Literary Studies and Praxis
Ingo
Irsigler
Kiel
Gerrit
Lembke
Kiel

Smart Science

Die Vortragsreihe »Vorlesung mal anders«

Am 10. Januar 2015 um 3:49 Uhr hat eine 17-jährige Schülerin aus Köln über den Nutzen der Schule getwittert: Sie könne eine Gedichtanalyse schreiben, habe aber »keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen«. Die Schülerin plädiert für eine praxisnahe, den ökonomischen Gegebenheiten des Lebens angepasste Schule, und als Beleg für die derzeitige Praxisferne führt sie ausgerechnet die Literaturwissenschaft ins Feld. 16.239 Twitterer haben diese Klage geteilt und 29.815 favorisiert, die Redakteure des Focus haben daraufhin die Versäumnisse ihrer eigenen Lehrer aufgezählt: keine Hauswirtschaftslehre, kein Möbelunterricht – und keine Anmachtipps.1 So unsinnig diese Diskussion insgesamt gewesen ist – der Hype darum blieb folgenlos und ist längst vorbei – sie hat offenbart, dass Gedichtanalyse so wichtig zu sein scheint wie ein abgerissener Knopf oder so lästig wie ein kippelnder Stuhl. Auch in den Medien haben viele auf den Tweet reagiert, sehr leidenschaftlich, in der Zustimmung ebenso wie in der Ablehnung. Selbst die Bundesbildungsministerin Johanna Wanka hat sich in die Diskussion eingeschaltet, ob wir in Zukunft neue Schulfächer brauchen: Mieten, Bankkonten, Bewerbungen anstelle von Barock, Bauhaus und Latein.2

Brauchen wir die Kulturwissenschaften und wenn ja, wozu?3 Ulrich Greiner hat in der Zeit vom 22. Januar 2015 ein Plädoyer für die Nutzlosigkeit der ›Orchideenfächer‹ gehalten. Diese Fächer würden lehren, was ›das Schöne sei‹, und das »Schöne kann man nicht begründen, es ist evident. Wer ihm begegnet, sieht sich überwältigt, er will davon erzählen.«4 Und so evident – wie das Schöne – sei auch der Wert der Kulturwissenschaften, von denen Greiner schreibt, sie müssten sich nicht erklären, sie stünden jenseits des ›ökonomischen Nützlichkeitsdenkens‹. Greiner hat Recht, wenn er die ästhetische Bildung als wesentlichen Teil philologischer Praxis versteht, Unrecht hat er allerdings, wenn er dem starken Rechtfertigungsdruck, unter dem Disziplinen wie die Literaturwissenschaft schon seit längerer Zeit stehen,5 ausweicht – und damit ein Kernproblem nicht in den Blick nimmt. Denn die Kulturwissenschaft hat unseres Erachtens weniger ein inhaltliches Legitimationsproblem als vielmehr ein Vermittlungsproblem: Die Notwendigkeit, sich beispielsweise mit fiktionalen Medien wie Literatur, aber auch Comics oder Film zu beschäftigen, liegt darin, dass sie uns etwas über die Kultur sagen, in der sie entstanden sind. Gesellschaftlich relevante Themen werden dort reflektiert, und Texte wiederum prägen gesellschaftliche Diskurse. Fiktionen sind Ausdruck einer »kulturellen Selbstverständigung«.6 Als »Gegenstände der kulturellen Selbstwahrnehmung und Selbstthematisierung« ermöglichen sie den Zugriff auf Themen und Diskurse vergangener Zeiten ebenso wie der Gegenwart.7 

