Priesterliche Stilkunde

Predigt zum 50. Priesterjubiläum von Helmut Heiserer, gehalten in Abwesenheit von Prof. Dr. Dr. Klaus Müller

16. Sonntag C: [Gen 18, 1-10a + 2 Kor 5, 14-20 + Joh 13, 1-15]

I
Du wirst Dich natürlich nicht mehr daran erinnern, Helmut. Aber wir sind uns vor 47 Jahren zum ersten Mal begegnet. Gerade mal drei Jahre warst Du damals im priesterlichen Dienst, ich war noch Schüler. Es war bei einer Fortbildung für Jugendleiter oben im Michael-Buchberger-Zentrum. Ich habe gestaunt, wie Du mit deinen Händen alles wie selbstverständlich getan hast: Schreiben, gestikulieren, zelebrieren, essen. Und einen 5er BMW hast Du auch gesteuert.

Wenig später bist Du als Leiter des St. Vincent-Heimes mit den Kindern und Schwestern dort Teil unserer Pfarrgemeinde St. Anton geworden. Wir kamen immer wieder ins Gespräch, weil ich selbst auf dem Weg ins Priesterseminar war. Dabei hast Du mir auch erzählt, wie das für Dich damals war. Denn Deine Anfänge als Theologiestudent und Priesteramtskandidat fielen ja mitten in die Zeit des II. Vatikanischen Konzils. Und die Priesterweihe empfangen hast Du mit einer der ersten Generationen nach dem Konzil.

II
Wer damals nicht als Erwachsener dabei war, kann heute kaum mehr nachempfinden, was das für katholische Christinnen und Christen bedeutete. „Aggiornamento“ – „Verheutigung“ – hieß das große Leitwort, das Papst Johannes XXIII. selbst ausgegeben hatte. Er wollte die Fenster der Kirche öffnen, um sie vom Muff der Blockaden vergangener Jahrzehnte seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu befreien, um wieder eine Brücke zu schlagen zwischen katholischer Kirche und der Kultur der modernen Welt. Die Aufbruchstimmung, die dabei aufkam, erfasste alle Bereiche des kirchlichen Lebens und der Theologie – und auch die Frage, was denn eigentlich ein Priester sei.

III
Das sich wandelnde Verständnis des Priesterseins schlug sich damals am unmittelbarsten in dem nieder, was Neupriester auf ihr Primizbildchen schrieben. Auf dem Deinen stand nicht: „Zum Priester geweiht“ oder „Ins kirchliche Amt erhoben“ oder „Zum heiligen Dienst berufen“, wie man das vorher manchmal lesen konnte und übrigens heute wieder. Auf Deinem Bildchen stand – zum Missfallen des Regens, also des Leiters der Priesterausbildung: „Für das Volk Gottes als Priester eingesetzt“. Was so viel heißt wie: Da kommt keiner daher, der ab jetzt etwas Besseres ist, herausgehoben gegenüber den anderen Gliedern der Kirche. Sondern da ist einer, der sich für die Kirche in Dienst nehmen lässt. Für die Kirche, dieses wandernde Volk Gottes, das wie einst Israel auf dem Wüstenzug seinen Weg durch diese Welt immer neu suchen muss, Fortschritte macht, Rückschritte erlebt, manchmal voller Freude ist, manchmal zaudert oder einfach Angst hat. Und der, der da zum Dienst für dieses Volk Gottes eingesetzt ist, ermutigt, treibt an, mahnt und tröstet.

IV
Zu diesem Priesterbild, das alle sakrale Überhöhung abgeschüttelt hat und alles klerikale Gebaren meidet, passt auch der biblische Primizspruch, den Du Dir ausgewählt hast. Er stammt aus dem 13. Kapitel des Johannes-Evangeliums, der Erzählung von der Fußwaschung am Gründonnerstagabend. Dein Spruch lautet:

„Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe.“ (Joh 13,15).

