Himmlische Spurenlese
17. Sonntag A: Mt 13, 44-46
I
Die meisten Theologinnen und Theologen sind sich einig: In den Gleichnissen der Evangelien gelangen wir am dichtesten in die Nähe der Predigt Jesu, gehalten sicher auf aramäisch, geschöpft meist aus dem täglichen Berufsleben von Fischern, Bauern, Handwerkern und Kaufleuten. Doch trotz dieser Nähe fällt es manchmal gar nicht so leicht, das Schöne, oft auch Befreiende dieser Worte aus Jesu Mund wirklich wahrzunehmen, weil die Bilder, die da aufgerufen werden, oft querstehen zu unseren spontanen Erwartungen. Das ist so ähnlich wie bei Johannes Brahms. Der stand eines Tages in Köln auf der Domplatte und fragte einen Passanten, wo es denn da zum Dom gehe. – Sie stehen davor, mein Herr, antwortet der. – Brahms darauf: Ach, den habe ich mir aber größer vorgestellt.
II
Ich denke, es braucht ein besonderes Sensorium, um von Jesu Gleichnissen berührt oder gar getroffen zu werden – vielleicht kann man sagen: Es braucht eine Bereitschaft, sich stören, manchmal sogar verblüffen zu lassen – und zwar einfach deswegen, weil es da um das Reich der Himmel geht, das eben nicht von dieser Welt ist, wie der johanneische Jesus in der Passionsgeschichte des vierten Evangeliums sagt.
Reich Gottes ist der Name für das, was geschieht, wenn nichts mehr zwischen Gott und einem Menschen steht. Wenn der es darum wieder aushalten kann mit sich und anderen, wenn er trotz manch Bitterem und Schwerem irgendwie froh sein und getröstet seine Tage leben kann. Wer wünschte sich das nicht?! Wie finden wir dieses Gottesreich? Jesus sagt:
Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Schatz, der in einem Acker vergraben war. Ein Mann entdeckte ihn, grub ihn aber wieder ein. Und in seiner Freude verkaufte er alles, was er besaß, und kaufte den Acker. Das Reich Gottes – heißt das – ist ein Glücksfall. Man kann es nicht machen, schon gar nicht herbeizwingen, etwa politisch. Man kann es nur finden. Aber: Es liegt schon bereit. Mitten im Ackerfeld unseres Lebens, etwa wenn mir eines Tages aufgeht, dass – wie die Heilige Teresa von Avila gesagt hat – tatsächlich Gott allein groß genug ist, das Suchen und Sehnen unserer Menschenseele auszufüllen: Dio solo basta. Das Gottesreich kommt uns im Grunde auf halbem Weg entgegen. Und wenn ich es gefunden habe und voller Freude bin darüber, werde ich mich um diesen Schatz kümmern – im Grunde alles daransetzen, was ich habe, um ihn für mich und für immer zu gewinnen. Das ist dann die zweite Hälfte des Weges sozusagen, die ich selber einzubringen habe. Freilich könnte eine, einer den Schatz auch liegenlassen. Gezwungen wird niemand.
So ist es auch mit dem Gottesreich: Es kommt nicht von oben, von außen zu unserem Leben hinzu. Wir finden es im Leben selber und an ihm. Wie auch anders! Das Gottesreich entdeckt, wer anfängt, die vielen Spuren der Güte und Sorge Gottes um ihn in seinem Werktag zu entdecken. Dass ich in der Früh wieder aufwache; dass mir der erste Kaffee schmeckt, manchmal – so sei’s denn – auch die erste Morgenzigarette; ein blauer Himmel – oder auch das Rauschen des Regens, ein Lächeln von jemand, ein gutes Wort, ein Essen, das mir mundet, ein Sonnenuntergang, der Sternenhimmel, die Ruhe der Nacht. Alles Dinge, die wir nicht selbst machen und uns verdanken – die uns, wenn wir sie denn wahrnehmen, geschenkt sind, geschenkt sozusagen als Fußspuren des Gottes, der durch mein Leben geht.
III
Wer diese Spuren wahrnimmt, die oder den werden sie zu dem Schatz führen. Wird staunen über den, der all das gibt, wird ihm danken dafür – und hat damit angefangen, das Gottesreich zu finden. Denn er wird gewiss werden, in der Hand dessen geborgen zu sein, der ihm alles gönnt und es gut mit ihm meint.