Liegt die kulturelle ›Relevanz‹ solcher Forschung also eigentlich auf der Hand, so scheint eine Ursache ihrer öffentlichen Marginalisierung in einem Problem der externen Wissenschaftskommunikation zu bestehen. Während die Kluft zwischen Forschung und Vermittlung im angloamerikanischen Raum traditionell nicht so stark ausgeprägt ist, steht gerade die Geisteswissenschaft in Deutschland unter dem Verdacht, eine Elfenbeinturmwissenschaft zu sein. Für den Bereich der Philologie gesprochen: Obgleich fast jeder Bücher liest, sind literaturwissenschaftliche Bücher in Buchhandlungen praktisch nicht sichtbar, sie liegen irgendwo weit hinter den Straßenkarten (gibt’s die überhaupt noch?). Bestenfalls wenigen Intellektuellen wie Rüdiger Safranski gelingt es, einem größeren Publikum Aufmerksamkeit zu entlocken. Universitäre Veranstaltungsformen wie Tagungen oder Ringvorlesungen hingegen ziehen nur selten interessierte Studierende oder Fachfremde in größerer Zahl an – und zwar auch dort nicht, wo sich Wissenschaft mit der ›attraktiveren‹ Gegenwartskultur befasst. Liegt dieser Mangel an Resonanz am fehlenden Selbstbewusstsein der Fächer, der Frage nach der Relevanz der eigenen Forschung offensiv zu begegnen, oder leiden sie unter einem übersteigerten Selbstbewusstsein, das sie von jeglicher Erklärung, weshalb kulturwissenschaftliche Forschung notwendig ist, entbindet? Beides lässt sich in der aktuellen Debatte feststellen: Selbsterklärungsversuche und völlige Erklärungsverweigerung.

Es gibt, so lässt sich schlussfolgern, verschiedene Wege, die die Kulturwissenschaft einschlagen könnte. Der erste Weg besteht in einer Erhöhung der Exklusivität des Faches, pointiert gesprochen: (noch mehr) ›Terminologie wagen‹ und damit die Verständnisprobleme jenseits der universitären Fachgrenzen weiter erhöhen. Der zweite Weg besteht in einer Öffnung des Faches hin zum Populismus, was der Komplexität wissenschaftlicher Forschung nicht hinreichend gerecht werden kann. Beide Wege werden gegangen, für beide gibt es entsprechende Formate. Auf Science Slams wird leidenschaftlich popularisiert, werden wissenschaftliche Themen für ein größeres Publikum bierflaschentauglich gemacht, auf Konferenzen werden komplexe Forschungsthemen fachterminologisch erörtert – oft unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Dazwischen allerdings gibt es auch einen dritten Weg, den wir an einem Beispiel aus der Praxis vorstellen wollen: eine Literaturwissenschaft, die versucht, Forschung verständlich zu vermitteln, ohne dabei trivial zu sein – eine Wissenschaft, die die Universität als sozialen Lehr- und Lernraum versteht, der sowohl für Studierende als auch für NichtakademikerInnen attraktiv sein will; eine Wissenschaft, die schließlich die Bedeutung kulturgeschichtlicher und alltagskultureller Wissensbestände verdeutlicht und ihre RezipientInnen zur Reflexion über diejenigen kulturellen Güter anregt, die Teil ihrer Lebenspraxis sind.   

Vorlesung mal anders

Als wir 2011 die Vorlesung mal anders begannen, wollten wir unseren KollegInnen ein Fachbuch vorstellen. Im Februar des Jahres war der Sammelband Walter Moers’ Zamonien-Romane bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienen, an dem wir zusammen gearbeitet hatten, Ingo Irsigler als Autor, Gerrit Lembke als Herausgeber. Im Juli wollten wir das Projekt mit einer kleinen Präsentation abschließen. Wir hofften auf 20–30 ZuhörerInnen – und um sicherzustellen, letztlich nicht doch vor leeren Rängen zu sitzen, kooperierten wir mit dem AStA, druckten Plakate und informierten die lokale Presse. Dies führte dazu, dass wir den Raum schon eine halbe Stunde vorher räumen und umziehen mussten. Fünfzehn Minuten vor Beginn waren auch die 140 Plätze des neuen Hörsaals voll. Und der Hörsaal, in dem wir schlussendlich landeten, war, als der Doppelvortrag begann, mehr als gut gefüllt: 420 ZuhörerInnen, die im Hochsommer lieber eine literaturwissenschaftliche Buchvorstellung besuchten als im Garten zu grillen, im Meer zu schwimmen oder vor dem Fernseher zu sitzen (vgl. Abbildung 1).

Abb. 1: Ingo Irsigler bei der ersten Vorlesung mal anders im Juni 2011.

Als wir unseren Doppelvortrag beendet hatten, war uns klar, dass gerade etwas ganz Besonderes geschehen war, das wir wiederholen wollten. So begann das Projekt Vorlesung mal anders, das von 2011 bis 2014 ein Teil des akademischen Lebens der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel war und im November 2014 von PerLe (Projekt erfolgreiches Lehren und Lernen) als »innovativ und zukunftsweisend« ausgezeichnet wurde.8 Es lockte im Zwei-Wochen-Rhythmus zwischen 250 und 400 Studierende, MitarbeiterInnen und Kulturinteressierte in den Hörsaal und hat unseren Hochschulalltag maßgeblich geprägt.

