Ein überraschend fürsorglicher Kentaur
Zusammenfassung:
Vorstellung eines neuen Münztyps aus Aigeiai in Kilikien aus dem
Jahr 217/218 n. Chr. Die Rückseite zeigt den Kentauren Chiron,
der den neugeborenen Asklepios hält. Das Motiv unterstützt den
Anspruch der Stadt, Geburtsort des Heilgottes zu sein.
Schlagwörter:
Aigeai, Kilikien, Kaiserzeitliche Lokalprägungen
Abstract:
Editio princeps of a coin struck in Cilician Aegeae in 217/218
AD. The reverse shows Chiron holding infant Asclepius and
supports the city’s claim to have been the birthplace of the
healing god.
Zufälle gibt’s! Erst wenige Wochen,
nachdem eine Münze der kilikischen Stadt Aigeai, die eine
Göttergeburt verkündet, einem breiten Publikum vorgestellt
worden ist[1],
taucht ein völlig neuartiges Münzbild aus dieser Stadt auf (Abb.
1), das dem gleichen Thema gewidmet ist.
Das früher vorgestellte Geldstück aus
einer Bronzelegierung wurde unter dem Kaiser Caracalla zwischen
November 216 und April 217 geprägt. Die Rückseite zeigt die
Stadtgöttin als Amme (τροφός)
des neugeborenen Heilgottes Asklepios. Auf diese Weise machten
die Aigeaten deutlich, dass der Heilgott auf ihrem Territorium
geboren worden war. Das Gewicht dieser Aussage ist nicht
geringzuschätzen, war doch Asklepios für die Gesundheit und das
Wohlergehen (Salus publica) des gesamten Römischen
Reiches verantwortlich[2].
Aigeai stellte sich damit als ›Heiliger Ort‹ dar, was sich auch
in dem vom Kaiser verliehenen Ehrentitel
θεοφιλής (griech. für »gottgeliebt«)
widerspiegelt.
Die hier nun vorzustellende Münze,
geprägt unter dem kurzlebigen Nachfolger Caracallas, Macrinus,
greift dieses Thema auf: Auf der Rückseite sieht man einen
bärtigen Kentauren mit ›Asklepiosfrisur‹[3],
der in seinem Arm ein Kleinkind hält und im Passgang nach rechts
schreitet. Genauso wie bei der Stadtgöttin hängt vom Arm des
Chiron, der das Kind hält, ein Stück Stoff herab – eine
Bildchiffre, die für Fürsorge stehen mag.
Die Vorderseite ist stempelgleich mit
einer bereits in einem Exemplar publizierten Emission des
Macrinus[4].
Die Verfasser des (ungedruckten) Auktionskataloges haben gute
Arbeit geleistet, indem sie die Münze der richtigen Stadt
zuordneten, das ungewöhnliche Bild richtig beschrieben und die
Legenden richtig lasen. Ihre zurückhaltende Lesung der
Reverslegende lässt sich getrost um ein initiales
MAKPЄINOVΠ(OΛЄITΩN) ergänzen – anders beginnende Reverslegenden
sind mir für dieses Prägejahr jedenfalls nicht bekannt, und es
wäre sehr erstaunlich, hätte man diesen prestigeträchtigen
Beinamen unterdrückt. Irgendwo im Feld steht schließlich noch
die Ärenangabe ΔΞC zu vermuten (Jahr 264 nach caesarischer
Gründung 47 v. Chr.). Offenbleiben muss einstweilen die sichere
Lesung der beiden Buchstaben, die sich am linken Vorderbein des
Kentauren zu befinden scheinen.
Eine neue Bildschöpfung?
Nachdem Apollon – sei es durch einen
operativen Eingriff, sei es durch die Hilfe des Hermes[5]
– das Asklepios-Baby aus dem Leib der von Artemis getöteten
Koronis gerettet hatte, gab er den Säugling in die Obhut des
weisen Kentauren Chiron[6].
