Den Grundriss richtig verstehen

5. Sonntag C: Lk 5,1-11


I
Lassen Sie mich mit einer alten Geschichte beginnen, deren Herkunft ich erst später verrate: Ein weiser König hatte in der Hauptstadt seines Reiches einen riesigen Palast von ganz besonderer Architektur errichten lassen. Sonderbar war das Gebäude, weil sein Äußeres so ziemlich allen üblichen Regeln der Baukunst zuwiderlief – aber der Palast gefiel den Leuten dennoch, weil innen überall Licht und Zusammenhang da waren, auch wenn das Äußere unerklärlich blieb.

Vor allem über die zahllosen kleinen und großen Türen und Fenster in den Mauern erregten sich Baufachleute. Und so entstand ein heftiger Streit unter ihnen. Was ihn besonders anheizte: Man fand eines Tages verschiedene alte Baupläne, die von den Baumeistern selber stammen sollten - und in den Grundrissen waren uralte Worte und Zeichen eingetragen, die keiner mehr so richtig verstehen konnte. Ein jeder erklärte sich deshalb diese Worte und Zeichen nach eigenem Belieben. So kam es, dass sich viele aus den alten Grundrissen einen neuen zusammensetzten.

Eines Nachts schrien die Wächter plötzlich: Feuer! Feuer ist im Palast. Jeder fuhr von seinem Lager auf – aber nicht, um löschen zu helfen, sondern um seinen Grundriss zu suchen. Den nahmen sie, liefen auf die Straße hinaus und fingen über den Plänen zu streiten an, wo denn nun der Palast eigentlich brenne. Hier steht er in Flammen, rief der eine. Nein, wo denkst du hin, entgegnete ein zweiter, genau auf der anderen Seite brennt er. Löscht, wo ihr wollt, warf ein dritter ein, ich lösche hier nicht, wo ihr wollt. Und ich nicht, wo du willst, darauf ein vierter. Über dem Streit hätte der Palast denn auch abbrennen können – wenn er gebrannt hätte. Aber die Wächter hatten in ihrem Übereifer ein Nordlicht für eine Feuersbrunst gehalten.

II
Die Geschichte hat nicht irgendein Schreiberling sich ausgedacht, geschweige denn ich selbst. Nein, es war Gotthold Ephraim Lessing, der einst den Streit der Konfessionen um das rechte Wesen der Kirche solcher Art karikierte. Von ihr – dem seltsamen Palast – gibt es alte Pläne. Aber die Worte und Zeichen, die darin eingetragen sind, versteht keiner mehr so recht. Daher deutet sie ein jeder, wie er will – und am Ende kommen lauter verschiedene Grundrisse heraus. Die schlagen sich dann die Leute – die Fachleute zumal – um die Ohren. Und bräche wirklich einmal ein Brand aus, das Gebäude würde über dem Gezänk glatt niederbrennen. Was Kirche ist und sein sollte – darüber wird heute genauso gestritten wie zu Lessings Zeiten. Aber nicht mehr nur zwischen den Konfessionen, sondern innerhalb der Kirchen selbst auch noch. Lauter verschiedene Pläne werden hochgehalten und gegeneinandergesetzt: Wanderndes Volk Gottes sei die Kirche, sagen die einen. – Ein Organismus aus Haupt und untergeordneten Gliedern, erwidern die andern. – „Mysterium“ müsse sie wieder werden, fordern ein paar Hinterbänkler in Rom. – Alternative Gesellschaft könne und müsse sie sein, entgegnen andere. Was jetzt? Ist Kirche eines davon, alles zugleich oder gar nichts? Es wird wohl gut sein, wenn wir da nicht bloß die Linien auf den Plänen anschauen, das Sichtbare an der Kirche. Die alten Worte und Zeichen, die dort in der Sprache des Neuen Testaments eingetragen sind, sie wollen auch beachtet sein. Dann erst werden wir die Pläne richtig verstehen können.

III
Den Grundriss der Kirche nicht verfehlen – genau darum geht es in dem heutigen Evangelium. Mit großer geistlicher Feinfühligkeit redet uns Lukas in diesen Versen nämlich von der Kirche so, dass ihr eigentümlicher Charakter von Wort und Geste des irdischen Jesus her aufleuchten. Für die geistlichen Augen des Evangelisten spiegelt sich in der Szene am See Genesaret letztendlich schon die ganze innere Grundverfassung der späteren Kirche.