Unserem Konzept lagen vier Imperative zugrunde, die das Gesamtprojekt wie auch die einzelnen Vorträge stets geleitet haben.

Sei mutig!

Vor einem bis zu 450-köpfigen Publikum zu sprechen, hat den ReferentInnen oftmals Mut abgefordert, insbesondere da diese – unserem ›mal anders‹-Plan entsprechend – NachwuchswissenschaftlerInnen waren: Während Vorlesungen in der Regel nur von Habilitierten gehalten werden, wollten wir dem akademischen Nachwuchs, also vor allem DoktorandInnen, eine Bühne bieten, um die eigenen Forschungen zu präsentieren und sich in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Vortragsstil zu üben. Eine größere Herausforderung noch als die Masse der ZuhörerInnen war deren heterogene Zusammensetzung: FachwissenschaftlerInnen sprechen in der Regel vor anderen FachwissenschaftlerInnen, manchmal auch vor Laien, aber selten vor einer großen Gruppe, die zugleich aus Experten und Laien besteht, und es ist kaum möglich, beiden Gruppen gleichermaßen gerecht zu werden. Die größte Hürde für alle ReferentInnen war es daher, die Inhalte für die Augen und Ohren der ExpertInnen so aufzubereiten, dass sie für die Laien verständlich sind, die KollegInnen sich aber dennoch ernstgenommen fühlen würden. Da an der Universität Reputation durch Titel und Experten erzeugt wird, haben Veranstaltungen von NachwuchswissenschaftlerInnen in der Regel einen schweren Stand. Zwar ist es ein wichtiges Schlagwort in Drittmittelanträgen, umso hinderlicher aber, wenn es darum geht, einen Hörsaal zu füllen, in dem nicht ProfessorInnen von aktuellen Ergebnissen berichten, sondern ›nur‹ deren DoktorandInnen. Den Respekt der ZuhörerInnen mussten die NachwuchswissenschaftlerInnen sich erst auf der ›Bühne‹ verdienen. Die Nachwuchsorientierung hat aber auch einen nicht zu unterschätzenden Vorteil: Die DoktorandInnen sind oft besser mit den Studierenden vernetzt, haben Zugang zu deren sozialen Netzwerken und können auf diese Weise die Veranstaltung unter den Studierenden publik machen.

Wir wollten die Vorlesung außerdem thematisch an den Interessen der Studierenden ausrichten: Wir haben jeweils zu Semesterende drei mögliche Themen zur Auswahl gestellt, die wir für umsetzbar hielten, und ließen die Studierenden online und in der Vorlesung selbst darüber abstimmen (vgl. Abbildungen 2 und 3).

Abb. 2: Online-Abstimmung über das Vorlesungsthema im Sommersemester 2013.

Abb. 3: Online-Abstimmung über das Vorlesungsthema im Wintersemester 2013/14.

Das Ergebnis waren Vorlesungsreihen zu Themen der Populärkultur: Action! – Kultserien – Bestseller & Blockbuster – Die fabelhafte Welt der Bücher – Mord & Totschlag – Ein Herz für Tiere – Parallelwelten. Diese Themen haben das Interesse der Studierenden gewonnen, sie in den Hörsaal gelockt und uns dann die Gelegenheit gegeben, über den einzelnen Gegenstand hinaus auch allgemeine Fragen der Text-, Film- oder Medienanalyse zu diskutieren. So konnte Manja Kürschner in ihrem Vortrag über True Blood etwa verschiedene Phantastik-Begriffe voneinander abgrenzen, konnte Ingo Irsigler in einem Vortrag über Walter Moers auch die Autorinszenierung Goethes zum Thema machen, konnte Eckhard Pabst in einem Vortrag über Stromberg über Authentizitätssuggestion in TV-Serien sprechen. Die populären Themen schienen uns dabei ein entscheidender Faktor zu sein, der den Hörsaal füllt. Im Wintersemester 2013/14 haben wir es einmal genau wissen wollen: Kommen die Studierenden wegen der Themen, der ReferentInnen oder des Konzepts? Wir haben einen Vortragsabend zum Thema Die fabelhafte Welt der Bücher angeboten und diesen mit Shakespeare – Goethe – Moers angekündigt: drei Referentinnen, drei 20-Minuten-Vorträge. Der Raum war mit etwa 350 Studierenden so voll wie eh und je, und für uns war es ein Indiz, dass auch die Klassiker ins Konzept passen.