Man könnte meinen, dass der Gestalter unseres Münzbildes genau
diesen Moment einfangen wollte: So fürsorglich hält und
betrachtet der Kentaur das Kleinkind.
Obwohl Kentauren ein beliebtes Sujet
in verschiedenen antiken Kunstgattungen waren und es auch an
Bildern und Plastiken des Chiron nicht mangelt, findet sich eine
dem Münzbild vergleichbare Bildkomposition weder bei Madeleine
Gisler-Huwiler noch bei Bernard Holtzmann oder Georg Morawietz[7].
Die Übergabeszene des Achill an Chiron auf der sog.
Tensa
Capitolina hat zwar mit unserem Münzbild
gemeinsam, dass der Kentaur das Kind im Arm hält, lässt aber
jede Innigkeit zwischen den beiden vermissen, da weder die
Körper noch die Gesichter zueinander ausgerichtet sind[8].
Gisler-Huwiler versammelt immerhin einige Szenen aus der Paideia
der anderen Schützlinge des Chiron, namentlich Achill und
Herakles[9].
Besonders die Erziehung des Achill war ein beliebtes Sujet.
Vermutlich aus diesem Grund wurde ein kaiserzeitliches
Sarkophagfragment, einen männlichen Torso darstellend, in dessen
Armbeuge ein Kleinkind sitzt, das sich an ihm festklammert, als
»Chiron mit Achill?« angesprochen (Abb. 2). Mit der nun
vorliegenden Münze, bei der es zweifelsfrei ist, dass es sich
bei dem Kleinkind um Asklepios handelt, eröffnet sich die
Möglichkeit, dass auch der Sarkophag den jungen Heilgott im Arm
des Kentauren darstellt.
Wie mag es zu diesem Einfall
gekommen sein?
Um die Bildidee würdigen zu können,
muss man zunächst das Prägeprogramm der Stadt unter Caracalla
kursorisch betrachten. Vor allem in den Jahren 215–217
dominierte der Kult um den Heilgott Asklepios die Münzen von
Aigeai. Dies hängt zweifellos mit dem besonderen Interesse
zusammen, das Caracalla diesem Heilkult entgegenbrachte[10].
Wie schon erwähnt, durfte sich Aigeai als theophilès
bezeichnen und erhielt darüber hinaus das Privileg, sich
Antoninupolis zu nennen. Dieser Vorgang war eine regelrechte
Umbenennung, die einer Neugründung der Stadt gleichkam, wie sie
zuletzt von Julius Caesar vorgenommen worden war. Als nach außen
besonders wirksamer Ausdruck der kaiserlichen Zuneigung erhielt
Aigeai sogar die Erlaubnis, Silbermünzen zu prägen, die anstelle
des Kaiserbildes im Avers Asklepios zeigten.
Die Nähe zum Haus der Severer war mit
dem Antritt des neuen Kaisers, des einstigen
Prätorianerpräfekten des Caracalla, Macrinus, obsolet geworden.
Die überaus zahlreichen Münzen, die Aigeai unter seiner kurzen
Herrschaft prägte (innerhalb von 15 Monaten entstanden
mindestens 43 Münztypen), zeugen von einer gezielten
Neuausrichtung der Selbstdarstellung der Stadt. Das lässt sich
an zwei Aspekten besonders gut veranschaulichen. Erstens
verschwanden Brustbilder des Asklepios von den Vorder- und
Rückseiten der Münzen. Stattdessen treten mit Isis und Sarapis
andere Götter im Brustbild in Erscheinung, die ebenfalls als
Heilgötter fungieren. Nur ein einziges Mal erscheint Asklepios
selbst auf einer Münze: in seinem Tempel stehend, als kleine,
kaum identifizierbare Figur. Eine schlüssige Erklärung für
diesen Wandel bot bereits Ruprecht Ziegler an, indem er darauf
hinwies, wie eng der Asklepioskult mit Caracalla verbunden
gewesen war und wie stark das Bedürfnis gewesen sein musste,
sich von diesem verfemten Kaiser zu distanzieren[11].
