Freiheit und Unterscheidung

4. Fastensonntag C: Jos 5, 9a.10-12

I
Biblisch gesehen hat die ganze Fastenzeit ein einziges Leitthema: Exodus, Auszug, Aufbruch. Und es sind Sonntag für Sonntag dieser vierzig Tage die Lesungen aus dem Alten oder Ersten Testament, die unsere Aufmerksamkeit auf dieses Grundmotiv ziehen: Am ersten Fastensonntag hat uns die zusammenfassende Retrospektive des seinem Tod entgegengehenden Mose damit vertraut gemacht. Am zweiten Fastensonntag sind wir in den Erzählungen vom Aufbruch der Abrahamssippe sozusagen an den allerersten Anfang des Exodus geführt worden, der ja gar nicht ein singuläres Geschehen war, eben der uns so vertraute Auszug aus Ägypten, sondern in Wirklichkeit aus einer ganzen Kette solcher Ausbrüche und Aufbrüche besteht, die es eben nicht nur vor der ägyptischen Episode gab, sondern genauso nachher – Stichwort Rückkehr aus Babylon – und die, wenn man diese Geschichten theologisch-geistlich liest – sich fortsetzen bis in unsere Gegenwart. Denn – so hatten wir gesehen – was täte mehr not als ein Aufbruch aus den individuellen, den kulturellen, den politischen Gefängnissen und Entfremdungen, in die wir verstrickt sind und die uns manchmal derart umklammern, dass wir uns gar nicht vorstellen können, was denn Freiheit bedeuten könnte: Freiheit von dem Immer-mehr, Immer-besser, Immer-schneller, bis wir nicht mehr können.

II
Solcher Gegenwarts-Exodus tut nicht nur uns als Einzelnen und in menschlich-geistlicher Hinsicht not. Auch die Kirche als Ganze bedarf seiner – das erfahren wir seit Jahren und besonders in den letzten Monaten durch die entsetzlichen Dinge, die im Gange der Missbrauchsdebatte zu Tage kamen und kommen. Wenn die Kirche unter Führung ihrer Verantwortlichen nicht das Ägypten ihrer Machtansprüche und moralischen Überheblichkeiten verlässt – und zwar bald verlässt –, kommt es zur Kernschmelze. Lassen Sie mich die Notwendigkeit solch kirchlichen Aufbruchs und Auszugs sehr drastisch an einem Beispiel klarmachen: Seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts hat das katholische Lehramt drei große Kriege um das Schlafzimmer, also die Sexualität der Gläubigen geführt: Zuerst den Krieg um die künstliche Verhütung, die Pille unter Papst Paul VI., dann den Krieg um das Kondom in Zeiten der flächenbrandmäßigen Verbreitung von Aids unter Johannes-Paul II. und schließlich besonders im Pontifikat Benedikts XVI. der irrwitzige Umgang mit dem Phänomen der Homosexualität – der sich umso skurriler ausnahm, je mehr klar wurde, wie viele der eigenen Amtsträger darin involviert waren und sind. Das jüngst erschienene Buch Sodoma des französischen Autors Frédéric Martel schockiert diesbezüglich selbst die abgebrühtesten Kirchenkenner und -kennerinnen. Alle drei Kriege hat das Lehramt verloren. Die Konsequenz kann nur heißen: Exodus – Lehramt, Bischöfe, Priester raus aus den Schlafzimmern und die eigene Schuldgeschichte, genährt durch moralische Überheblichkeit und klerikale Machtallüren, endlich aufarbeiten. Vergleichbares wäre über das Verhältnis von Kirche und Geld zu sagen, aber ein Beispiel mag genügen. Das war der zweite Fastensonntag.

III
Auch die erste Lesung des dritten Fastensonntags steht ganz im Bann des Exodus-Motivs, und zwar mehr als alle anderen alttestamentlichen Lesungen der fünf Fastensonntage, weil sie uns die wunderbare Geschichte vom brennenden und doch nicht-verbrennenden Dornbusch erzählt, wo Mose – gestärkt von der Offenbarung des rätselhaften Gottesnamens „Ich-bin-der-ich-bin-da-für euch" – den Auftrag erhält, Israel in die Freiheit zu führen.