Sei sichtbar!

NachwuchswissenschaftlerInnen haben es schon seit längerem schwer: Nach einem Bericht des Spiegels haben derzeit »acht von neun wissenschaftlichen Nachwuchskräften nur einen befristeten Vertrag, bei tendenziell sinkenden Laufzeiten: Über die Hälfte der Verträge im Nachwuchsbereich gilt derzeit nur ein Jahr oder noch kürzer«.9 Dementsprechend groß ist – zumindest lässt sich dies für viele geisteswissenschaftliche Fächer beobachten – der Wettbewerb, was sich in einem immer weiter zunehmenden Publikationsdruck äußert. NachwuchswissenschaftlerInnen müssen in kurzer Zeit möglichst viel publizieren, weil bei Bewerbungen jede gefüllte Zeile in der Publikationsliste wertvoll ist. Jeder Aufsatz, jeder Vortrag, jede Rezension. Dieser Publikationszwang führt dazu, dass die Menge an Aufsätzen, Sammelbänden und Monografien öffentlich kaum mehr wahrgenommen werden kann. Um es auf den Punkt zu bringen: Wissenschaftliche Texte und Vorträge kursieren heute praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit, sie sind vielfach für den wissenschaftlichen Nachwuchs mehr Pflicht als Kür. Abgesehen davon, dass es Zeit wird, die Arbeits- und Lebenssituation vieler NachwuchswissenschaftlerInnen substanziell zu verbessern, sollte sich der Nachwuchs schon heute mehr Spielräume für innovative Projekte schaffen. Zumindest zeigte unser Projekt, wie viele Energien eine Veranstaltungsform freisetzen kann, die völlig frei von Karrierekalkül und Lebenslaufdesign ist, bei der zunächst einmal nichts ›Verwertbares‹ herauszuspringen scheint: keine Publikation und kein Vortrag vor renommierten KollegInnen. Stattdessen haben wir in bescheidenem Umfang umzusetzen versucht, wofür etwa an der Stanford University ein Office of Science Outreach eingerichtet wurde: Public Outreach.10 Auch in Deutschland werden Qualitäten der Wissenschaftskommunikation inzwischen gewürdigt, so hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) 2012 den mit 50.000 Euro dotierten Communicator-Preis ins Leben gerufen, der »an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vergeben [wird], die sich in hervorragender Weise um die Vermittlung ihrer wissenschaftlichen Ergebnisse in die Öffentlichkeit bemüht haben«.11 Unser Anliegen war es, unsere Fachinhalte über die Grenzen der FachkollegInnen hinaus sichtbar zu machen, für Studierende aller Fächer, für interessierte NichtakademikerInnen, aber auch für die KollegInnen.

Zu diesem Zweck haben wir die universitären Informationskanäle genutzt: Unsere Studierendenzeitung Der Albrecht hat regelmäßig über die Veranstaltungen berichtet,12 und die Zeitschrift des Allgemeinen Studierenden-Ausschusses (AStA) hat die Vorlesungsreihe angekündigt. In Kooperation mit dem AStA haben wir Flyer mit einem selbstverantworteten corporate design in den Mensen der Universität und 150 Plakate auf dem Campus verteilt (vgl. Abbildungen 4 und 5).

Abb. 4 und 5: Plakate der Vorlesung mal anders.

Durch die Zusammenarbeit mit der Pressestelle der CAU Kiel waren wir auch für diejenigen sichtbar, die sich über die ›offiziellen‹ Kanäle über universitäre Veranstaltungen informierten.13 Als letzte Institution der Universität kam der Blog Einfach gute Lehre von Antonia Stahl hinzu: Im Rahmen des Projekts PerLe wurde ein vielbeachteter Blog über neue Lehrprojekte ins Leben gerufen, der von Zeit zu Zeit über uns berichtete.14

So weit, so gut, und solche Kooperationen, die gepflegt werden wollen, waren für das Projekt unerlässlich, aber damit war noch kein Schritt aus der akademischen Komfortzone heraus getan, denn über die genannten Wege lassen sich vor allem KollegInnen (Pressemitteilungen, Blog), wenn auch schon Studierende aller Fächer (Studierendenzeitung, Plakate/Flyer) gewinnen. Darüber hinaus aber haben wir einen guten Draht zur lokalen Presse entwickelt und von der regelmäßigen Berichterstattung in den Kieler Nachrichten und anderen Medien profitiert.15 Dazu zählten auch Radiobeiträge beim Radio Schleswig-Holstein (RSH) und dem Norddeutschen Rundfunk (NDR).