In solchen Gleichnissen konnte Jesus nur sprechen, weil er ihn selbst gefunden hatte – in den Stunden seines einsamen Betens, am Sabbat in der Synagoge, bei den Festen im Jerusalemer Tempel. In dem Augenblick, da ein Mensch eben dieses Geheimnis Gottes – sein Glücksfall zu sein – mit allem ergreift, was ihm zu Gebote steht, – in diesem Augenblick hat für diesen Menschen das Gottesreich angefangen, Wirklichkeit zu werden. Gerade so, wie Gott von Anbeginn das traute Zueinander zwischen sich und seinem Werk gedacht hatte: dass wir Verängstlichten, ja menschlich gesehen zufälligen Wesen vertrauensvoll mit der Gewissheit leben: da ist einer, dem ich mich verdanke, weil er mich grundlos – aus Liebe – gewollt hat; einer, der mich darum auch trägt im Hier und Jetzt meines Daseins, auch und gerade in dem, was über mein Verfügen hinausgeht; einer schließlich, in dessen bergende Sympathie einmal auch alles zurückfallen wird, was ich auf Erden gelebt habe und gewesen bin – einer also, der mir Grund gibt zu glauben, es sei gut, dass es mich gibt, und der mir dadurch auch die Größe schenkt, das auch einem oder einer anderen an meiner Seite zu sagen und so für ihn und sie so etwas wie ein kleiner Widerschein dessen zu werden, der hinter uns allen steht. Sind wir alle nicht ein ganzes Leben lang wie Kaufleute, die in der Unüberschaubarkeit der Welt und ihrer Reichtümer nach eben einem solchen Schatz suchen, der uns mehr als alles andere bedeutet? Mit Sicherheit werden wir bei dieser Suche zwischen Sand und Steinen so manche wertvolle Perle finden, über die wir glücklich sind: Gesundheit und ein langes Leben, die Liebe eines Menschen, das Gelingen eines Werkes, das Bestehen großer Not und mehr noch, was uns zutiefst am Herzen liegt. Und doch findet unser Sehnen – wenn wir es denn nicht zuschütten – bei all dem nicht wirklich Ruhe, bis es die eine Perle, die kostbarer ist als alle anderen, entdeckt hat. Und dann geht der Kaufmann hin, verkauft alles, was er besitzt, und kauft die eine – so ist es mit dem Himmelreich, sagt Jesus, so ist es, wenn du Gott gefunden hast. Er macht die anderen Perlen darob nicht wertlos. Im Gegenteil: hat er dir doch auch diese anderen geschenkt. Aber wenn du ihn als den größten Schatz deines Lebens gefunden hast, wirst du bewahrt bleiben davor, eines anderen Güter für dich zum Ein und Alles zu machen – und dadurch zu klein von dir denken: Keine Frage dann auch – nebenbei bemerkt –, dass es für diesen oder jene ein freudiges und darum zutiefst menschliches Verzicht-Tun geben kann auf einen Schatz, den er ergreifen könnte, aber nicht ergreift, weil solcher Verzicht auf geheimnisvolle Weise dem Gewinn des Größeren und Größten dient. Doch wehe, man versuchte aus dem, was immer und nur dem Einzelnen unverfügbar und für andere unbegreifbar möglich ist, ein ehernes Gesetz für alle zu schmieden, wie es durch die Umwandlung des geistlichen Rates der Keuschheit in das Zölibatsgesetz geschehen ist.
Was für ein Gott, der des Menschen Glücksfall sein will! Und was für ein Bote dieses Gottes, der durch seines eigens unverstelltes Reden und Sein und Tun uns bezeugt und beglaubigt, dass Gott wirklich so ist – am allermeisten dort, wo wir gar nicht mehr glauben können, dass es Glück auch für uns noch soll geben können, wenn wir am Boden sind.
IV
Die große polnische Poetin Wislawa Symborska hat einmal die Gegenwart des Gottesreiches in ein Gedicht gebracht, das den schlichten Titel Himmel trägt. Ein paar Zeilen daraus, gleichsam als kleinen geistlichen Reiseproviant für die Ferienwochen:
So hätte man anfangen sollen: Himmel.
Ein Fenster ohne Brett, ohne Rahmen, ohne Glas.
Eine Öffnung und sonst nichts,
doch weit offen.
Ich muss nicht auf die klare Nacht warten,
auch nicht den Kopf heben,
um den Himmel zu betrachten.
Himmel hab ich im Rücken, zur Hand und auf den Lidern:
Himmel umhüllt mich
und hebt mich vom Boden.
Selbst höchste Berge
sind dem Himmel nicht näher
als tiefste Täler.
Nirgendwo gibt es mehr von ihm
als anderswo.
[…]
Schüttere, fließende, felsige,
feurige und flügge
Himmelstriche, Himmelkrumen,
Himmelshauch und Himmelshäufung.
Himmel ist allüberall,
selbst im Dunkeln unter der Haut.
Wenn Gott wirklich alles in allem ist, wie uns nicht wenige Große aus den Welttraditionen der Weisheit und des Denkens nahelegen, dann kann auch die Spurensuche und das Finden des Himmelreichs so schwer nicht sein.