Im Blick auf die Frage der priesterlichen Existenz, ist diese Fußwaschungsgeschichte eine schiere Provokation. Denn da ist mit keinem Wort die Rede von Berufung zu Höherem, zu Elitenbildung, gar zu irgendetwas, das mit Macht zu tun hätte. Da geht es auch nicht um Einsetzung von Sakramenten, sondern – um das Dienen. Jesus, den die Jünger „Herr und Meister“ nennen, kniet nieder und übt an seinen Freunden den Dienst aus, den sonst der Haussklave zu verrichten hatte, wenn Gäste zum Essen kamen: Er musste ihnen an der Tür den Staub von den Füßen waschen, bevor sie sich zu Tisch legten – im Grunde der niedrigste Dienst im Haus.

Man muss sich – manchmal gegen innere und äußere Widerstände – immer neu klarmachen: Eben das, dieses Dienen ist das Zentrum des Gründonnerstagsmahles. Jesus füllt das uralte Zeichen der jüdischen Pesach-Feier – das geteilte Brot und den geteilten Wein – mit diesem Gestus des Dienens. Oder anders gesagt: Das Dienen macht nun die Wirklichkeit, die Substanz der rituellen Zeichen aus. Und das ist der tiefste Wurzelgrund der christlichen Eucharistiefeier bis heute.

V
Von Anfang an hat die Theologie um die Frage gerungen, was es denn bedeute, dass Jesus Brot und Wein segnet, beides den Jüngern reicht und sagt: Nehmt und esst, das ist mein Leib, nehmt und trinkt, das ist mein Blut – oder zusammengefasst: Nehmt, das ist mein Leben. Nehmt es in euch hinein, damit ihr ganz mit mir verbunden, ja mehr noch, dass ihr in mir seid und darum seid, wie ich bin. In der mittelalterlichen Theologie hat man dafür den Begriff „Transsubstantiation“ geprägt. Der klingt im ersten Moment abstrakt, trifft aber die Sache sehr genau, wenn man ihn richtig versteht. Übersetzt bedeutet er „Wesensverwandlung“ und meint: Wer so handelt wie der in der Fußwaschung dienende Jesus, wird in seinem oder ihrem Wesen verwandelt. Nach außen mag sie oder er wie der alte Mensch aussehen – wie Brot und Wein auf dem Altar äußerlich unverändert scheinen. Aber das Wesen, das Eigentliche ist anders, ist neu geworden. Und der Grundtenor dieses Neuen ist das Dienen, das sich in konkretester Wirklichkeit ausdrückt, am meisten im Dienst an den Schwachen, den zu kurz Gekommenen oder – wie in Deinem Fall, Helmut – den Kindern, die es schwer hatten im Leben von Anfang an und denen Dein ganzer Dienst galt. Wer Priester wird, tut nichts Anderes, als sich zu allererst selbst in diesem Sinn verwandeln zu lassen und andere einzuladen und ihnen zu helfen, selbst in diesen Prozess der Wandlung hineinzufinden.

VI
So ist in der Tat die Fußwaschung so etwas wie das allererste Richtmaß priesterlicher Existenz. Das hatte man damals in der Konzilszeit nach langem Vergessen wiederentdeckt, und man hat auch gemerkt, wie viel Fremdes, ja Verzerrendes sich um den Kern des eigentlich Priesterlichen gelegt hatte: die klerikale Überhöhung der Person, alte Opferideologien, sogar heidnische Reinheitsvorstellungen, auch die Zölibatsverpflichtung für alle. Deshalb hat man damals all diese Dinge kritisch diskutiert.

Zu meinem Dienst an der Universität gehört auch, immer wieder an Priesterfortbildungen mitzuwirken. Und jedes Mal erlebe ich: Die Priester, die jetzt ihr 50-Jähriges feiern oder ihr 45-Jähriges wie Pfarrer emeritus Dr. Anton Hierl, denen ist genau all dies immer noch gegenwärtig. Und sie leiden darunter, dass viele – nicht alle – von den deutlich Jüngeren das anscheinend wieder vergessen haben. Anders kann man sich den seit Jahren wiederkehrenden Klerikalismus nicht erklären, der – das muss man eingestehen – überdies durch das vorletzte und letzte Pontifikat von Johannes-Paul II. und Benedikt dem XVI. kräftig Rückenwind erhielt. Manche Eminenz und manche Exzellenz tritt heute wieder auf wie einst die Fürstbischöfe in der Zeit vor der Reformation, bisweilen Seit an Seit mit den „Von-und-Zus“ von anno dunnemals. Vor allem der unsägliche Kardinal Müller, der mit der T und T Gloria rumturtelt und dem Steve Bannon, diesem schwarzen Exberater von Trump den Hof macht. Und der eine oder andere Pfarrer kopiert das dann im Kleinformat.