Der weitaus größere und wichtigere Schritt aber war die Integration von Social Media in die Veranstaltungsbewerbung. Das Ziel dahinter war weniger die Verbreitung von Forschungsergebnissen im Sinne der Open-Science-Bewegung,16 sondern vielmehr ein Instrument zur Schaffung von Aufmerksamkeit, schließlich ist die Wissenschaft »ein einziger Tanz um die Aufmerksamkeit«.17 Anstatt akademische Netzwerke wie Academia oder Researchgate zu benutzen, haben wir uns mit Facebook für eine soziale Plattform zur externen Wissenschaftskommunikation entschieden und einen Account mit momentan 772 ›Likes‹ und einer Beitragsreichweite im vierstelligen Bereich gepflegt (vgl. Abbildung 6).

Abb. 6: Entwicklung der Facebook-›Likes‹ 2012–2015.

Es ist aufschlussreich, dass die Zahl der ›Gefällt-mir‹-Angaben im Vorfeld der Vorträge stärker ansteigen als nach den Vorträgen selbst. Dies haben wir aber nicht als Zeichen von Unzufriedenheit gedeutet, sondern als typisches Internetverhalten im Umgang der Studierenden mit Social Media akzeptiert: Facebook ist vielleicht kein geeigneter Ort für Wissenschaft, sehr wohl aber ein taugliches Instrument zur Bewerbung von Wissenschaftsevents. So haben wir diesen Ort nicht zum Austausch von Ideen, sondern eher zur Akkumulation von Aufmerksamkeit genutzt und umso mehr darauf gesetzt, mit kreativen, witzigen oder ungewöhnlichen Beiträgen das Interesse der Studierenden zu wecken und die Reichweite der Beiträge zu erhöhen. Dies ließ sich durch prägnante Teasertexte und -bilder viel besser als mit herkömmlichen Ankündigungstexten erreichen: »Was passiert, wenn Aliens zu Babyspielzeug werden? Und warum ist Ripley eine Rabenmutter? Und wie sieht es aus, wenn eine Nähmaschine und ein Regenschirm sich auf einem Seziertisch begegnen? Das und noch viel mehr erfahrt ihr am Donnerstag im Audimax.« Soweit die Ankündigung zu dem kunsthistorisch-medienwissenschaftlichen Vortrag von Susanne Schwertfeger und Willem Strank am 24. April 2014.

Noch effektiver war die direkte Involvierung der Studierenden durch Umfragen mit inhaltlichem Bezug zum Vorlesungsthema – etwa ob Adam West, George Clooney oder schließlich Christian Bale der ›beste Batman‹ sei, oder ein Rätsel als Einführung in die TV-Serien, in dem es die Köpfe der ProtagonistInnen zu identifizieren galt (vgl. Abbildung 7).

Abb. 7: Kopfkino für Kultserienkenner.

Indem die Administratorenbeiträge einen Appell enthielten, forderten sie zur ersten Auseinandersetzung mit dem Thema und im Idealfall zur Verbreitung des Events bei. Der zentrale Effekt solcher Maßnahmen ist kein informativer gewesen, hingegen schaffte er die nötige Aufmerksamkeit, und dies ist ja nun die Grundbedingung dafür, dass Wissen vermittelt werden kann. Das Ergebnis war eindeutig: Der Vortragssaal war voll, die Zuschauer waren gespannt auf den Vortrag (vgl. Abbildungen 8 und 9). Nun galt es, dass die ZuhörerInnen auch wiederkommen.

Abb. 8 und 9: Hörsaal der Vorlesung mal anders.

Sei anschaulich!

