Teilprojekt C03

Entscheidungen durch das Los in Mittelalter und Früher Neuzeit

Losen ist der Extremfall des Entscheidens. Beim Losen wird die Entscheidung von jeder Abwägung der Optionen radikal getrennt, die Entscheidung als Ereignis sinnfällig inszeniert und die Kontingenz des Entscheidens dramatisch betont. Eine Entscheidung auszulosen heißt, sie zu externalisieren, indem man sie entweder dem blinden Zufall oder dem göttlichen Willen anheimstellt und sie so auf einer den Akteuren selbst nicht verfügbaren Ebene ansiedelt. Dass beim Losen darauf verzichtet wird, die Optionen abzuwägen, heißt keineswegs, dass das Losen selbst irrational wäre – das Los kann vielmehr ein sinnvoller und zweckmäßiger Verfahrensmodus sein. Denn das Los – ein „organisierter Zufall“ (Goodwin) – entkoppelt die Entscheidung zwar von jeder Deliberation, aber immer nur innerhalb eines bestimmten Rahmens, auf den man sich zuvor geeinigt hat. Innerhalb dieses Rahmens wird durch das Los vollständige Chancengleichheit der Optionen hergestellt und von allen tatsächlichen Unterschieden abgesehen. Das kann etwa dazu dienen, eine Entscheidung gegen Einflussnahme Dritter abzuschirmen, Gleichheit unter den Losenden herzustellen und ihre korporative Einheit zu bekräftigen oder den Ausweg aus einer Pattsituation zu eröffnen.

Heutzutage erscheinen Losverfahren befremdlich: Wer vorschlägt, eine Entscheidung auszulosen, meint das meist als indirekte Kritik an der Irrationalität bestehender Entscheidungsverfahren. In Mittelalter und Früher Neuzeit hingegen wurde auf das Los in ganz verschiedenen Kontexten und Entscheidungssituationen zurückgegriffen. Das wirft die Frage nach seiner kulturspezifischen sozialen Logik auf. Das Projekt ging von der Annahme aus, dass der unterschiedliche Umgang mit dem Los einen Schlüssel zu unterschiedlichen Kulturen des Entscheidens bietet. Wir untersuchten die Anwendung von Loselementen im Rahmen kollektiver Entscheidungsverfahren in Mittelalter und Früher Neuzeit und fragten nach deren jeweiligen Voraussetzungen, Rahmenbedingungen, Zielen und Effekten. Das Teilprojekt konzentrierte sich zum einen auf die Wahlen zu geistlichen Ämtern (Unterprojekt A; Bearbeiter: Fabian Erben) und zum anderen auf die städtischen Ratswahlen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Unterprojekt B; Bearbeiter André Stappert). Es ging uns darum zu analysieren, wann, wie und warum das Los in komplexere Entscheidungsverfahren eingebettet wurde, welche symbolischen und instrumentellen Funktionen es hatte und was das über die betreffende spezifische Kultur des Entscheidens aussagt.

Publikationen

Barbara Stollberg-Rilinger

  • Cultures of Decision-Making, London 2016a.
  • Symbolik und Technik des Wählens in der Vormoderne, in: Kultur und Praxis der Wahlen. Eine Geschichte der modernen Demokratie, hrsg. von Hedwig Richter und Hubertus Buchstein, Wiesbaden 2016b, S. 31-62.
  • Warum nicht losen?, in: 51°, Magazin der Stiftung Mercator 3 (2017), S. 12-15.
  • Entscheidung durch das Los. Der Zufall als Entscheidungsmedium in der Frühen Neuzeit, in: forschung. Magazin der DFG 1 (2018), S. 6-11.
  • Gunst als Ressource? Personalentscheidungen am Wiener Hof des 18. Jahrhunderts, in: Kulturen des Entscheidens. Narrative – Praktiken – Ressourcen (Kulturen des Entscheidens, 1), hrsg. von Ulrich Pfister, Göttingen 2019a, S. 230-247.
  • Decision, in: Keywords, hrsg. von Ulrike Ludwig et al., 2019b (zum Druck angenommen).

Wolfgang Eric Wagner

  • „Ein bisschen Zufall“ – Zum Einsatz von Losverfahren an der mittelalterlichen Universität als Strategie der Risikovermeidung, in: Benjamin Scheller (Hrsg.), Kulturen des Risikos im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (Schriften des Historischen Kollegs, Bd. 99.), Berlin/Boston 2019, S. 107-123.
  • Der ausgeloste Bischof. Zu Situation und Funktion des Losverfahrens bei der Besetzung hoher Kirchenämter im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 305 (2017), S. 307-333.
  • „Ein bisschen Zufall“ – Zum Einsatz von Losverfahren an der mittelalterlichen Universität als Strategie der Risikovermeidung, in: Kulturen des Risikos im Europa des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hrsg. von Benjamin Scheller, Berlin, Boston 2018 (im Druck).

Fabian Erben

  • (zusammen mit Hanno JANSEN) Tagungsbericht „Entscheidungsfindung in spätmittelalterlichen Gemeinschaften“, in: H-Soz-Kult, 23.07.2018, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=7797.

André Stappert

  • „Aller Unrichticheit, Verdacht und argwhoniger Reden vurzubouwen“. Das Los in den Ratswahlen der märkischen Landstadt Unna um 1600, in: Expériences du tirage au sort en Suisse et en Europe. Un état des lieux, hrsg. von Antoine Chollet und Alexandre Fontaine, Bern 2018, S. 91-118.
  • (zusammen mit Alexander DURBEN et al.) Interaktion und Schriftlichkeit als Ressourcen des Entscheidens (ca. 1500-1850), in: Kulturen des Entscheidens. Narrative – Praktiken – Ressourcen (Kulturen des Entscheidens, 1), hrsg. von Ulrich Pfister, Göttingen 2019, S. 168-208.