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Collage Smart City<address>© Goldmarie Design</address>
Städte, die mit Hilfe von IT gestaltet sind, werden oft mit dem Begriff "Smart City" versehen.
© Goldmarie Design

Ballungsraum voller Wünsche und Ängste

Am Institut für Geoinformatik beschäftigen sich Wissenschaftler unterschiedlicher Bereiche mit der Frage, was eine "Smart City" ausmacht

Seitdem Menschen in Städten leben, träumen sie von der idealen Stadt - und haben oft gleichzeitig Horrovisionen über das Miteinander auf engem Raum. Erst recht, wenn die Stadt ein Ort des technischen Fortschritts ist, liegen Utopie und Dystopie nah beieinander, wie filmische und literarische Werke des letzten Jahrhunderts zeigen – man denke an Metropolis, 1984 oder Minority Report.

Städte sind der Ballungsraum für Innovationen, weiß Prof. Armin Grunwald, Leiter des Instituts für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse in Karlsruhe. "Die Idee der Zukunftsstadt, in der alles besser oder schlimmer wird, ist nicht neu. Darin spiegeln sich Wünsche und Ängste. Diese Vorstellungen, seien sie fantastisch oder realistisch, sagen mehr über die jetzige Welt aus als über die tatsächliche Zukunft." Im frühen 20. Jahrhundert bestimmten Motorisierung oder Wolkenkratzer die Vision eines modernen Lebens. Seit der Erfindung des Internets sei die digitale Vernetzung das neue Leitmotiv.

Wissenschaftsjahr nimmt "Zukunftsstadt" ins Visier

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplin beschäftigen sich weltweit mit den Herausforderungen, die die rasch wachsenden Metropolen mit sich bringen. Dass das Wissenschaftsjahr, eine Initiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, die "Zukunftsstadt" ins Visier nimmt, verdeutlicht die hiesige Bedeutung des Themas, zu dem es auch an der Universität Münster viele Projekte gibt. Am Institut für Geoinformatik (IFGI) bildet dieser Forschungszweig einen eigenen Schwerpunkt. Kürzlich gründete die WWU mit der Universität Lissabon (Portugal) und der spanischen Universität Jaume I. ein internationales, durch die Europäische Kommission gefördertes Graduiertenkolleg. Die 15 beteiligten Doktoranden werden zukünftig eine Art IT-gestützten Werkzeugkasten für Städte entwickeln. "Städte und Kommunen sollen auf diese Weise die Möglichkeit haben, Dienstleistungen anzubieten, beispielsweise über Smartphone-Apps", erklärt Kolleg-Betreuer Prof. Christian Kray.

Städte, die mit Hilfe von IT lebenswerter für ihre Bewohner und für die Umwelt verträglicher gestaltet sind, werden oft mit dem Begriff "Smart City" versehen. Dieses Konzept einer intelligenten Stadt prägten Experten in den vergangenen Jahren. Die Lösungsansätze einer Smart City mit intelligenten Häusern, Energie- und Verkehrsnetzen, die digital steuer- und so effizient nutzbar sind, sollen Problemen wie Platzmangel, Verkehrsinfarkte, Verschmutzung und Ressourcenhunger Einhalt gebieten. Doch wie nah ist die Zukunftsstadt, wenn wir bereits mit Navis durch Städte fahren, unser Parkhausticket mit dem Smartphone bezahlen oder Werbetafeln in Asien anhand von Gesichtserkennungssensoren wissen, ob sie Botschaften für Männer oder Frauen anzeigen sollen?

Arbeitsgruppe testet die moderne Stadt im Labor

Für Christian Kray ist die Zukunftsstadt mehr als eine Vision, sie ist Realität, denn er und seine Arbeitsgruppe testen die moderne Stadt im Labor. Auf drei Videowänden können die Wissenschaftler jeden zuvor gefilmten städtischen Ort in einer Dauerschleife so wiedergeben, dass ein Betrachter den Eindruck bekommt, er befände sich dort. Immersive Video-Umgebung nennt sich dieses 180-Grad-Blickfeld, das gerade den Trubel am münsterschen Bahnhof zeigt.