Vom Papier abgelesene, uninspirierte Vorträge, die in Powerpointstichpunktkaskaden geradezu ertrinken und in deren Fremdwortdschungel sich auch der Interessierteste zwangsläufig verlaufen muss: Dies werden manche von uns schon erlebt haben. Eine komplexe Idee in gleichsam komplexer Sprache zu vermitteln, ist eine Leistung, aber noch keine herausragende. Hingegen ist es ungleich schwieriger, einen komplexen Sachverhalt so darzustellen, dass er auf Anhieb verständlich wird, wie es die Rezeptionssituation bei Vorträgen nun einmal erfordert. Eine solche Komplexitätsreduktion ist kein Makel (als würde etwas verloren gehen), sondern eine Qualität, insofern es dem Referenten bzw. der Referentin gelingt, das Relevante vom Verzichtbaren zu befreien und den Kern der Argumentation herauszustellen. Oder wie der Communicator-Preisträger 2014 Onur Güntürkün sagte: »Klar und einfach, ohne falsch zu werden.«18

Zu diesem Zwecke ist die Kombination von bildhafter Sprache und Fachterminologie ebenso zweckmäßig wie der Einsatz von Bildmedien. Dies haben wir nicht nur als bloßes Beiwerk, sondern als integralen Bestandteil des Konzepts verstanden. Schließlich bringen wir unseren Studierenden bei, dass ihre Texte inhaltlich wie auch formal hervorragend sein sollten und die Sorgfalt, die sie auf Rechtschreibung, Zeichensetzung, Grammatik und Formatierung verwenden, ein Abbild der Gründlichkeit ist, mit der sie an den Thesen, Argumenten und Texten gearbeitet haben. So haben wir großen Wert auf visuell ansprechende Materialien und Präsentationen gelegt. Die Poster und Flyer sind von uns selbst entworfen worden, ebenso wie die Facebook-Veranstaltungsankündigungen (vgl. Abbildungen 10 und 11).

Abb. 10 und 11: Facebook-Veranstaltungsankündigungen der Reihe Parallelwelten.

Auf die Präsentationen der ReferentInnen haben wir nur wenig Einfluss genommen, etwa bei konkreten Fragen oder Problemen, aber wir haben unsere Vorstellungen vorzuleben versucht: Freie Vorträge mit Powerpoint-Einsatz, der sich an den Ideen des Präsentationsexperten Garr Reynolds orientiert: »Design – not only function. Story – not only argument. Symphony – not only focus. Empathy – not only logic. Play – not only seriousness. Meaning – not only accumulation.«19 Diese Grundsätze haben uns geholfen, zufriedener mit den eigenen Vorträgen zu werden und eine bessere Resonanz beim Publikum zu erreichen.

Sei anders!

Im Grunde genommen lässt sich die gesamte Philosophie des Projekts auf den Imperativ ›Sei anders‹ reduzieren. NachwuchsdozentInnen statt ProfessorInnen. Public Outreach statt Elfenbeinturm. Studentische Mitbestimmung statt Stundenplan. Und auch der konkrete Ablauf der Vorlesung mal anders war stets ungewöhnlich: Die 45-minütige Vorlesung begann um 18:15 Uhr, aber ab 18:00 Uhr gab es schon etwas zu sehen, denn vor jedem Vortrag lief ein 15-minütiger Countdown, der inhaltlich mit dem Thema der Veranstaltung abgestimmt war und eine gewisse Spannung aufbaute.20 Über diesen Effekt hinaus hat er auch jegliche Anmoderation überflüssig gemacht, weil die Aufmerksamkeit der ZuhörerInnen durch den Countdown gewonnen war. Nach dem Countdown lief ein etwa 1-minütiger Trailer, der das ganze Semester begleitete und mit dem Namen der aktuellen ReferentIn endete. Und dann? Keine abgelesenen Lebensläufe, Danksagungen, organisatorischen Hinweise oder Highlights der Publikationskarriere. Medias in res. Oder im Stile der Vorlesung mal anders: Action! Das Licht blieb aus, manchmal hörte man Bierflaschen klirren, Vorlesung-mal-anders-Abende wollten keine Wasserglas-Vorträge sein, sondern Wissenschaftsevents für jedermann. Wer nun glaubt, die Bierflaschen, die Filmausschnitte, die oft amüsanten Anekdoten und absurden Beispiele hätten die Studierenden unaufmerksam für den Inhalt gemacht und den Hörsaal in eine Kneipe mit Rahmenprogramm verwandelt, wäre überrascht gewesen, weil der Saal in der Regel außergewöhnlich ruhig, die Studierendenschaft konzentriert und stets geduldig war, auch wenn die Veranstaltung mal 20 Minuten länger dauerte. So gab es geradezu einen magic moment, als der Vortrag über Miami Vice (Ingo Irsigler am 25. Oktober 2012) mit dem traditionellen allgemeinen Tischpochen endete und dann doch alle 300 Studierenden sitzenblieben, um in aller Stille einen als Rauswerfer gedachten Filmausschnitt zu sehen, den sie zu Beginn der Vorlesung noch verlacht hatten. Nachdem ihnen nun die Augen für die Ästhetik der Serie geöffnet waren, konnten wir einen vollen Hörsaal dabei beobachten, im Kollektiv eine Lernerfahrung zu machen.