Karl Marx schrieb einmal:

„Hegel bemerkt irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Thatsachen und Personen sich so zu sagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als große Tragödie, das andre Mal als lumpige Farce.“1

Damals zur Zeit der Reformation war der Klerikalismus die Tragödie. Was den Neo-Klerikalismus in der Kirche betrifft, befinden wir uns derzeit in der zweiten Phase, derjenigen der lumpigen Farce. Weil das kein Mensch mehr ernst nehmen kann, wenn ein kirchlicher Amtsträger, egal auf welcher Ebene, mit autoritären Machtallüren daherkommt – und das noch dazu in einer Kirche, die durch ihre jahrhundertelange unkontrollierte Machtausübung nicht nur Menschen gegängelt und schikaniert hat – übrigens am meisten im Schlafzimmer –, sondern auch noch den giftigen Boden für schändlichen Missbrauch, geistlich wie körperlich, bereiten half.

Expapst Benedikt XVI. wollte ja vor wenigen Monaten den sogenannten Achtundsechzigern wegen ihrer angeblich so laxen Moral und ihrer Zeitgeisthörigkeit die Schuld für alle Missstände der Kirche von heute in die Schuhe schieben – den 68er-Priestern und 68er-Theologen, also Deiner Generation, Helmut. Das war nur noch peinlich, höchst peinlich – und zum Fremdschämen. Was Ratzinger, der einst mein verehrter Lehrer hier war in Regensburg, einzig vor dieser Schande rettete, wäre, dass seine römischen Hofschranzen das zusammengestopfelt haben aus Erinnerungsfetzen des 92-Jähirgen, um erneut gegen Papst Franziskus zu polemisieren. Schande über sie!

Hätte Benedikt nur geschwiegen, wie er es sich eigentlich beim Rücktritt vorgenommen hatte. Denn seine eben erwähnte Verlautbarung war ein Schlag ins Genick derer, die mühselig daran arbeiten, die verlorene Glaubwürdigkeit unserer Kirche wiederzugewinnen, denn die ist echt im Keller: Der jüngste sogenannte Gemeinwohlatlas, der das Ansehen von Institutionen in der Gesellschaft auflistet, deckt es auf: Platz 1 – Feuerwehr. Platz 10 – Caritas. Platz 19 – Evangelische Kirche. – Katholische Kirche: Platz 102. 102 von insgesamt 137. Hinter uns kommt dann der Deutsche Fußball-Verband. Kommentar erübrigt sich.

VII
Lieber Helmut, Du hast mir erzählt, dass Ihr damals in Deinem Weihekurs einen Faschingsabend gemacht habt unter dem Motto „Wir sitzen zwischen zwei Stilen“ – dem Stil der Zeit vor und dem Stil der Zeit nach dem Konzil. Rückblickend könnt Ihr Euch glücklich schätzen, dass ihr gleich zwei Stile wenigstens in Reichweite hattet. Denn ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass ein Teil der jüngeren Priesterschaft von heute gar keinen Stil mehr hat. Intellektuell nicht, geistlich nicht, menschlich nicht.

Umso mehr sei Dir gedankt, Jubilar Helmut, dass Du über ein halbes Jahrhundert Deinen Stil gepflegt hast und ihm treu geblieben bist, dem Stil des Dienens im Denken, Reden und Handeln, der so vielen Kindern und Menschen gutgetan hat. Gott vergelt es Dir!


1Marx-Engels-Gesamtausgabe, Abteilung I. Band 11, S. 96.