Da sind zunächst einmal Jesus und das Volk, das Gottes Wort hören will. Von ihm, dem lehrenden Herrn, erwarten die Menschen dieses Wort von oben, – Wort also, von dem sie sich Aufschluss erhoffen über ihr Leben und seine beirrenden Rätsel. In nächster Nähe sieht Jesus dabei Fischer, die ihre Netze reinigen. Die Männer glauben, für heute sei die ganze Arbeit schon getan. Sie bittet er, ein Stück mit dem Boot abzulegen. Und von dort, von jenseits des Ufers lehrt er nun – visionäres Sinnbild für das, was später einmal geschehen wird. Christus, der vom Gegenüberliegenden der Menschenwelt sein Wort den Seinen zuspricht und sich dabei von Menschen helfen lässt. Das wird gleichsam die Achse sein, um die herum die Kirche aufgebaut wird. Damit aber keiner diese Grundlinie missversteht, trägt Lukas sogleich Worte und Zeichen Jesu ein, wie das Mittun der Menschen im Heilswerk der Kirche allein vor sich geht.

Jesus fordert Simon und seine Freunde auf, noch einmal auf den See zu fahren und die Netze auszuwerfen. Die ganze Nacht hindurch – also in der günstigsten Zeit für den Fischfang – hatten sie keinen Erfolg gehabt. Und jetzt in der Tageshelle, wo es erst recht nichts werden kann, da sollen sie noch einmal ausfahren. Ein sinnloses Unterfangen. Das sagt der nüchterne Simon auch geradeaus. Doch er fügt hinzu: Weil du es sagst, werden wir die Netze nochmals auswerfen. Obwohl ihm verrückt vorkommen muss, was Jesus ihm sagt – er hört dennoch auf ihn. Genau das – will uns Lukas sagen – ist das Erste für jeden, der bei der Verkündigung des Evangeliums mithelfen will: Dass er zuerst sich selber Jesu Wort anvertraut, und nicht dem eigenen Kalkül von Nutzen und Zweck, selbst wenn er es gut meint. Denn gerade im menschlich Aussichtslosen – gerade in ihm – will Gottes Wirken Wunder tun. Die christliche Widerstandsgruppe, die gewaltlos und mit Geduld aus Glauben Symbole des Widerstands setzt gegen Projekte politischen oder wirtschaftlichen Größenwahnsinns, – sie tut nichts Vergebliches. Ein Pfarrer, der unbeirrbar seiner Gemeinde geistliche Brunnen schlägt, der sich dabei durch nichts entmutigen lässt und nicht auf den Erfolg schielt – er wird Menschen in das Geheimnis Gottes einführen, nicht der, der mit ein paar flotten Bonmots schnelle Sympathien erheischt.

Immer dort, wo Menschen um Gottes Willen Dinge tun, die sich in Menschenaugen nicht auszahlen – dort zuerst bricht Gottes Reich auf. Das ist Gottes Art – und wir ahnen dabei etwas von der Unbezahlbarkeit der Gnade. Das ist der ganzen Kirche seit dem Fischfang des Petrus und seiner Gefährten ins Stammbuch geschrieben.

Petrus hat dabei spontan erkannt: Was Menschen auf Jesu Wort hin und in seiner Kraft zu wirken vermögen, kann nicht anders als Wunder heißen. Er fällt vor dem Herrn nieder und bekennt sich als Sünder. Damit gibt er kund: Was durch ihn geschieht und später erst geschehen wird, verdankt sich nicht seiner Größe und seinem Vermögen. Im Gegenteil: Im Glanz des Wunders der Gnade sieht er schärfer denn je, was er selber ist – und bleibt: ein Mensch mit Fehlern und Schwächen, der trotz seiner Nähe zum Herrn mit Gott und dem Glauben auch weiter seine Not hat. Aber: gerade als diesen Simon holt ihn Jesus in seinen Dienst. Er verheißt ihm nicht: Du wirst nicht mehr sündigen, sondern: Von jetzt an wirst du Menschen fischen – als der, der du bist. Fürchte dich nicht! Gott will sein Reich gerade durch das Durchschnittliche, Normale ins Werk setzen – durch schuldgefährdete Menschen. Das ist das zweite Urzeichen im Grundriss der Kirche, ohne das wir den ganzen Bau missverstehen müssten. Urzeichen, das den Simon und seine Gefährten fast erschreckend staunen lässt, weil Gottes Wirken ihnen in ihrem ureigenen Lebensbereich so direkt begegnet.

