Angelika Lampen / Christine D. Schmidt
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Exulantenstadt

Den Begriff Exulantenstadt prägte Heinz Stoob (DNB) in seiner Typologie frühneuzeitlicher Städte. Es werden darunter solche Städte gezählt, die ihr konfessionelles und/oder wirtschaftliches Profil erst durch den Zustrom von Migranten ausbildeten. Die Ansiedlung von Zuwanderern ging häufig mit einer wirtschaftlichen Privilegierung des Landesherrn einher, der sich davon einen wirtschaftlichen Vorteil versprach. In der Regel siedelten sich größere oder kleinere Gruppen von Migranten in bereits bestehenden Städten an. In einigen Orten führte dies zur Anlage neuer Stadtviertel, die durch die Zugezogenen und deren Infrastruktur geprägt wurden. Einzelne Städte wurden vollständig neu gegründet, vor allem zur Ansiedlung von Calvinisten.

Bereits im 16. Jh. suchten zahlreiche Glaubensflüchtlinge aus Frankreich und den Niederlanden in den protestantischen Ländern des Alten Reiches Zuflucht. Nach der Aufhebung des Toleranzediktes von Nantes durch Ludwig XIV. (DNB) im Jahr 1685 kam es zu einer weiteren Flüchtlingswelle von Hugenotten. Vor allem dieser zweite Zustrom führte zur Entstehung neuer Städte. Schätzungen zufolge waren mehr als eine halbe Million Menschen auf der Flucht, von denen viele in den Niederlanden und der Schweiz einwanderten. Ca. 50.000 gelangten in die Territorien protestantischer Landesherren des Alten Reiches, die nach dem Dreißigjährigen Krieg mit vielen Problemen kämpften. Zahlreiche Städte waren entvölkert und durch Zerstörung oder Krankheiten soweit dezimiert, dass sie Dörfern glichen. Den Glaubensflüchtlingen wurden daher weitreichende Privilegien erteilt, die vor allem den Wiederaufbau der Häuser und der Infrastruktur sowie die Bewirtschaftung der brach liegenden Ländereien zum Ziel hatten.

Zentral für die Ansiedlung von Exulanten war der Innovationsschub, den sich der jeweilige Landesherr versprach. Mit den Flüchtlingen kamen Know-how, neue Wirtschaftszweige und vor allem Kapital in die Städte. So zeichneten sich niederländische Zuwanderer „im gewerblichen Bereich durch hohe Spezialisierung und moderne, fortgeschrittene Produktionsmethoden und -techniken“ aus, besonders im Textilgewerbe (Schilling 1972, S. 24). Aufgrund der ihnen gewährten Privilegien, u.a. der Befreiung von Zöllen und Steuern und der Aufhebung von Handelsbeschränkungen, waren die Zuwanderer eng an die landesherrliche Wirtschaftspolitik gebunden. Exulantenstädte sind insofern ein Beispiel für die durch landesherrliche Initiative und Maßnahmen geprägte frühneuzeitliche Stadt.

Ein frühes Beispiel einer für und von Migranten gegründeten Stadt ist die Neustadt Hanau, deren Bau bereits Ende des 16. Jhs. geplant, begonnen und nach dem Dreißigjährigen Krieg fortgeführt wurde. Ausgangspunkt der Stadtgründung war der lang andauernde Konflikt der überwiegend aus französischen und niederländischen Exulanten bestehenden reformierten Gemeinde der Stadt Frankfurt mit dem dortigen lutherischen Stadtrat. Dieser führte zur Auslagerung des reformierten Gottesdienstes aus Frankfurt und schließlich zum Auszug der gesamten reformierten Gemeinde. Philipp Ludwig II. von Hanau-Münzenberg (DNB) bestätigte den Exulanten 1597 bzw. 1604 die Ansiedlung in der Neustadt Hanau, die als selbstständiges Gemeinwesen neben die Altstadt Hanau trat. Erst 1821 wurden die beiden Städte zur Stadt Hanau vereinigt. Die Neustadt wurde als moderne barocke Befestigungsanlage auf einem schachbrettartigen Grundriss erbaut. Die Anlage, die sich in ihren Proportionen am Goldenen Schnitt orientierte, gab wichtige Impulse für den Städtebau des 17. Jhs. Zahlreiche Landesherren besuchten die Stadt, um sich inspirieren zu lassen.

Ein weiteres Beispiel für eine Stadtgründung, die im Zusammenhang mit der Ansiedlung von Flüchtlingen stand, ist Mannheim. Kurfürst Friedrich IV. von der Pfalz (DNB) ließ das bestehende Dorf 1606 zerstören, um an seiner Stelle eine Stadt zu errichten, die auch unter festungstechnischen Aspekten als Bollwerk gegen die katholische Partei dienen sollte. In den Plänen der Stadt erkennt man zum einen deutlich die Intention der Verteidigung (in Form von Festungsbauten mit Zitadelle und Wällen) und zum anderen die rasterartige Anlage der Baublöcke. Zahlreiche Privilegien, die auch in Französisch und Niederländisch bekannt gemacht wurden, sollten es den Glaubensflüchtlingen aus den Niederlanden und Frankreich erleichtern, in der neuen Stadt Handel und Gewerbe zu treiben. Hierzu zählten u.a. verschiedene Steuerbefreiungen, die unentgeltliche Bereitstellung von Bauplätzen und Baumaterial sowie ein Vorkaufsrecht auf alle Ausfuhren von Wolle und Leder aus der Pfalz. Die Stadt wuchs, befand sich aber noch im Aufbau, als sie während des Dreißigjährigen Krieges 1620 fast vollständig zerstört wurde. Nach dem Krieg waren es wiederum zunächst vor allem Zuwanderer, die die Stadt neu aufbauten.

Angelika Lampen/Christine D. Schmidt (1.9.2014)

Literaturhinweise

  • Bischoff, Johannes E.: Lexikon deutscher Hugenotten-Orte, Bad Karlshafen 1994.
  • Esser, Raingard: Art. „Exulantenstadt“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3: Dynastie-Freundschaftslinien, hg. v. Friedrich Jaeger, Stuttgart [u.a.] 2006, Sp. 732–733.
  • Klingebiel, Thomas: Die Hugenotten in den welfischen Landen. Eine Privilegiensammlung, Bad Karlshafen 1994.
  • Stubenvoll, Willi: Die deutschen Hugenottenstädte, Frankfurt a. M. 1990.
  • Schilling, Heinz: Niederländische Exulanten im 16. Jahrhundert. Ihre Stellung im Sozialgefüge und im religiösen Leben deutscher und englischer Städte, Gütersloh 1972.
  • Stoob, Heinz: Über frühneuzeitliche Städtetypen, in: Räume, Formen und Schichten der mitteleuropäischen Städte. Eine Aufsatzfolge, hg. v. Heinz Stoob (Forschungen zum Städtewesen in Europa 1), Köln [u.a.] 1970, S. 246–284.

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