Gegenüber dieser biblischen Spitzengeschichte – unzählige Male in Theologie, Philosophie, bildender Kunst, Theater und Musik meditiert –, gegenüber dieses Kleinod der jüdischen Tradition nimmt sich unsere heutige kurze erste Lesung aus dem Buch Josua regelrecht profan, ja beinahe langweilig aus. Denn da wird eigentlich nur erzählt, dass Israel nun in das verheißene Land eingezogen ist, das Pascha feiert und dann erstmals von den Früchten dieses Landes, seiner neuen Heimat isst. Dass ab diesem Tag das Manna, diese wunderbare Gottesgabe während des Wüstenzuges, ausbleibt, ist das sinnenhafte Zeichen dafür, dass Gott nun sein Volk in die Freiheit und Selbstständigkeit entlassen hat.

IV
Mehr wird da gar nicht erzählt, aber was dabei unausgesprochen mitschwingt, das hat es in sich. Und man kommt dem nur nahe, wenn man sich ein wenig auf große Theologien des Alten Testaments einlässt. Alle bedeutenden einschlägigen Autoren kommen nämlich darin überein, dass Israel zwar einen Schatz religiöser Überlieferungen mitgebracht hat, aber auch, dass diese Traditionen, die Gebete, Rituale und Feste beim allmählichen Einsickern der wandernden Nomadenstämme in das Gebiet der sesshaften Einwohner mit der dortigen kanaanäischen Religion untrennbar verwoben und dann von Generation zu Generation bei aller Treue zum Hergebrachten umgeprägt wurden. Es hat lange gedauert, bis der Gott Jahwe vom Dornbusch zum Gott Israels geworden ist. Zunächst begegneten da im gelobten Land die kanaanäischen Wallfahrtsheiligtümer, in deren Umfeld die Feste gefeiert wurden und auch Gemeinschaft gepflegt wurde – gerade so wie einst bei den Kirchweihfesten im Christlichen oder beim Send in Münster, als sein religiöser Hintergrund noch nicht vergessen war. Einer der Großmeister der Alttestamentlichen Theologie, Gerhard von Rad, sagt das so:

„Was lag da näher, als dass sie (die Eingewanderten) wohl an diesen Heiligtümern ihren angestammten Kult fortsetzten, dass sie aber doch mehr und mehr in die Vorstellungswelt des betreffenden Kultorts hineinwuchsen. Ganz unbefangen verbanden sie ihren Kultstifter und Offenbarungsempfänger mit dem Kultort, d.h. die Gestalten Abraham, Isaak und Jakob verwuchsen unversehens mit den ursprünglich kanaanäischen Kultlegenden.“1

Da ist nicht nur das Zentralheiligtum des Jerusalemer Tempels buchstäblich Äonen entfernt. Vielmehr wird da an diversen Orten der Fruchtbarkeitsgott Baal verehrt. Dort gab es auch die Tempelprostitution, in der die heilige Hochzeit zwischen Baal und Erde menschlich nachvollzogen wird, um Anteil am fruchtbaren Segen dieses Gottes zu erhalten. Roh behauene Steinsäulen, wie man sie heute noch etwa in Arad oder im Israel-Museum in Jerusalem sehen kann, vielleicht sogar verbunden mit der Phallussymbolik, waren die Kultbilder. Und so, wie es neben Baal eine Göttin Astarte gab, so gab es neben Jahwe lange Zeit – als seine Gemahlin – die Aschera.

Israel hat angesichts dieser unumgänglichen Inkulturation lange gebraucht, um das spezifisch Eigene seines Jahweglaubens Stück für Stück wirklich zu entdecken. Aber je mehr das geschah, desto mehr stellte sich heraus, dass die Landnahme mit einer Krise verbunden war. Und das kam dadurch zum Ausdruck, dass Israel bei aller Nähe zur kanaanäischen Kultur nicht die Erdverbundenheit der Alteinwohner teilen konnte. Das Buch Levitikus bringt das später auf den Punkt, wenn dort dem Volk von Gott gesagt wird:

Mein ist das Land, ihr seid nur Fremdlinge und Beisassen – oder modern gesprochen – Halbbürger bei mir. (Lev 25,23)

Anders gesagt: Ohne Exodus und Fremdsein geht es nicht, nicht einmal im gelobten Land.

