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Münster (upm)
Warum Pflege und Beruf kein Gegensatz sein müssen<address>© Foto: Zhenikeyev/colourbox.de</address>
© Foto: Zhenikeyev/colourbox.de

Dr. Jürgen P. Rinderspacher erklärt, warum Beruf und Pflege kein Gegensatz sein müssen

Der emotionalen Belastung entgegenwirken

Immer mehr Berufstätige stehen vor der Herausforderung, ihren Beruf mit der Pflege nahestehender Menschen in Einklang bringen zu müssen. Die Bereitschaft zur Übernahme einer Pflegeaufgabe ist in Deutschland nach wie vor verhältnismäßig groß, hängt aber wesentlich davon ab, ob es gelingt, mit unterstützenden Maßnahmen Rahmenbedingungen zu schaffen, die eine für alle Beteiligten zufriedenstellende Vereinbarkeit von Familie, Erwerbstätigkeit und Pflege ermöglichen.

In Zukunft wird es notwendig sein, Fürsorgearbeit im Ganzen und damit auch Pflegeverantwortung im Speziellen als festen Bestandteil des Lebensverlaufes eines jeden Beschäftigten zu begreifen. Dabei erweisen sich nicht alle auf Eltern mit kleinen Kindern zugeschnittenen unterstützenden Maßnahmen als übertragbar auf pflegende Beschäftigte: So ist Pflege in ihrem zeitlichen Verlauf weniger planbar als Elternschaft, da sie ohne Ankündigung unerwartet eintreten kann. Zudem ist der Pflegeverlauf in seinen Anforderungen nicht linear und oftmals geprägt durch nicht vorhersehbare kurzfristig eintretende Situationen. Auch steigen anders als bei der Betreuung von Kindern die Belastungen durch die Pflege im Zeitverlauf tendenziell an, während Kinder über die Jahre immer selbstständiger werden. Darüber hinaus nimmt die emotionale Belastung zu.

Zu dem Konzept "Pflegesensible Arbeitszeiten", das innerhalb einer qualitativen Studie von Stefan Reuyß, Svenja Pfahl, Karin Menke und mir entwickelt wurde, gehört ein komplexes Bündel unterschiedlicher Arbeitszeitregelungen und Maßnahmen im betrieblichen Umfeld. Sie bestehen aus drei Handlungsfeldern: Veränderte Arbeitszeiten bringen den Pflegenden nur etwas, wenn sich hiermit zugleich die Arbeitsorganisation für die Betroffenen verändert. Ebenso muss sich in der Betriebskultur etwas ändern, sodass die Pflege eines nahestehenden Menschen von Vorgesetzten und Kollegen als genauso wichtig anerkannt wird wie die Kinderbetreuung. Auch kann der Betrieb in anderer Weise unterstützend wirken.

Dr. Jürgen P. Rinderspacher<address>© Foto: privat</address>
Dr. Jürgen P. Rinderspacher
© Foto: privat
Das Ziel einer pflegesensiblen Arbeitszeitgestaltung ist die flexible Anpassung der zeitlichen und inhaltlichen Arbeitsanforderungen an die unterschiedlichsten Pflegesituationen – denn jeder Pflegefall ist anders. Leitgedanke ist, dass Erwerbsarbeit und Pflegeverantwortung parallel zueinander möglich sein sollen, denn Betroffene sollen weder finanzielle Einbußen noch Nachteile im Beruf erleiden. Ebenso ist die Erwerbstätigkeit ein "Gegengewicht", um sich gegenüber den Ansprüchen aus der Pflegetätigkeit abgrenzen zu können. Pflegende brauchen außerdem eine gute Balance zwischen Beruf, Pflege und Freizeit. Und nicht zuletzt muss es auch immer darum gehen, Menschen, die eine Pflegeverantwortung übernommen haben, zu befähigen, möglicherweise über lange Zeit – im Durchschnitt acht Jahre – eine gute Pflege zu erbringen, ohne selbst zum Pflegefall zu werden.

Die wichtigsten Elemente "Pflegesensibler Arbeitszeiten" sind:

Eine pflegegerechte Vollzeit: Das wäre eine spezifische Form der Arbeitszeitreduzierung, die nicht mit einer üblichen Teilzeitarbeit gleichzusetzen ist, da für sie ein finanzieller (Teil-)Ausgleich erfolgt.

Erreichbarkeit am Arbeitsplatz und Arbeitsunterbrechungen im Tagesverlauf: Darunter ist die telefonische Erreichbarkeit zu verstehen, aber auch die Möglichkeit, während der Arbeitszeit pflegebedingte E-Mails schreiben zu können.

Ergebnisorientiertes Arbeiten: Nicht die stetige Verfügbarkeit, sondern das tatsächliche Engagement und der erzielte Erfolg sollte vorrangig als Leistungskriterium angelegt werden.

Adäquater Aufgaben-/Tätigkeitszuschnitt: Die Übernahme privater Pflegeverantwortung kann dazu führen, dass Beschäftigte – auf eigenen Wunsch – vorübergehend von ihrem üblichen Tätigkeitsprofil abweichen wollen, um ihre Arbeitsbelastungen zu reduzieren.

Das hier skizzierte, auf die betriebliche Gestaltung zugeschnittene Konzept "Pflegesensibler Arbeitszeiten" reicht allein jedoch nicht aus, um eine generelle Vereinbarkeit von Beruf und Pflege herzustellen. Eine solche Herausforderung ist nur zu bewältigen, wenn sie als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden wird. Insofern stellt die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege Anforderungen an alle gesellschaftlichen Akteure: an den Staat, die Zivilgesellschaft, die Tarifparteien und jeden Einzelnen.

Dr. Jürgen P. Rinderspacher arbeitet am Institut für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften der WWU. Die zentralen Ergebnisse der Studie "Pflegesensible Arbeitszeiten. Arbeitszeitrealitäten und -bedarfe von pflegenden Beschäftigten" können unter go.wwu.de/iqaug nachgelesen werden.

 

Angebote für Pflegende an der WWU

Wenn Beschäftigte oder Studierende der WWU einen Angehörigen pflegen, ist dies eine große Herausforderung. Denn in der Regel tritt eine solche Situation unerwartet ein. Die Universität Münster unterstützt Betroffene durch praktische Informations- und Beratungsangebote, die Pflege von Angehörigen mit Beruf oder Studium zu vereinbaren. Auf den Internetseiten des Familienportals werden organisatorische, rechtliche und finanzielle Aspekte der Pflege erläutert. Iris Oji, Leiterin des Servicebüros Familie, bietet darüber hinaus persönliche Beratungsgespräche an. Durch regelmäßige Vernetzungstreffen haben Pflegende die Möglichkeit, sich untereinander auszutauschen. Der nächste Termin wird in Kürze im Familienportal veröffentlicht.

 

Dieser Gastbeitrag stammt aus der Universitätszeitung "wissen|leben" Nr. 8, 14. Dezember 2016.

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