Solche magic moments kann man nicht immer planen, aber zumindest forcieren; wir haben immer wieder versucht, unsere alten Muster zu brechen und an einigen Stellschrauben des Konzepts zu drehen: Nach Einzelvorträgen (45 Minuten) haben wir Dreierabende (3x20 Minuten) und schließlich Zweier-Vorträge (2x30 Minuten) versucht und festgestellt, dass letztere Varianten wesentlich spannender für alle waren als das klassische Solo am Rednerpult. Wenn auch zu einem hohen Preis: Die erforderlichen Absprachen der ReferentInnen haben viel Zeit in Anspruch genommen, mehr als wir alle in der Lehre für gewöhnlich leisten können. Ein Höhepunkt solcher interdisziplinärer Zusammenarbeit war ein Doppelvortrag über die TV-Serie Breaking Bad, den der Anglist André Schwarck gemeinsam mit dem Chemiker Sören Gutekunst am 8. Mai 2014 hielt.

Da vieles an dieser Vorlesung untypisch für akademische Gepflogenheiten war, ist es ganz konsequent gewesen, dass wir die Akademie auch immer öfter verlassen haben. Dank einer ganzen Reihe von Kooperationspartnern haben wir Vorlesungen in Kinos (Studio Filmtheater am Dreiecksplatz, metro-Kino im Schloßhof, vgl. Abbildungen 12 und 13) veranstaltet, in einer Autowerkstatt (Köppl & Sohn, vgl. Abbildungen 14 und 15) und einem leerstehenden Schwimmbad (Lessingbad, vgl. Abbildung 16 und 17).

Abb. 12 und 13: Gerrit Lembke im metro-Kino 2014.

Abb. 14 und 15: Kulturnacht am Blücher in der Autowerkstatt Köppl & Sohn 2013.

Abb. 16: Willem Strank beim Science Splash im Lessingbad 2013.

Abb. 17: Programm des Science Splashs 2013.

Der Science Splash im Lessingbad fand am 26. Juni 2013 statt, während der Kieler Woche, zudem bei einem für Kieler Verhältnisse ungewöhnlich guten Wetter. Konkurrenz: Bierzelte, Segelveranstaltungen, international erfolgreiche Bands. Und dennoch sind über 100 Studierende in ein verlassenes Schwimmbad gepilgert, um Vorträge über den Räuber Hotzenplotz zu hören, über Patrick Süskinds Parfüm, Rambo und Fight Club. Und danach sind manche noch geblieben, um über das gerade Gehörte zu diskutieren.

An Abenden wie dem Science Splash im Lessingbad hat sich wohl niemand im Publikum gefragt, ob in der Schule nicht lieber Kontobuchführung oder Möbelherstellung unterrichtet werden sollte. Wenn jemand gefragt hätte, sind wir uns sicher, dass die meisten Studierenden eine Antwort parat gehabt hätten. Ganz nebenbei hat die Bologna-Generation mit ihrem Engagement für die Vorlesungen auch den Mythos widerlegt, dass Bachelor-Studierende nur noch Veranstaltungen besuchen würden, die ihnen Leistungspunkte einbringen. Unsere Erfahrungen zeigen, dass dies nicht der Fall ist, vielmehr kommen die Studierenden aus eigenem Interesse. In den Worten der Studierenden, die sich über die Vorlesung mal anders äußern, klingt das so:

»Es ist spannend, wie die einzelnen Fakultäten miteinander verknüpft werden.«21

»Ein Besuch bei Vorlesung mal anders lohnt sich immer.«22

Die Studierenden betonen auch immer wieder, dass die Vorträge eben beides bieten: Unterhaltung und Wissensvermittlung; damit scheint die Vorlesung das zu leisten, was wir uns vor ihr versprochen haben.

