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Münster (web)
Hilfe beim Spielen: Kinder erkennen schon früh, wenn eine andere Person Unterstützung benötigt.<address>© colourbox.de</address>
Hilfe beim Spielen: Kinder erkennen schon früh, wenn eine andere Person Unterstützung benötigt.
© colourbox.de

Wenn der Kasperle Hilfe braucht

Entwicklungspsychologen untersuchen Hilfsbereitschaft von Kindern

Johannes schaut fasziniert auf den Bildschirm. Mucksmäuschenstill beobachtet der knapp 15 Monate alte Junge, wie zwei Comic-Figuren einen Ball erreichen wollen. Einer von ihnen gelingt dies mühelos, der anderen Figur liegt eine Barriere im Weg – sie braucht Hilfe. Johannes ahnt möglicherweise, wie man dieser Figur helfen könnte. Schließlich hat ihm seine Mutter mehrfach vorgemacht, dass ein einfacher Knopfdruck, mit dem man die Barriere beseitigt, die Lösung ist. Beim ersten Versuch langt Johannes daneben, aber beim zweiten und dritten Anlauf notieren die jungen Psychologiestudenten, die in einem Nebenraum des Instituts per Kamera die Szenerie beobachtet haben: "geholfen".

Für ihren zweiten Test haben die Studenten eine Art Kasperle-Theater aufgebaut. Aber Johannes, der auf dem Schoß seiner Mutter die Mini-Vorführung verfolgt, will partout nicht den Klotz drücken, wie es ihm eine der Studentinnen als Lösung für ein Problem vorgeführt hat. Er interessiert sich einzig und allein für die Puppen und versucht nach ihnen zu greifen. Beim dritten Versuch wäre es hilfreich, wenn Johannes einen Klotz auf einer Rutsche umkippen würde. Aber er denkt gar nicht daran und amüsiert sich auf andere Weise. Nach knapp 90 Minuten hat Johannes alle drei Aufgaben drei Mal absolviert – Mutter und Vater nehmen ihren nach wie vor bestens gelaunten Sohn wieder mit nach Hause.

Als die Eltern vor einigen Wochen einen Brief vom Leiter der Arbeitseinheit Entwicklungspsychologie, Prof. Joscha Kärtner, bekamen, wussten sie nur, dass die Experten in ihrem Beobachtungslabor testen wollten, inwieweit Johannes Hilfsbedürftigkeit erkennt und inwieweit er willens und fähig ist zu helfen. Sie sagten wie einige andere Familien auch zu. "Wir wissen, dass Kinder schon gegen Ende des ersten Lebensjahres die Hilfsbedürftigkeit anderer Personen erkennen", betont Joscha Kärtner. "Aber wir brauchen noch mehr Informationen darüber, ob und unter welchen Bedingungen sie tatsächlich helfen."

Als Prosozialität bezeichnen die Fachleute jenes Verhalten, "das freiwillig gezeigt wird und sich am Bedürfnis anderer orientiert". Für Erwachsene ist dies in der Regel kein Problem, für Kleinkinder dagegen sehr wohl. Denn um sich prosozial zu verhalten, "muss man die Bedürfnisse eines anderen, seine Wünsche oder seine Ziele verstehen und dementsprechend handeln". Bei Probanden wie Johannes kommt hinzu, dass Kinder in diesem Alter über unterschiedlich ausgeprägte motorische Fähigkeiten verfügen, um im Falle ihrer Hilfsbereitschaft überhaupt helfen zu können.

Wobei grundsätzlich gilt: Alle Kinder sind von Geburt an hoch motiviert, mit anderen Menschen zu interagieren. Da sich die Lebenswelten über Kulturen hinweg deutlich unterscheiden, interessieren sich Joscha Kärtner und sein Team besonders dafür, wie sich diese unterschiedlichen Erfahrungen auf die frühkindliche Entwicklung auswirken. "Wer beschäftigt sich wann und wie mit einem Kleinkind?", nennt er eine der Fragestellungen. "Welche Sozialisationsziele und Erwartungen haben Eltern an ihre Kinder? Interessant ist auch zu wissen, inwiefern Kleinkinder einbezogen werden, wenn etwas erledigt werden muss." Für ihre Erhebungen und Tests schwärmen Joscha Kärtner und seine Doktoranden in alle Welt aus – nach Kamerun, Brasilien oder Indien etwa. Manchmal acht Wochen, manchmal bis zu drei Monate arbeiten sie jeweils mit 30 bis 80 Familien zusammen. Die Projekte werden oft in Kooperation mit münsterischen Partneruniversitäten vor Ort geplant und durchgeführt. Dabei wählen die Forscher häufig einen möglichst großen Kontrast, um zu prüfen, ob die Lebenswelt des Kindes Einfluss auf die Entwicklung nimmt: So vergleichen sie beispielsweise Familien mit einem hohen Bildungsniveau aus einem städtischen Umfeld mit Familien aus einem ländlichen Umfeld und einem relativ niedrigen Bildungsniveau. Mit interessanten Ergebnissen.

Deutsche und brasilianische Eltern sollten demnach ihre anderthalbjährigen Kinder auffordern, einen Gegenstand auf den Tisch zu legen. Die Eltern aus Münster achteten sehr darauf, ihre Kinder betont freundlich um Hilfe zu bitten, zudem bedankten sie sich geradezu euphorisch. Die Eltern im brasilianischen Amazonas-Gebiet hingegen wiesen ihre Kinder mit großer Selbstverständlichkeit an und artikulierten ihren Dank weit zurückhaltender. Interessanterweise hingen diese Elternstile systematisch mit dem spontanen Hilfeverhalten der Kinder zusammen, was darauf hindeutet, dass dem Hilfeverhalten unterschiedliche Motive zugrunde liegen: auf der einen Seite der freie Entschluss, auf der anderen Seite eine zwischenmenschliche Verpflichtung.

Prof. Joscha Kärtner<address>© WWU - Benedikt Weischer</address>
Prof. Joscha Kärtner
© WWU - Benedikt Weischer
Joscha Kärtner erkennt nach vielen derartigen Versuchen ein Muster. "Wir sind in unserer westlichen Welt sehr auf das Ich fixiert, auf den freien Willen und die Autonomie jedes Einzelnen. In vielen Gemeinschaften in Entwicklungsländern stehen dagegen die Gemeinschaft, die soziale Verbundenheit und die sogenannte Relationalität stärker im Mittelpunkt."

Über die besonders starken Kontraste zwischen den Familien hinaus sei es allerdings auch wichtig, zukünftig noch stärker in den Blick zu nehmen, dass es auch innerhalb Indiens oder Brasiliens große kulturelle Unterschiede gebe. So zeigten beispielsweise gebildete Familien aus São Paulo ein Verhalten, das in vielen Aspekten den münsterischen Familien ähnlicher war als den Familien im ländlichen Amazonasgebiet. "Die spezifischen kulturellen Modelle scheinen von einer Reihe von strukturellen Parametern abzuhängen, unter anderem der wirtschaftlichen Organisationsform und damit einhergehend mit Familienform und dem Grad der formalen Bildung", vermutet Joscha Kärtner, "und genau das gilt es jetzt empirisch zu untersuchen."

Norbert Robers

Dieser Artikel stammt aus der Universitätszeitung "wissen|leben" Nr. 7, 16. November 2016.

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