Und jetzt erst geschieht das eigentliche Wunder des heutigen Evangeliums: Es besteht nicht in dem reichen Fischfang. Es besteht darin, dass sich Simon und seine Freunde wirklich nicht mehr fürchten, dass sie tatsächlich die Boote an Land ziehen, alles zurücklassen und ihm nachfolgen. Sie wagen den apostolischen Dienst um des Reiches Gottes willen. Wort und Zeichen Jesu haben diesen Neuanfang gewirkt. Ihm verdanken sich Glaube und Kirche im Ganzen. Vom Hören auf Jesu Wort wider alles Scheinen und Vermeinen zehren sie – und davon, dass Gott uns auch noch als Sünder brauchen kann. Das heißt nicht, wir könnten darauf sündigen und tun, was wir wollten, weil´s Gott schon wieder richten wird. Aber es bedeutet: dass das Werk der Gnade durch keine Schuld vereitelt wird. Wir Christinnen und Christen dürfen unser Versagen als Kirche – egal auf welcher Ebene – niemals beschönigen oder umlügen ins Gegenteil. Aber wir brauchen uns auch niemals zu ängstigen, Schuld und Sünde könnten den Aufbruch des Reiches Gottes endgültig zum Erliegen bringen. In düsterer Zeit hat die Gnade, wenn es darauf ankam, sogar an der Kirche vorbei – und gerade so noch einmal auf sie bezogen – ihren Weg zu den Herzen der Menschen gesucht. Und gefunden. Seit Jesu Wort und Zeichen damals auf dem See sind wir dessen gewiss.

IV
Es tut uns gut, manchmal so wie heute mit dem Evangelium auf den Grundriss der Kirche zu schauen und die Zeichen zu entziffern, die dort eingetragen sind. So laufen wir nicht mehr so leicht Gefahr, die sichtbaren Linien der Kirche misszuverstehen und umzudeuten nach eigenem Geschmack. Horchen auf Jesu Wort – ihm gehorchen, ob es mir passt oder nicht. Und: nie vergessen, dass ein jeder in der Kirche immer und immer wieder der Vergebung bedarf: auch der Papst und der Bischof, der Kaplan und der Religionslehrer – je mehr einer Verantwortung trägt in der Kirche, desto mehr. Und Ihnen allen gilt das genauso wie mir, weil auch Ihnen durch die Taufe der Dienst des Zeugnisses – also der Verkündigung – übertragen ist. Hören und mit Vergebung beschenken lassen – wenn wir auf diese Zeichen im Grundriss der Kirche achten, werden wir auch die sichtbaren Linien der Kirche nicht mehr zu wichtig nehmen. Dann würden wir nicht mehr nur auf sie starren, sie weder heruntermachen noch künstlich hinaufjubeln. Wir würden begreifen, dass sie bald so aussehen oder so, wie es eben gerade nötig ist. Und vor allem: würden wir beginnen, auf Jesu Wort zu vertrauen so, wie es uns das Evangelium zuspricht und würden wir uns ernstlich als vergebungsbedürftige Sünder bekennen, dann könnten wir unter unseren eigenen Händen die Wunder Gottes geschehen lassen. Sie wären nichts anderes als konkrete Aufbrüche der Gnade, die ein hartes Herz wieder empfindsam macht oder tiefe Kluften zwischen Menschen schließt. Ich verbürge mich dafür. Wir bräuchten sie noch viel mehr. Dann fingen wir an, Kirche zu werden. Ich weiß: Dass es schön sein kann, Kirche zu sein und in ihr zu leben, das ist vielen – viel zu vielen – aus oft schwerwiegenden Gründen fremdgeworden. Es könnte uns wieder vertraut werden, wenn wir nicht müde würden, die alten Baupläne der Kirche immer neu zu entziffern. So wie jetzt.