägyptischen Herrscher. Sie zogen die Apiru, die Hebräer, wie sie jetzt heißen, zu Fronarbeiten im Nildelta heran, vor allem beim Bau der Städte Pitom und Ramses. Die Israeliten freilich wollten sich mit dieser Unterdrückung nicht abfinden. Nach ge¬scheiterten Verhandlungen über eine Entlassung gelingt ihnen endlich die Flucht aus dem Nildelta unter Führung eines Mannes namens Mose. Trotz Verfolgung durch die Ägypter glückt dieses Unternehmen aufgrund einer spektakulären, wohl auch durch klimatische Ereignisse mitbedingten Niederlage der überlegenen Ägypter. Aber wie kommt es eigentlich zu all dem?

V
Eine Hungersnot trieb Israel einst in die Fremde. Die Sorge um sein Bestehen – das ist wie eine Wiederholung aus der Paradiesgeschichte, ob denn zum Leben reichen wird, was Gott gibt. Und genauso ähnelt, was die Genesis am Anfang erzählte, dem, was die Israeliten jetzt erleben: Sie gehen fort nach Ägypten, sie finden tatsächlich genug zu essen – aber, aber der Preis: sie werden satt um den Preis der Entfrem¬dung. Nicht mehr in Freiheit sie selbst, werden sie abhängig von dem, was ihr Leben garantiert. Und nicht lange, so erfahren sie diese Entfremdung – diese Heimatlosigkeit – als pure Unterdrückung. Ein Preis, der das Brot, für das er bezahlt wird, nur noch vergiften und ungenießbar machen kann. Sie leben ja gar nicht mehr – stöhnen die Israeliten in Ägypten – sie werden gelebt, in raffinierter Ausnutzung ihres Lebenshungers ausgepresst für Fremdes, zynisch sichtbar gemacht dadurch, dass sie als Sklaven Städte – also Wohnung, Heimat – bauen müssen für andere. Die banale historische Konstellation – weiß Gott, wie oft bis heute in der Menschheitsgeschichte wiederholt –, dass die einen als Sklaven um ihres bloßen Daseins willen dem Leben Fremder zu dienen haben, diese geschichtliche Konstella¬tion gerät in der Perspektive des Glaubens zum Sinnbild des Menschen nach dem Sündenfall: Die Angst, nicht genug zu bekommen von Gott und deshalb sein Leben selbst in die Hand nehmen zu müssen, treibt unentrinnbar in die Entfremdung – eben dadurch, dass genau das, was mir Leben in Überfülle verspricht, mich aussaugt und meine besten Kräfte sich dienstbar macht. Warum will einer um jeden Preis Karriere machen? Um mehr zu sein, also mehr zu leben. Und wie macht er Karriere? Indem er alles, sein Denken, seine Gefühle kategorisch und kompromisslos seiner Rolle unterwirft – bis dahin, dass er nicht mehr er ist. Oder: Warum hält einer seine Habe geizig zusammen? Aus Angst, nicht genug zu haben. Und was hat er davon? Nichts anderes als die Sorge, nichts zu verlieren und nichts zu ver¬passen, was an Vorteilen sich bietet. Das ist Existenz in Ägypten. Es gibt keinen Winkel unseres Daseins, in dem Ägypten nicht liegen könnte. Aber wie da wieder herausfinden?

