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Münster (upm)
Kulinarische Pause: Zwei Damen genießen die Atmosphäre vor dem Olympiastadion in Berlin.© Fotos: privat / Emanuel Hübner
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Olympia 1936 durch eine andere Linse

Historiker Dr. Emanuel Hübner stellt bisher nie gezeigte Amateurfotografien der Spiele aus

Die Stadionbesucher nutzen die Pause für ein Schwätzchen in der Sonne oder einen Happen vom Imbissstand. Ein Mann balanciert zwei Pappteller mit Würsten auf den Händen und versucht, den verstreuten Müll zu umgehen. Eine Szene, wie sie heute am Rande des Olympiastadions in Berlin kaum anders wäre, wenn da nicht die antiquierte Garderobe der Besucher und vor allem nicht die wehenden Hakenkreuzflaggen wären. Es ist nicht 2016, sondern 1936. Die zweiten Olympischen Sommerspiele in Berlin sind in vollem Gang. Das Nazi-Regime ist vollständig etabliert, die weltweite Kritik am Internationalen Olympischen Komitee, die Sommerspiele in Deutschland zu belassen, war anfangs groß. Dennoch finden die Spiele schließlich großen Zuspruch in der Bevölkerung und bei den Sportlern.

Denkt man an diese Spiele, kommen Bilder aus dem Film Leni Riefenstahls auf: monumentale Bauten, Fotos von gigantischen weißen Statuen, perfekten Sportlerkörpern. Bilder, die nicht zur Bratwurstromantik auf der Wiese passen. Dennoch sind es dieselben zwei Wochen im August 1936, nur durch eine andere Linse betrachtet. Diesen Perspektivwechsel ermöglicht Dr. Emanuel Hübner vom Arbeitsbereich Sportpädagogik und Sportgeschichte (Institut für Sportwissenschaft) der Universität Münster anlässlich des jetzigen Jubiläumsjahres. Mit noch nie gezeigten Amateurfotografien öffnet er ein Fenster in die Erlebniswelt des durchschnittlichen Olympiabesuchers.

"Bislang waren nur die Pressefotografien bekannt. Das prägt unser Verständnis der Veranstaltung. Oft betrachten wir die Spiele 1936 als Spektakel, das den Zweck hatte, die Überlegenheit Deutschlands zum Ausdruck zu bringen", sagt der Historiker. In einer der letztenm universitären Einrichtungen mit explizit sporthistorischer Forschung untersuchte er die Olympischen Spiele 1936. "Natürlich nutzte das NS-Regime die Spiele als internationale Imagekampagne. Aber für die meisten Menschen damals waren sie ein scheinbar harmloses Sportgroßereignis."

Mit 200 Schwarzweißfotografien zeigt die Ausstellung im Bielefelder Bauernhausmuseum, die der Wissenschaftler alleine kuratierte, was die Menschen damals interessierte. "Die Leute wollten Erinnerungen festhalten, die sie später in Alben klebten und zeigen konnten: 'Ich war dabei.'. Sie fotografierten die Wettkämpfe, die berühmten Sportler, aber auch die Hauptstadt", sagt Emanuel Hübner. Die Fotomotive ziehen die Betrachter in die Alltagswelt eines Olympiabesuchers vor 80 Jahren: ein Foto mit Freunden auf vollbesetzten Rängen, Autogrammjäger, die Schlange stehen, oder eine schüchtern wirkende Besucherin vor der mächtigen Stadionkulisse. Neben ihr liegt der ständige Begleiter vieler Besucher – die Fotokamera.

Damals war sie meist ein simpler schwarzer Würfel, darin aber eine Technik mit Massenwirkung. Die Spiele kamen zum günstigen Zeitpunkt. Nachdem die Fotografie in den 1920er-Jahren in weiten Teilen der Bevölkerung immer populärer geworden, aber durch Negative aus Glasplatten nicht besonders benutzerfreundlich war, entstand in den Dreißigerjahren ein regelrechter Hype durch die Entwicklung des Rollfilms.

Emanuel Hübner erklärt: "Die Firma Agfa brachte 1932 eine günstige Amateurkamera auf den Markt – einen Apparat für jedermann. Die Firma verkaufte Hundertausende." Mitte der Dreißigerjahre soll es in Deutschland schätzungsweise fünf bis sechs Millionen Amateurfotografen gegeben haben. Laut Agfa hatte jeder vierte Olympiabesucher einen Fotoapparat dabei. "Wenn man bedenkt, dass jeder mindestens einen Film mit zwölf Bildern verbrauchte, wird klar, dass die Amateurbilder die 20.000 offiziellen Pressebilder um ein Vielfaches überstiegen haben müssen", schätzt Emanuel Hübner den ursprünglichen Bestand des Amateurmaterials ein.

Während die privaten Bilder in Nachlässen, auf Sammlerbörsen oder auch in Mülleimern endeten, werden die offiziellen Pressebilder heute noch für Bildbände und Dokumentationen genutzt. Sie zeigen neben Sportfotografie, menschenleere Prunkbauten, starke Schattenwürfe, perfekte Paraden. Die Amateurfotografien widersprechen dem glattgebügelten Image und der ehrfurchtseinflößenden Wirkung. "Aus den Bildern spricht eben nicht die Ehrfurcht. Sie spiegeln touristische Eindrücke wider", erklärt Emanuel Hübner. Dem Forscher eröffnete sich bei der Analyse der Bilder, die er unter anderem für seine Dissertation zu sammeln begann, eine Sicht auf die Olympischen Spiele, die einerseits gar nicht so fremdartig und andererseits ganz schön kurios ist. So dokumentierte ein Besucher, wie ordentlich die leeren Glasflaschen auf den Tribünen hinterlassen wurden. "Ein Anblick, den man heute vergeblich suchen würde. Auch der Sinn für Sicherheit war damals anders. Es gab kaum Absperrungen weder auf hohen Tribünen noch zu Prominenten oder gar der politischen Führungsriege."

Sorge, dass seine Ausstellung die damalige Zeit verharmlost, hat Emanuel Hübner nicht. Er plädiert vielmehr für eine sachliche Analyse. "Man darf nie vergessen, dass Bilder nicht die Wirklichkeit abbilden. Wir sehen nur einen Ausschnitt. Während die Pressebilder die Spiele so zeigen, wie es das Regime wollte, lassen diese Bildquellen die Bevölkerung zu 'Wort' kommen."

Die Ausstellung "Olympia 1936: Ein Großereignis im Kleinformat" im Bielefelder Bauernhausmuseum ist noch bis 13. Mai zu sehen. Sie stellt erstmals private Fotos, ebenso wie Filme und Souvenirs aus der Zeit der Olympischen Spiele 1936 in Berlin aus. Die Schau basiert auf Teilen eines Dissertationsprojekts von Dr. Emanuel Hübner, Institut für Sportwissenschaft der WWU Münster, und wird voraussichtlich in diesem Jahr noch in Berlin und Paris gastieren.

Quelle: "wissen|leben" Nr. 2, 20. April 2016

Autorin: Julia Nüllen

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