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Münster (upm/nor)
Dr. Bernhard Marschall, Studiendekan der Medizinischen Fakultät der WWU<address>© Daniel Witte/Wattendorf</address>
Dr. Bernhard Marschall, Studiendekan der Medizinischen Fakultät der WWU
© Daniel Witte/Wattendorf

"Auch wir werden unser Vergabeverfahren überdenken müssen"

Medizin-Studienplätze: Studiendekan Dr. Bernhard Marschall bewertet das Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Die Studienplatz-Vergabe im Fach Humanmedizin ist nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVG) teilweise verfassungswidrig. Norbert Robers sprach mit dem Studiendekan der Medizinischen Fakultät der Universität Münster, Dr. Bernhard Marschall, über die möglichen Folgen dieses Urteils.

Manche Beobachter sprechen von einem „wegweisenden Urteil“ – kommt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auch für Sie überraschend?

Nein. Für Kenner der Materie dürfte das Urteil des BVG nicht besonders überraschend sein. Ganz sicher aber dürfte es die öffentliche Diskussion um das Vergabeverfahren anheizen. Es ist ohnehin bemerkenswert, wie eindimensional die Berichterstattung dieses komplexe Thema angeht. Während das BVG konkret nur fünf Punkte im Vergabeverfahren moniert, wird allenthalben von der ,Abschaffung des NC‘ gesprochen. Davon kann keine Rede sein. Wichtig ist, dass das Gericht festgestellt hat, dass die Anzahl der verfügbaren Studienplätze vom Gesetzgeber limitiert werden kann, ohne dass dies grundsätzlich dem im Grundgesetz verankerten Anspruch auf freie Berufswahl entgegensteht. Es gibt deshalb auch keine Zweifel an der Notwendigkeit einer Zulassungsbeschränkung und damit an der Aufrechterhaltung eines Numerus clausus. Die bemerkenswertesten Aussagen des Urteils dürften in der eingeforderten Verpflichtung der Hochschulen zur ,gewichtigen‘ Anwendung mindestens eines ergänzenden, nicht schulnotenbasierten Auswahlkriteriums, sowie in der zeitlichen Begrenzung der Wartezeit in der sogenannten Wartezeitquote liegen.

Wie hat sich aus Ihrer Sicht die besonders strittige Frage des Umgangs mit der Abiturnote der Bewerber mit dem Urteil gewandelt?

Ich kann keinen Wandel erkennen. Das BVG stellt wiederholt fest, dass „keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Sachgerechtigkeit der Abiturnote“ vorliegen. Es hält die Abiturnoten grundsätzlich als ein aussagekräftiges Kriterium zur Ermittlung der Eignung, da sie als Abschluss einer langen Schulausbildung in spezifischer Weise als Ausweis der Befähigung zum Hochschulstudium angelegt ist. Allerdings wird diese Qualität der Abiturnote als Differenzierungskriterium durch eine deutliche Zunahme von Noten im Spitzenbereich – Stichwort Bestnoten-Inflation - eingeschränkt und dadurch ihre Tauglichkeit als Abgrenzungskriterium geschmälert. Dementsprechend bedarf es nach Meinung des BVG einer Ergänzung um weitere Kriterien, da die Abiturnote die Unterschiede in der Eignung der Bewerber nicht mehr hinreichend abbildet. Mit dem Urteil stärkt das Gericht die sowieso an den meisten Hochschulen bereits vorhandenen Tendenzen, alternative Kriterien in den Vergabeprozess einzubeziehen. Ob es sich hierbei tatsächlich nur um Makulatur oder um einen Erdrutsch handeln wird, dürfte von der Umsetzung des Gesetzgebers abhängen.

War es vor dem Hintergrund der bereits länger schon umstrittenen Mediziner-Auswahl nicht tatsächlich an der Zeit, das Verfahren auf „neue Füße“ zu stellen?