Davon redet uns die Geschichte der Begegnung Gottes mit Mose. Die Erzählung vom brennenden Dornbusch ist ihre Ouvertüre: Eines Tages trieb Mose das Vieh über die Steppe, so lesen wir, da erschien ihm ein Engel des Herrn. Das heißt in der Sprache der Bibel: eine Gotteserfahrung machen. Und Mose schaut einen Dornbusch, der brennt und doch nicht verbrennt. Wie in jeder Vision steht auch hier das Geschaute für den Schauenden selbst: ein Dornbusch – Sinnbild des Minderwertigen schlechthin –, wird ergriffen vom Feuer, dem Symbol der unfasslichen Macht Gottes. Ja, dieser Dornbusch wird gleichsam Wohnung dieser Macht, er lodert von ihr, aber ohne dass ihn selbst diese Macht vernichtet. Dem Mose wird da in dieser Erfahrung von Gott etwas über sich selbst kundgemacht: Wie wertlos du auch dich selbst fühlen magst, dennoch taugst du so, wie du bist, dafür, dass Gott in dir wirkt. So wie du bist – mitsamt deinen Schwächen bist du gut genug für mich. Das kann niemand sich selber sagen. Kein Wunder daher, dass Mose diese Offenbarung der Vision am Dornbusch nur zögernd annehmen mag. Darum schenkt Gott dem Mose als Antwort auf seinen Zweifel – seinen Namen: Ich bin der Ich-bin-da. Seit Jahrtausenden hat dieser Name Gottes die Theologen nicht mehr zur Ruhe kommen lassen, um sein Geheimnis zu ergründen, dieses aehejae asher aehejae, ego eimi ho oon, sum qui sum. Und dabei meint er genau das und nichts anderes, als was er sagt: Gottes Name, Gottes Wesen also, besteht darin, immer da zu sein für dich; da zu sein für dich, wenn du stark bist und wenn du schwach bist; da zu sein für dich, wenn du aufrecht stehst und wenn du gefallen bist.

Unter diesem Vorzeichen wagen Mose und die Israeliten die Flucht – hinaus in die Steppe, aus der sie einst des Hungers wegen in die sattmachende Fremde gekommen waren. Wo immer ein Mensch – seinen Ich-bin-da-für-dich heißenden Gott im Rücken glaubend – beginnt, sich den Unterdrückungen seines Lebens zu entziehen, da hat der erste Schritt immer den Charakter der Flucht nach vorn. Und genauso unumgänglich erfährt dieser Mensch im zweiten Schritt exakt das, was jetzt im Buch Exodus über das Geschick der Israeliten folgt. Noch gar nicht weit gekommen, da sehen sie schon eine Streitmacht des Pharao hinter ihnen herjagen. Die alte Unterdrückung, die alten Zwänge drohen, sie einzuholen und ins Sklavenhaus zurückzupeitschen. Nichts anderes als tiefster Schrecken kann da die Israeliten ergreifen, so sehr, dass sie keinen Schritt mehr tun können. Wo immer ein Mensch den Schritt in die Freiheit wagt, suchen die alten Fesseln der Angst, ihn neu zu knebeln. Endlich traut sich einer einmal, ja zu sagen zu sich, so wie er ist, da wird ihn gleich darauf wie ein Tier die Angst anfallen, nichts zu sein, weil er doch zuerst Übermenschliches leisten müsse, um etwas zu sein. Dann kann einer sogar meinen, sterben zu müssen, weil er gewagt hat, aus dem Diktat seiner Zwänge herauszutreten. Hinten die Verfolger, vorne der Abgrund des Meeres. Wohin noch? Das ist die zugespitzte Bedrängnis, die den Gebetsschrei des Menschen geradezu her¬auspresst – aber zugleich in ihm auch dem Vertrauen in den Gott aufhilft, der allein jetzt noch retten kann.

Dass es dann aus solcher Ausweglosigkeit doch noch weitergeht, das kann man nicht anders benennen als Wunder. Und Israel hat folgerichtig seine Rettung am Schilfmeer als die Wundertat Got¬tes schlechthin erzählt: dass sich dort im Meer, wo sonst bloß Unheil dräut, auf einmal ein Weg auftut; dass sich, wo mir sonst das Wasser bis zum Hals reicht und höher, gangbare Pfade zeigen. Und dass bei diesem Durchgang durch das scheinbar Ungangbare alles hinter mir versinkt, was mich geängstigt, bedroht, versklavt hat, das wird ein jeder, der auf seiner Lebens- und Freiheitssuche einmal so weit gekommen ist, immer wieder nicht anders als ein Wunder erleben. Das ist die Grunderfahrung aller, die aus innerstem Antrieb um ihrer selbst willen den Einbruch einer Lebenskrise auf sich zu nehmen wagen im Akt des Gottvertrauens. Deshalb konnte, was Israel einst am Schilfmeer geschichtlich auf einmalige Weise widerfuhr, zum zeitüberdauernden Sinnbild der Rettermacht Gottes werden.