Nachmittagstrubel am Bahnhof auf einer 180-Grad-Leinwand.<address>© Foto: IFGI</address>
Nachmittagstrubel am Bahnhof auf einer 180-Grad-Leinwand.
© Foto: IFGI
Menschen hasten vorbei, Busse durchqueren das Blickfeld, alles so, wie es der Münsteraner kennt. Nur eine Säule mit Bildschirm scheint neu zu sein. Erst als ein Mann im Video mitten durch die Säule läuft, fällt auf, dass sie lediglich animiert und nachträglich in die Videoschleife eingespeist wurde. Christian Kray und seine Arbeitsgruppe entwickeln und testen in dieser virtuellen Stadt Smartphone-Applikationen. "Wir können beispielsweise Städteführer oder Navigationssysteme ausprobieren, ohne dafür vor Ort sein zu müssen." Die Forscher können so herausfinden, ob Wegbeschreibungen und Informationen auf einem mobilen Gerät verständlich funktionieren.

In der virtuellen Umgebung lässt sich ebenso die Zusammenarbeit von unterschiedlichen Programmen simulieren. Die animierte Säule beispielsweise ist Teil der Doktorarbeit von Morin Ostkamp. Er erforscht, welche Informationen Bürger bereit wären, mittels ihrer Smartphones auf solch einem Bildschirm zu verwenden. "Es wäre denkbar, dass mir sobald ich mit meinem Smartphone vor den Screen trete, angezeigt wird, welche Strecke ich mit dem Zug nehmen möchte und ob alles nach Plan verläuft", erklärt der Doktorand. Das eigene Reiseziel wäre so allerdings im öffentlichen Raum sichtbar. "Es ist die Frage, welche Informationen Bürger bereit sind, dort zu teilen, und was unternommen werden kann, um die Nutzung möglich zu machen. Beispielsweise könnten spezielle Displays oder Folien die Sicht für andere einschränken."

Bürger an Planung und Entscheidungsprozess beteiligen

Die Anwendungsmöglichkeiten der Videoumgebung sind vielseitig. "Stadtverwaltungen könnten Bürgern zeigen, wie ein neues Gebäude in ihrer Stadt aussehen würde. Niemand müsste mehr unverständliche Bebauungspläne entziffern. Das wäre sehr hilfreich bei Bürger-entscheiden", erklärt Christian Kray zukünftige Verwendung im städtischen Bereich. Von diesem demokratischen Gedanken sind viele Forschungsprojekte des IFGI gekennzeichnet. Die Zukunftsstadt soll nicht nur durch den Einsatz von Informationstechnologien intelligent, sondern auch transparent werden und ihre Bürger an Planung und Entscheidungsprozess beteiligen, betont der Geoinformatiker.

Das Versprechen von mehr Beteiligung und Freiheit kommt allerdings in Begleitung diverser Risiken. "Smart City ist ein Label, das sich jeder zu eigen machen kann. Wollen wir IT-Konzernen, die technische Lösungen für ganze Städteverwaltungen anbieten, die Kontrolle über den öffentlichen Raum lassen", fragt Dr. Thomas Bartoschek. Er arbeitet in unterschiedlichen Projekten am IFGI daran, Jugendlichen und Kindern nicht nur naturwissenschaftliche Themen näher zu bringen, sondern sie auch für Chancen und Probleme einer IT-gesteuerten Welt zu sensibilisieren. "Wir entwickeln mit den Schülern geoinformatische Lösung für ihre Alltagsprobleme und diskutieren mit ihnen die ethischen Probleme der Datensicherheit." In einem der Projekte entwickelten Schüler ein Chipsystem für den Schulbus, das abhängig von den Fahrgästen die optimale Busroute berechnet, ohne den Wohnort miteinzubeziehen.

Die smarte Stadt ist bereits Realität. Sei es in extremer Form, wie die im Bau befindliche chinesische Konzeptstadt Lingang oder der interaktive Stadtführer auf dem Smartphone im Kleinen. "Es gilt, von den unterschiedlichen Praxisbeispielen zu lernen und zuallerst die Frage zu stellen, wo uns die Vernetzung hinführt und ob sie eine demokratische sein kann. Das ist der Anfang", meint Armin Grunwald.

Julia Nüllen (aus der Januarausgabe der wissen|leben)