Zweitens gibt es einen
bemerkenswerten Schwerpunkt in Bezug auf die Gründungsmythen
Aigeais: Erstmals wird der mit Alexander dem Großen verbundene
Gründungsmythos explizit von einem ingeniösen Münzbild erzählt[12].
Auch tritt die Stadtgöttin auf zwei Münzrückseiten in ihrer
Funktion als Amme des Asklepioskindes (trophós) in
Erscheinung. Insgesamt fällt auf, dass mehrere Bilder auf die
Eugeneia und die Archaiotes abzielen. Louis Robert wollte dieses
besondere Interesse an den früheren Stadtgründungen damit
zusammenbringen, dass Aigeai auch durch Macrinus eine
Neugründung erfuhr, indem es in Macrinupolis umbenannt wurde[13].
Wäre dies der Grund, so müsste dieses Interesse bereits unter
dem vorherigen Neugründer Caracalla (»Antoninupolis«) spürbar
geworden sein, was aber nicht der Fall ist. Stattdessen ist als
Auslöser zu bedenken, dass sich 217 das Jahr der Schlacht von
Issos (333 v. Chr.), auf die sich Aigeais makedonischer
Gründungsmythos bezieht, zum 550. Mal jährte[14].
Die mehrfache Verwendung des Kopfes Alexanders des Großen, wie
sie auch bereits 100 Jahre früher, im Jahr 117 vorkam, dürfte am
ehesten damit in Verbindung stehen.
Noch viel früher als die (angebliche) Alexandergründung muss sich die Geburt des Heilgottes in Aigeai ereignet haben. Die Amme dieses Götterkindes, die trophós Aigeai, erscheint 217 nicht nur einzeln im Standbild (Abb. 2), sondern spielt auch auf einer Münze eine Rolle, auf der sie den Kaiser, der Aigeai soeben als Macrinupolis neu gegründet hat, bekränzt[15].
Die hier vorgestellte Neuentdeckung
verbindet die für die kulturelle Identität der Aigeaten so
zentralen Elemente ›Heilkult‹ und ›Archaiotes‹ auf sehr
originelle Weise. Sie zeigt Asklepios, ohne dabei Assoziationen
an den Asklepiosverehrer Caracalla zu wecken, und verlegt eine
für die gesamte Oikumene bedeutende Göttergeburt auf das
städtische Territorium.
Die Bewohner von Aigeai mussten sich mindestens von November 216 bis November 217 gedulden, bis ihre Münzbeamten, nach dem Ammenbild aus dem Jahr 215/216, diese neue Variation zum Thema Göttergeburt in Umlauf gaben. Für uns im zeitlich und räumlich weit entfernten Mitteleuropa betrug die Wartezeit kaum mehr als vier Monate. Wir dürfen gespannt auf die nächsten Münzen sein, die uns Neues aus Aigeai und anderen Städten berichten.
[1] Haymann 2022.
[2] Winkler 1993, 173.
Vgl. Haymann 2014, 103. 162.
[3] Das lange Haar
leicht nach hinten gekämmt, ein theristrion noch
gerade erkennbar: Die unter dem späten Caracalla
geprägten Billon-Tetradrachmen (Haymann 2014, S. 395,
Nr. 110a, b) tragen im Avers Asklepiosbüsten mit diesem
Frisurentyp.
[4] Haymann 2014, 324,
Nr. 128b mit Abb. S. 397 (= SNG Levante Nr. 1746). Die
dort angegebene Averslegende ist zu korrigieren: CEVH
statt CEV. Revers: Leuchtturm, darauf Poseidon mit
Dreizack, links vor ihm Figur/Struktur (?); rechts
Segelschiff, darin ein Mann, den Gott grüßend, von links
Vorderteil eines weiteren Schiffs.