*

Ähnliche Projekte wie die Vorlesung mal anders gibt es allerorts: In beinahe jeder Universitätsstadt finden Science Slams statt, deren Entertainment-Charakter meist ausgeprägter ist als der Aspekt der Vermittlung von Inhalten.23 An der TU Braunschweig veranstalten DoktorandInnen die kulturwissenschaftliche Vorlesungsreihe Wissenschaft und Populärkultur, der Rostocker Arbeitskreis mediävistischer NachwuchswissenschaftlerInnen hat den Schritt aus den Universitätsgebäuden heraus gewagt und zeigt Kultur im Kloster, an der Bergischen Universität Wuppertal gibt es die Movie Lectures, die ins Kino umgezogen sind und dort Filme zeigen und analysieren. Letztlich stellen auch die sehr erfolgreichen und online verfügbaren TED-Talks ein Veranstaltungsformat dar, das großen Wert auf den Public-Outreach-Gedanken legt.24 All diese Projekte haben auch Elemente unserer Vorlesung mal anders – so teilen wir den Eventcharakter mit den Science Slams, den popkulturwissenschaftlichen Fokus der Braunschweiger, die Nachwuchsorientierung der Rostocker, die Affinität zu Vorlesungen etwa in Kinos der Wuppertaler und schätzen die Vortragsweise der TED-Talks –, aber dennoch ist unser Projekt in der Summe seiner Einzelteile ein ganz besonderes gewesen.

Die Vielfalt der Vermittlungsformate scheint uns eine große Stärke des universitären Betriebs zu sein und eine Chance für die Kulturwissenschaften, sofern er diese Vielfalt nicht nur duldet, sondern auch fördert. Es ist kein Entweder-Oder zwischen einem Rückzug in den Elfenbeinturm der Höhenkammphilologie, die Abschottung hinter terminologischen Mauern einerseits oder der populistischen Anbiederung an kulturlose Smartphone-User (soweit die Fronten). Wir schwächen unsere Disziplin, wenn wir unser kommunikatives Repertoire beschränken und nicht die Vorzüge von Science Slams gleichsam anerkennen wie die Qualitäten von Fachkonferenzen akzeptieren. Aus dieser Einsicht heraus könnten sich ganz neue Formate der Wissenschaftskommunikation entwickeln, die auf der Partizipation der Studierenden und NachwuchswissenschaftlerInnen aufbauen, die nicht nur universitätsintern, sondern gleichsam nach außen wirken – und dadurch das Interesse der Bevölkerung für die Anliegen der Wissenschaft gewinnen.

Literaturverzeichnis

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FÖRSTER, Jürgen, Eva Neuland u. Gerhard Rupp (Hg.): Wozu noch Germanistik? Wissenschaft, Beruf, Kulturelle Praxis. Stuttgart 1989.

FRANCK, Georg: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München, Wien 1998.

GREINER, Ulrich: »Schönheit muss man lernen«. In: Die Zeit, 4/2015.

GYMNICH, Marion u. Ansgar Nünning: »Funktionsgeschichtliche Ansätze: Terminologische Grundlagen und Funktionsbestimmungen von Literatur«. In: Dies. (Hg.): Funktionen von Literatur. Theoretische Grundlagen und Modellinterpretationen. Trier 2005.

HIMMELRATH, Armin: Bericht zum Forschernachwuchs: Prekariatsbericht 2.0, 02.04.2013. http://www.spiegel.de/unispiegel/jobundberuf/wissenschaftlernachwuchs-da... (zuletzt eingesehen am 16.04.2015).

IRSIGLER, Ingo, Gerrit Lembke u. Willem Strank (Hg.): Actionkino. Moderne Klassiker des populären Films. Berlin 2014.

LOSSAU, Cornelia: »Vom Dürfen, Können und Sollen«. In: 7. Forum Wissenschaftskommunikation. Akteure und Rollen in der Wissenschaftskommunikation. Dokumentation. 8.–10. Dezember 2014. http://www.wissenschaft-im-dialog.de/forum-wissenschaftskommunikation/7-... (zuletzt eingesehen am 16.04.2015).

MEYER, Jörg: Vampire wie du und ich, Februar 2014. http://s503014746.online.de/index.php?page=nl_1302_vortrag_true_blood (zuletzt eingesehen am 16.04.2015).

OEHLMANN, Anna Lisa: Locker, spontan und witzig, 14.05.2013. http://der-albrecht.net/locker-spontan-und-witzig/ (zuletzt eingesehen am 16.04.2015).

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(Weitere) Netzquellen

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