|
Münster (upm)
Mit viel Fingerspitzengefühl: Studentin Charlotte Mewis fertigt mit einem Tuschestift ihre Reinzeichnung an.<address>© WWU/Peter Grewer</address>
Mit viel Fingerspitzengefühl: Studentin Charlotte Mewis fertigt mit einem Tuschestift ihre Reinzeichnung an.
© WWU/Peter Grewer

In der Übung "Archäologisches Zeichnen" lernen Studierende Funde detailgetreu abzubilden

"Irgendwie muss das Gefäß ins Buch" – ein Selbstversuch

Verkrampft umfassen meine Finger den Bleistift. Konzentriert versuche ich, die abgemessenen Punkte so exakt wie möglich auf das weiße Blatt Papier zu übertragen. Stück für Stück entstehen die Konturen eines Keramikgefäßes, von dem heute nur noch eine rund 2000 Jahre alte Tonscherbe existiert. Während die Studierenden für ihre Teilnahme an der Übung "Archäologisches Zeichnen" am Ende des Sommersemesters Leistungspunkte erhalten, stelle ich mir die Frage: Warum fertigen Archäologen bei Ausgrabungen heute noch zeitaufwendige Fundzeichnungen an, obwohl es Digitalkameras gibt?

Schnell lerne ich, dass die technischen Zeichnungen der Funde deren Form maßstabgetreu wiedergeben und Besonderheiten hervorheben. Hat ein Objekt Eigenschaften wie Verzierungen oder interessante Konstruktionsmerkmale, wird es aus verschiedenen Ansichten gemalt. Dadurch erhält der Betrachter eine mehrdimensionale Perspektive. "Man kann die Stücke auch zeichnerisch rekonstruieren", erklärt Übungsleiterin Dr. Claudia Tappert, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie am Historischen Seminar der Universität Münster tätig ist. So könne man kaputte Gegenstände wie Keramikgefäße, Schwerter, Äxte oder Nägel mehr oder weniger vollständig ergänzen. Das können Digitalfotos nicht. Mir wird außerdem klar, dass künstlerisches Geschick keine Rolle spielt. Vielmehr geht es darum, mit den richtigen Techniken sowie mit einer Vielzahl von Geräten und Hilfsmitteln die ausgegrabenen Stücke detailgetreu abzubilden. Dieser Hinweis von Claudia Tappert beruhigt mich, denn schon einfache Stillleben sehen bei meinem fehlenden Talent völlig misslungen aus.

Damit die Fundzeichnungen nicht wie meine Bilder aussehen, gibt es zahlreiche Hilfsmittel und einheitliche Richtlinien, die es zu beachten gilt. Als erstes fertigen die Wissenschaftler eine Vorzeichnung an. Mit Linealen, Geodreiecken, Schieblehren und Zirkeln wird die Form der Gegenstände abgemessen und sorgfältig auf das Papier übertragen. Während ich einen Zirkel zum letzten Mal in meiner Schulzeit benutzt habe, habe ich einen Profilkamm oder einen sogenannten Zeichenwinkel noch nie in der Hand gehabt. Der Zeichenwinkel erleichtert das Nachzeichnen des Profils. Dafür benötigt man ein wenig Übung, damit man nicht abrutscht.

Meine ersten zwei Versuche, die Tonscherbe zu umrunden, scheitern. Erst beim dritten Mal gelingt es mir, die Konturen auf mein Papierblatt zu bekommen. Der Profilkamm hilft mir, die Feinheiten darzustellen. Den Durchmesser des zerstörten Gefäßes ermittele ich mit einer Kreisscheibe. Die Scherbe wird auf dem Koordinatenpapier hin und her geschoben, bis der passende Umfang gefunden ist und eingezeichnet werden kann. Mit einer Schieblehre messe ich danach an mehreren Punkten die Dicke der Scherbe und übertrage auch diese Werte. So lässt sich das Innenprofil abbilden. Und schon sind 90 Minuten rum: Die Zeit vergeht schnell. Überall auf meinem Tisch liegen Reste von dem häufig benutzten Radiergummistift. Als ich den Bleistift aus meiner Hand lege, merke ich, wie meine Finger von der angespannten Haltung schmerzen. Das Ergebnis überrascht mich – immerhin lassen sich die Konturen der Tonscherbe und des rekonstruierten Gefäßes gut erkennen.

"Die Übung ist ein guter Ausgleich zu den Vorlesungen, da man die Theorie direkt umsetzen kann. Man muss sich beim Zeichnen aber sehr konzentrieren", sagt Mona Bunse. Die 23-Jährige, die den Masterstudiengang "Ur- und Frühgeschichte" absolviert, profitiert von dem Lernstoff nicht nur für ihr Studium. "Die Inhalte kommen nah an das Berufsleben dran. Selbst wenn ich später keine Fundstücke zeichne, kann ich die Zeichnungen lesen und verstehe, was dort abgebildet ist." Ihre Kommilitonin Charlotte Mewis studiert den Zwei-Fach-Bachelor "Archäologie – Geschichte – Landschaft“ und "Kultur- und Sozialanthropologie" und arbeitet im Fundarchiv der Archäologie für Westfalen des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe. "Ich wollte neben der Theorie etwas Praktisches machen und habe deshalb die Übung belegt. Das Erlernte kann ich außerdem gut für meinen Studentenjob gebrauchen", betont sie.

Autorin Kathrin Nolte beim Vermessen einer Tonscherbe.<address>© WWU/Peter Grewer</address>
Autorin Kathrin Nolte beim Vermessen einer Tonscherbe.
© WWU/Peter Grewer
Neben den praktischen Übungen vermittelt Claudia Tappert immer wieder die Grundlagen des Zeichnens von Gegenständen und der digitalen Bildbearbeitung. Die immer im Sommersemester stattfindende Veranstaltung belegen vor allem Studierende des Zwei-Fach-Bachelors "Archäologie – Geschichte – Landschaft" und des Zwei-Fach-Bachelors "Klassische und Christliche Archäologie". Dieses Mal sind auch zwei Studierende des Masterstudiengangs "Ur- und Frühgeschichte" mit von der Partie. Das Credo von Claudia Tappert lautet: "Irgendwie muss das Gefäß ins Buch." Die Archäologin kann dabei auf viel Erfahrung zurückgreifen. Allein für ihre Doktorarbeit hat sie mehr als 2000 Funde gezeichnet.

Ist die Vorzeichnung fertig, folgt auf Transparentpapier mit Tuschestiften die Reinzeichnung. Dazu paust man die Bleistiftlinien mit verschiedenen Strichstärken durch. Bis zu diesem Arbeitsschritt bin ich nicht mehr gekommen. Trotzdem hat mir mein Selbstversuch gezeigt, wie detailreich archäologische Funde durch Zeichnungen abgebildet werden können. Mit dieser Erkenntnis lässt sich auch meine Frage nach der Nutzung von Digitalkameras bei Ausgrabungen beantworten. Fotos können zwar schneller geschossen werden, stellen die Gegenstände aber nicht in der für den wissenschaftlichen Gebrauch notwendigen visuellen Art und Weise dar.

Autorin: Kathrin Nolte

Dieser Artikel stammt aus der Universitätszeitung "wissen|leben" Nr. 4, Juni/Juli 2017.

Links zu dieser Meldung