[5] Paus. 2,26,6. Vgl.
auch die Darstellung des von einer Ziege gesäugten und
von Hermes begleiteten Asklepiosbabys auf einer
Marmorscheibe bei Holtzmann 1984, 869, Nr. 7.
Möglicherweise liegt hierin der Grund für das einmalige
Auftauchen des Hermes auf einer Münzrückseite von Aigeai
aus dem gleichen Prägejahr. Bislang wurde dafür eine
»ephemere und tagespolitische Bedeutung« vermutet
(Haymann 2014, 206). Es ist das einzige Vorkommen dieses
Gottes auf Münzen der Stadt.
[6] Edelstein –
Edelstein 1998, II, 36–38. Die früheste Überlieferung
bei Pindar (Pyth. 3,1–58) und Pherekydes (schol. in
Pind. ad Pyth. 3,59).
[7] Morawietz 1998, 55
und 87 behandelt einige Münzbilder von Pergamon, auf
denen mehrere Kentauren gemeinsam mit Asklepios
vorkommen (Beispiele bei
Künker, Auktion 288 [13.03.2017] Nr. 681 oder
CNG, Electronic Auction 342 [14.01.2015] Nr. 412).
Hier scheint jedoch kein Bezug auf dessen Geburtsmythos
vorzuliegen.
[8] Die Innigkeit ist
wiederum auf einer Gemme gut eingefangen, die darstellt,
wie Chiron dem Achill die Lyra lehrt (https://arachne.dainst.org/entity/1229153),
doch umsorgt Chiron hier kein Kleinkind mehr.
[9] Gisler-Huwiler
1986, 242–246.
[10] Vgl. Nollé 1996
und 2003.
[11] Ziegler 2003,
130. Vgl. Haymann 2014, 109.
[12] Zur Erklärung des
Münzbildes mit einer Ziege, auf deren Gehörn Fackeln
angebracht sind, s. Haymann 2013.
[13]
Robert 1978, 150: »(quelque historien
local la fit-elle revivre en l’exaltant plus
particulièrement lorsqu’on dut parler beaucoup des
origines à l’occasion du nom de Macrinoupolis«.
Vgl. Haymann 2014, 110 f.
[14] Zur Bedeutung
›runder‹ Jubiläen in der römischen Kaiserzeit: Haymann –
Hellberg 2020.
[15] Haymann 2014, 112
und 325 Nr. 130. Ein anonymer Gutachter macht mich
darauf aufmerksam, dass sich erst im Jahr 218 die im
November 333 v. Chr. stattgefunden habende Schlacht bei
Issos jährte, da das Jahr Null aus der Zählung fällt.
Das ist rein rechnerisch korrekt. Es scheint aber ganz
so, als habe man in Aigeai dieses Ereignis inklusiv
gezählt, nach Art der Ärenzählung, also etwa ›Jahr 1 der
Schlacht bei Issos‹, beginnend im November 333 v. Chr.
(vgl. hierzu Leschhorn 1993, 7). Einen Hinweis darauf
bietet die Tridrachme, die bereits im Jahr 163 nach
Gründung durch Caesar (August 117 – Anfang November 117)
Alexander den Großen zeigt (Haymann 2014, Nr. 36). Das
wirkliche ›Alexanderjahr‹ scheint für Aigeai aber 164
(Nov. 117–118) gewesen zu sein, in dem Alexandermünzen
dann in größerer Zahl geprägt wurden.
Dieses Vorziehen von Feierlichkeiten
um ein Jahr lässt sich in der Antike regelmäßig
beobachten, vgl. Grant 1950, 10: »The Romans took a more
elastic view, according to which celebrations might
instead (or in addition) be held within the year
immediately preceding, as well as the year immediately
following, the anniversary day«. (Dort
auch, S. 4 Anm. 7 der Hinweis, dass besonders einem 550.
Jubiläum große Aufmerksamkeit sicher war).