Die Heilige Woche der Philosophen

Türangel der Welt

Karfreitag C

I

Es flackern die Lichter
schon auf in der Stadt,
die Sonne glüht rot.
Und da man dich, Christus,
gekreuzigt hat,
ist Gott nun tot.
Kyrie, eleison.

II
Nach dem II. Vatikanischen Konzil ging man daran, alle liturgischen Bücher neu zu fassen, auch das Brevier, das Stundengebet der Diakone und Priester. In der ersten Version, der Studienausgabe, mit der man Erfahrungen sammeln wollte mit neuer Sprache und erneuerten Formen, da gab es für die Vesper der Passionszeit auch eben jenen Hymnus, dessen erste Strophe ich soeben zitierte. Es ging auch das Gerücht um, Heinrich Böll habe ihn verfasst. Ein paar Jahre später, in der endgültigen Neufassung des Breviers, war der Hymnus sang- und klanglos verschwunden. Da hatte wohl jemand Anstoß genommen an diesen „ist Gott nun tot“, sich an ein erzbischöfliches Telefon gehängt und dafür gesorgt, dass dieser vermeintliche Skandaltext aus dem Stundenbuch ausgemerzt wurde.

Wie kleingeistig das gedacht war, ergibt sich allein schon daraus, dass die Rede vom Tod Gottes uralt ist, nämlich auf den ausgesprochen konservativen Kirchenvater Tertullian im zweiten nachchristlichen Jahrhundert zurückgeht. Dann natürlich der lange fälschlicherweise Luther zugeschriebene, aber in Wirklichkeit von Johannes Rist stammende Liedvers:

„O große Not! Gott selbst ist tot. Am Kreuz ist er gestorben; hat dadurch das Himmelreich uns aus Lieb erworben.“1

Und von Hegel schließlich stammt die sprachliche Neuschöpfung „spekulativer Karfreitag“. Dahinter steht ein Gedanke, der den jungen Tübinger Philosophen, der jetzt in Jena lehrte, in Bann schlug: dass das Geheimnis des Kreuzes so etwas wie das Gerüst eines großen Teils der modernen Philosophie darstelle. Die Rede vom Tod Gottes steht dabei symbolisch für den Glutkern dieser Überzeugung, also für den Gedanken der Kenosis, der Selbstentäußerung Gottes in Christus „bis zum Tod am Kreuz“, wie Paulus das im Philipperbrief sagt. Ein Gedanke, der das Gottesbild der jungen christlichen Gemeinde radikal von dem der alttestamentlichen Traditionen, aber auch den Göttergeschichten der Griechen unterschied, weil es mit einer radikalen Entsakralisierung und Verfinsterung des Göttlichen einhergeht. Damit hat Hegel zwei große christliche Wahrheiten zum Vorschein gebracht: zum einen den Aufprall, ja die Wucht des Kreuzes – das nicht loszuwerdende Moment von Dunkelheit, des Abgrunds des Todes, ohne die alle Hosanna und Halleluia leer blieben, ja lächerlich und verlogen. Und die zweite Wahrheit besteht in der Entdeckung, dass Gott selbst extrem ist, maßlos im sich Entäußern wie in seinem Überschwang und dass die menschliche Vernunft nicht der Maßstab dieser Maßlosigkeit sein kann, sondern dass sie sich ihrerseits dieser göttlichen Maßlosigkeit beugen muss.


III
Weil aber Hegel überzeugt ist, dass die gesamte Wirklichkeit von der Vernunft durchherrscht ist und aus einer absoluten Vernunft, also aus Gott hervorgeht, muss alles, was wirklich ist, das Stigma des Karfreitags tragen, weil es untrennbar zu diesem Gott gehört. Und so wandelt sich für ihn das historische Golgota in den spekulativen Karfreitag. Hegel erlebt das Grundgefühl des modernen Menschen, von Gott verlassen zu sein, Gott verloren zu haben, weshalb ihn umso mehr die eigene Endlichkeit und das eigene Ichsein schmerzt. Niemand kann sagen, woher er kommt und wohin er geht und nicht einmal Liebende können einander die Treue versprechen. Der längst schon eingesetzt habende Zerfall des Vernunftoptimismus der Aufklärung kann gar nicht anders als mit dem Dunkel des Karfreitags in Verbindung gebracht zu werden. Für Hegel – wie später auch für Gianni Vattimo – besteht zwischen der christlichen Botschaft und dem Gang des abendländischen Denkens eine intime Familienähnlichkeit, die man nicht auf Punkt und Komma fixieren kann, die aber immer wieder aufblitzt, im Kleinen individueller Biographien nicht anders als im sozialen Feld, also auch in Gesellschaft, Staat – und, ganz wichtig – in Kirche. Deshalb schreibt Hegel dem spekulativen Karfreitag universale Geltung zu (und – das nebenher – was „spekulativer Karfreitag“ kirchlich bedeuten kann, erleben wir in unserer katholischen Glaubensgemeinschaft momentan live).