VI
Unter schier hoffnungslosen Bedingungen wagt der Sippenverband der Israeliten unter seinem charismatischen Führer Mose die Flucht aus dem hochzivilisierten Land der Ägypter, in dem sie – die einfachen Nomaden – als Zwangsarbeiter und Sklaven verheizt wurden. Wider alles Erwachen gelingt die Flucht, begleitet von spektakulären Umständen, die das Volk nur noch als rettendes Eingreifen Gottes deuten und verstehen kann. Doch jetzt, da sie endlich die ersehnte Freiheit erreicht haben, entdecken sie etwas gänzlich unerwartetes: dass die Freiheit, die erträumte, dass sie etwas ganz Nüchternes und dass sie anstrengend ist, so wie wenn einer durch die Wüste zieht mit all den Beschwernissen, die sich dabei einstellen. Übrigens genau dies erlebten damals die Bürger der ehemaligen DDR und die Völker Osteuropas, die das Joch des Kommunismus abgeschüttelt hatten. Und prompt geschah damals (und manchmal bis heute), was auch mit Israel geschah und immer in einer solchen Situation zu geschehen pflegt: Die Leute fangen zu schimpfen an, mehr noch: Viele sehnen sich in die alten Verhältnisse zurück, die einst so verhassten. Ja, verklärt wird das Frühere geradezu: Wären wir doch in Ägypten geblieben, als wir an den Fleischtöpfen saßen – als ob sich Zwangsarbeiter und Sklaven je an Fleischtöpfen hätten laben können! Aber so ist die Menschenseele: Vor der Aufgabe der Freiheit wählt sie am liebsten die Unmündigkeit wieder.

Gott freilich kennt die Seinen. Darum ist er seinem Volk ob dieser Revolte nicht gram. Er lässt – so erzählt das Buch Exodus – Brot vom Himmel regnen, das Manna: übrigens eine ganz natürliche Sache. Noch heute sondern auf der Sinaihalbinsel Tamarisken nach dem Stich einer Blattlaus einen Saft ab, der schnell erstarrt, zu Boden fällt und knusprig schmeckt. Den aus dem Nildelta kommenden Israeliten war das unbekannt gewesen, so dass sie diese wunderbare Speisung in der Wüste nicht anders verstehen können als Ausdruck der Sorge Gottes um sie. Und wie auch anders sollten sie verstehen, dass sie in der Not und Bedrängnis immer wieder noch einmal auf absolut unerwartete Weise gerettet werden. Manna, wörtlich manhu, Was ist das?, fragten sie staunend in der Wüste damals. Manna – das ist Sinnbild der Fürsorge Gottes für den Menschen, der in die Freiheit zu leben anfängt, dass er nicht Angst bekommt vor ihr.

VII
Sobald wir wahrgenommen haben, dass wir – sozusagen auf den Schultern des Exodus-Volkes – existentiell selbst nichts anderes sind als Flüchtlinge, die nach einer Bleibe suchen, wo es sich leben und wohnen lässt, und uns nach der Freiheit sehnen, werden wir auch mit anderen Augen auf die schauen, die jetzt als Flüchtlinge zu uns kommen. Vielleicht kommt uns da dann ein staunendes „manhu“ auf die Lippen, ein „Was ist das?“, von dem wir auf einmal merken, dass es uns, wenn wir es denn annehmen, stark macht und fähig, in eine Zukunft auszuschreiten, die wir bislang noch gar nicht im Blick hatten. Die Exodus-Geschichte als Leiterzählung unserer Kultur ist noch immer unverbraucht. Ohne sie wären die großen Revolutionen des 18. Jahrhunderts in Europa und Amerika nicht denkbar gewesen, denen sich die Freiheitsrechte der abendländischen Kultur verdanken. Deswegen kann uns diese Geschichte auch heute Weggeleit geben. Heute vielleicht unmittelbarer als je zuvor.