De facto sind es gar keine ,neuen Füße‘, sondern eher eine Umgewichtung in der Anwendung bereits etablierter Kriterien. Wirklich neu ist hingegen die Einlassung des Gerichts zur sogenannten ,Wartezeitquote‘. Nach Überzeugung der Richter fehlt es an einer Begrenzung der Wartezeit auf einen angemessenen Zeitraum …

… was die bisherige Praxis radikal verändern würde, oder?

Richtig. Diese Forderung birgt einen dramatischen Paradigmenwechsel in dem Auswahlverfahren. Während bisher tatsächlich jeder Bürger mit einer allgemeinen Hochschulreife einen Zugang zum Studium der Medizin garantiert werden konnte, solange er nur die hierfür erforderlichen etwa sieben bis acht Jahre Wartezeit aufgebracht hat, stellt das BVG nunmehr klar, dass diese hundertprozentige Zulassungschance aus verfassungsrechtlicher Sicht keinen Bestandsschutz genießt. Demnach ist es durchaus vorstellbar, dass ein Bewerbungsverfahren – auch in der Wartezeitquote – grundsätzlich erfolglos bleibt. Folgt man dem BVG und würde eine Beschränkung der Wartezeit einführen, so käme dem der Wartezeit nachgeschalteten Kriterium, in diesem Fall der Abiturnote, eine ungleich höhere Bedeutung zu. Mit anderen Worten: Anstelle des vom Kläger anvisierten vereinfachten Zugangs zum Studium der Medizin gerade für Abiturienten mit einer schlechteren Abiturnote, würde sich dies höchstens auf diejenigen auswirken, deren Abiturnote wenige Zehntel unterhalb des NC-Niveaus liegt. Demgegenüber hätten Bewerber mit einem deutlich schlechteren Abitur überhaupt keine Chance mehr, einen Studienplatz zu ergattern, auch nicht über eine lange Wartezeit.

Was muss die Universität jetzt konkret tun, um dem Urteil „nachzukommen“?

Zunächst nichts. Jetzt ist der Gesetzgeber gefordert, der die sogenannten landesrechtlichen Verordnungen anpassen muss. Grundsätzlich sehe ich die Universität Münster bis hierher als sehr gut positioniert, da wir bereits jetzt eines der aufwendigsten Auswahlverfahren mit einem Fokus auf nicht schulnotenbezogene Eignungskriterien etabliert haben.

Also eine weitere gute Nachricht für die WWU?

Wie so häufig liegt der Teufel im Detail. Während wir den grundsätzlichen Erwägungen des BVG hervorragend nachkommen, könnte uns eine eher verfahrenstechnische Finesse Probleme bereiten. So sieht es das BVG als kritisch an, den Hochschulen in der sogenannten Vorauswahl eine Beschränkung ihres Bewerberfeldes allein anhand der von ihnen genannten Ortspräferenz einzuräumen. Aus Sicht des Gerichts erhält hierdurch ein nicht der Eignung genügendes Kriterium, die Ortswahl, einen maßgeblichen Einfluss auf die Studienplatzvergabe. Zwar hält das Gericht gerade für so aufwendige und individualisierte Verfahren, wie das hier in Münster installierte, eine Ausnahme von dieser Sichtweise für möglich. Allerdings schränkt es diese besondere Auffassung gleichzeitig auf einen Teil der Studienplätze ein. Kurzum: Auch wir werden unser Vergabeverfahren auf Basis der neuen Landesgesetzgebung neu überdenken müssen.

Auch wenn es für eine abschließende Antwort darauf sicher noch zu früh ist – aber wie radikal könnten mögliche Änderungen ausfallen?

Im besten Falle könnte eine Anpassung unseres Vergabeverfahrens in Form einer ,einfachen‘ Anhebung des Einflusses unseres bereits etablierten Studierfähigkeitstests auf das Niveau eines ,gewichtigen‘ Auswahlkriteriums genügen. Es ist aber auch eine vollkommene Neuorientierung, im schlimmsten Fall sogar mit Verlust der individuellen Komponente, vorstellbar.​