Gegen Ende seiner Schrift Glauben und Wissen von 1801 verleiht Hegel dem erstmals mit jener sprachlichen Neuschöpfung vom spekulativen Karfreitag Ausdruck.

„Der reine Begriff aber (…) als der Abgrund des Nichts, worin alles Seyn versinkt, muss den unendlichen Schmerz, der vorher nur in der Bildung geschichtlich und als das Gefühl da war, worauf die Religion der neuen Zeit beruht, das Gefühl: Gott selbst ist todt, dasjenige, was gleichsam nur empirisch ausgesprochen war (…) rein als Moment (…) der höchsten Idee bezeichnen, und so dem, was etwa auch entweder moralische Vorschrift einer Aufopferung des empirischen Wesens (…) war, eine philosophische Existenz geben, und also der Philosophie die Idee der absoluten Freyheit, und damit das absolute Leiden oder den spekulativen Charfreytag, der sonst historisch war, und ihn selbst, in der ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit wiederherstellen, aus welcher Härte allein, weil das Heitre, Unergründlichere und Einzelnere der dogmatischen Philosophien, sowie der der Naturreligionen verschwinden muß, die höchste Totalität in ihrem ganzen Ernst und aus ihrem tiefsten Grunde, zugleich allumfassend, und in die heiterste Freyheit ihrer Gestalt auferstehen kann, und muß.“2

Ich weiß, das sind schwierige Zeilen, besser konnte Hegel das damals noch nicht sagen. Aber mit diesen Zeilen tastet sich der junge Philosoph an die Grundwahrheit des Glaubens heran, die wir heute feiern. Er sagt sich: Wenn Gott so ist, wie die Evangelien verkünden, und wenn alles, was ist – jedes Menschenleben und jede Kreatur – aus diesem Gott hervorgeht, dann trägt alles auch die Signatur dieses Gottes, zu der die radikale Kenosis gehört. Und nur wo diese Selbstentäußerung in ihrer ganzen Härte anerkannt und gelebt wird, kann es so etwas wie ein Auferstehen geben, ein Auferstehen in die „heiterste Freyheit“, wie Hegel eigens vermerkt. Deswegen ist der heutige Tag für die Gläubigen nicht einfach nur das Gedenken an ein einmaliges Geschehen längst vergangener Zeit, sondern Feier eines Lebens, das von einem Gott kommt, in dem selbst der Tod seinen ihm gehörenden Platz hat.

IV
Nachdem Hegel in der Kenosis des Logos den Schlüssel für Welt und Geschichte gefunden hatte, entfaltete er in großen Zügen sein denkerisches System gemäß dem kreuzeslogischen Schema von „Entfremdung – Versöhnung“. Er hat buchstäblich in seinem Denken das Kreuz und den Gekreuzigten zum archimedischen Punkt gemacht, von dem aus sich das ganze Universum hochheben lässt. Nicht zufällig kommt das ganz besonders gegen Ende seiner späten Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse von 1830, einem Begleitbuch zu seinen Vorlesungen, zum Ausdruck, wo uns Hegels Denken in seiner reifsten Form begegnet. Von einer seiner ersten Veröffentlichungen bis zum Spätwerk hat er den Gedanken durchgehalten, dass der Tod Gottes am Kreuz der Angelpunkt ist, um den sich alles dreht – und dass dazu untrennbar gehört, dass es sich um einen schändlichen Tod, eine mors turpissima handelt. Denn erst so wird die ganze Ungeheuerlichkeit der Rede vom Logos des Kreuzes greifbar. Freilich hatte Hegel in seinem genialen Jugendwerk Phänomenologie des Geistes von 1807 bereits den spekulativen Karfreitag ausführlich beschrieben: dass der Mensch zur Wahrheit, zu seiner Wahrheit erst gelangt, wenn er alle Vorstellungen, auch seine Vorstellungen von Gott preisgibt, diese also sterben, und wenn er seine eigene Sterblichkeit und Endlichkeit anerkennt – und auch die Endlichkeit allen religiösen Tuns. Darum hat der spekulative Karfreitag nicht nur mit der Wahrwerdung des Menschen, sondern mit der Gottwerdung Gottes im strengen Sinn des Wortes zu tun. Verrückter Weise erblickt Hegel das reinste Vorausbild für das Aufscheinen der Gotteswahrheit durch die Menschwerdung in der griechischen Komödie – und zwar genau in dem Akt, da der Schauspieler die Maske fallen lässt und damit das bisher szenisch ins Bild Gebrachte auf den Darsteller selbst buchstäblich übergeht. Manche Autoren vergleichen das mit dem Zerreißen des Tempelvorhangs im Augenblick des Todesschreis Jesu: Jetzt ist klar, wer Gott ist und wer der Mensch ist. Und da sieht man: Das Allerheiligste ist leer, leer in dem Sinn, dass da nichts ist, was man begreifen, besitzen, verstehen kann. Aber das ist auch der Anfang der Freiheit. Selbst der berüchtigte Otto Weiniger meinte kurz vor seinem Suizid, am Karfreitag, dem Tag des Freikaufs und der Erlösung des Universums, bringt sich alles wieder ins Gleichgewicht. Oder mit einem Wort Hans Urs von Balthasars wiederholt:

„Gott ist derart lebendig (derart Liebe), dass er es sich leisten kann tot zu sein.“3

V
Einige seiner Zeitgenossen standen in dieser Theologie des Karfreitags Hegel in nichts nach, trieben sie bisweilen ins Extreme vor, so etwa ein Johann Georg Hamann oder ein Franz von Baader. Hamann, Freund und Kritiker Kants tut das dergestalt, dass er das Anstößige des Karfreitagsgeschehens in einer Ästhetik und Poetik des Lächerlichen inszeniert und damit den Kern des Wortes vom Kreuz gleichsam im Akt des Redens Wirklichkeit werden lässt. Und Franz von Baader, ein Jahrhundert später, verweigert sich genauso der spekulativen Durchdringung des Karfreitags und gibt stattdessen seinen einschlägigen Gedanken eine theosophische Wendung: Die vierteilige Form des Kreuzes erinnert an die pythagoreische Tetraktys, das pythagoreische Quadrat, das die Quelle ewigen Lebens symbolisiert, nicht weniger als an das kosmische Weltkreuz, wie es in Platons Timaios auftaucht – alles Gedanken, die darum kreisen, dass und warum der Karfreitag sich nicht auf ein einmaliges Geschehen beschränkt, sondern tiefen Einfluss auf das menschliche Denken und seine universale Vielgestalt nimmt. Und bei zwei jüdischen Märtyrinnen werden sich diese Gedanken schließlich zu einer regelrechten Kreuzeswissenschaft fügen: bei Edith Stein und Simone Weil.
Edith von Stein erfährt, wie hinter dem Leiden ein Sinn aufzuleuchten beginnt, „weil man im Leiden Kraft von Gott empfängt“. Der Sturz ins Nichts erweist sich als Sturz auf Gott zu. Die „tiefe, schreckliche und überaus schmerzliche Zerstörung der natürlichen Erkenntniskraft“ macht die Seele bereit für „die erhabene, fremdartige Berührung der göttlichen Liebe“. Gerade hier überwindet Gott von sich aus den für den Menschen unüberwindlichen Abstand und blendet die innere Wahrnehmung mit einem „Strahl der Finsternis“. Der Mensch muss begreifen, dass der schmerzvolle Weg notwendig war, um von allen Hindernissen geleert schließlich nicht Gott zu begreifen, sondern von Ihm ergriffen zu werden. Die Seele hat nichts mehr selbst zu tun, sondern nur noch in Empfang zu nehmen. Doch die Freiheit wird nicht aufgehoben, im Gegenteil: „Gott wirkt nur darum hier alles, weil sich die Seele Ihm völlig übergibt. Und diese Übergabe ist die höchste Tat ihrer Freiheit.“4
Und Simone Weil sieht den Menschen ausgespannt zwischen der Schwerkraft seiner ihn nach unten ziehenden Lebenstendenzen und der ihn nach oben ziehenden Gnade Gottes. Wenn sich die Seele auch nur einen Augenblick lang diesem Ziehen nach oben hingibt und ihm nachgibt, ist sie mit Gott vereint. Aber dann kommt es:

„Und ist sie dann völlig ein Ding geworden, das nur ihm angehört, so verlässt er sie. Er lässt sie ganz allein. Und nun muss die Seele ihrerseits, doch in einem blinden Tasten, die unendliche Dichte von Zeit und Raum durchmessen, auf der Suche nach dem, den sie liebt. So legt die Seele nun in umgekehrter Richtung den Reiseweg zurück, auf dem Gott zu ihr gekommen ist. Und dies ist das Kreuz.“5

Wenn es Stunden in unserem Leben gibt, die sich anfühlen, als hätte uns Gott verlassen oder wir hätten ihn verloren, und wenn wir dennoch in diesem Dunkel festhalten an ihm, dann sind wir auf dieser Reise unterwegs.


1Zit. Nach Jüngel. Eberhard: Gott als Geheimnis der Welt. 83ff.
2Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Jenaer kritische Schriften. Hamburg 2015. 413-414.
3Balthasar, Hans Urs von: Pour vous qui est Jésus-Christ? Zit. Nach Tilliette, Xavier: La settimana dei filosofi. 2.ed. Brescia 2003. 79-80.
4Stein, Edith von: Kreuzeswissenschaft. Sämtliche Werke I. Freiburg-Basel-Wien 2003.145.
5Weil, Simone: Schwerkraft und Gnade. München 1989.