V
Und das nun beinahe Verrückte an der ganzen Sache: Dieses bleibende Fremdsein auch noch im gelobten Land drückt sich genau in dem Medium aus, aus dem ich vorhin im Blick auf den zweiten Fastensonntag mein vielleicht schockierendes Beispiel gewählt hatte. Es drückt sich aus im Medium des Geschlechtlichen, dem Mysterium der Sexualität. Denn bei allen Übernahmen aus dem Kanaanäischen hat Israel die dort übliche Vergöttlichung der Sexualität nicht übernommen. Je länger, je mehr erkennt Israel: Sein Gott steht jenseits der geschlechtlichen Polaritäten und Sexualität hat nichts mit Sakralität zu tun und mit Kult oder Reinheit, sondern ist ein Element des Geschöpflichen, das dem Menschen anvertraut ist und für das er keine heiligen Regeln und Riten und Mystifikationen braucht. Da war Israel einige Zeit nach der Ankunft im gelobten Land, also sagen wir: vor etwa 3200 Jahren – deutlich weiter als das katholische Lehramt der letzten 250 Jahre und auch ein Gutteil des weltweiten Episkopats von heute.

Israel hat sich auf die bestehenden Lebensordnungen seiner neuen Heimat eingelassen. Und es musste das ja auch tun, weil es, nunmehr sesshaft geworden, andere Lebensregeln brauchte als in der Zeit der jahrzehntelangen nomadischen Wanderschaft. Aber gleichzeitig ist der Jahweglaube noch mehr als bisher zu sich selbst gekommen. Das Besondere dabei zeigt sich darin, dass bei aller Nähe zur umgebenden Kultur der für diesen zentrale Zug des Magischen nahezu völlig fehlt – Magie im Sinn eines beeinflussen Wollen der Gottheit, um sie den eigenen Bedürfnissen dienstbar zu machen. Da bricht das uralte Freiheitspathos durch, das alle Auszüge und Aufbrüche Israels seit Abraham durchherrscht: das freie Zueinander von Gott und Volk, das sich unter dem Vorzeichen der wechselseitigen Treue immer neu verwirklicht. Und deswegen trat Stück für Stück an die Stelle des in Kanaan verbreiteten magischen Verständnisses von Schuld der Gedanke der sittlichen Verantwortung des Einzelnen.2

VI
Und an dieser Stelle frage ich mich – mit meinem Beispiel von vorhin, den drei verlorenen Kriegen ums Schlafzimmer, und Israels profaner Auffassung des Geschlechtlichen im gelobten Land im Rücken, – da frage ich mich: Wäre das, was da in Kanaan geschieht, nicht auch ein Modell für heute, was das Verhältnis der Kirche zur Sexualität betrifft? Dass sie sich zuerst einmal unaufgeregt auf Kulturen von heute mit ihren gewandelten Auffassungen von Beziehung, Liebe und Geschlecht einlässt und nicht sofort mit Vorwürfen, Anklagen und moralischen Verurteilungen reagiert. Und, dass sie dann die eigene Sicht der Dinge, wie das Zusammenleben von Partnern im Licht des Gottesgedankens und der mit ihm verbundenen Zusage der Treue zu uns zur Sprache bringt. Aber dies eben nicht befehlend, warnend, verbietend, den diesbezüglich schon zur Abfassungszeit völlig überholten Katechismus der Katholischen Kirche in der Hand, sondern einladend und werbend, gerade so, wie man jemandem einen schönen Ring auf einem Samttüchlein präsentiert – und den Ring dem oder der anderen eben nicht mit Gewalt über den Finger presst. Oder anders gesagt. Auch in Sachen Sexualität bleibt gültig, was als das Grundwort der Paulinischen Verkündigung gelten kann. Dieses Grundwort heißt nicht „Du musst“, sondern „Du bist“. Und so wie du bist, hat Gott dich gewollt. Denn gerade dieser hochsensible Bereich der menschlichen Beziehungen mit ihren leiblichen Dimensionen bedarf der Freiheit wie wir die Luft zum Atmen. Israel hat das schon mal vorgelebt. Dann sollte es der Kirche doch auch möglich sein.


1Rad, Gerhard von: Theologie des Alten Testaments. Bd. I: Die Theologie der geschichtlichen Überlieferungen. 6. Aufl. München 1969. 33.
2Vgl. Rad, Gerhard von: Theologie des Alten Testaments (Anm. 1). 48.