Entscheiden als Zumutung

Unizeitung „wissen|leben“ stellt den SFB 1150 „Kulturen des Entscheidens“ vor

Wissen Leben 01 2016-2
Interview mit dem Sprecher des Sonderforschungsbereichs „Kulturen des Entscheidens“, Prof. Dr. Ulrich Pfister.
© upm/wissen|leben

Im neuen SFB 1150 „Kulturen des Entscheidens“ arbeiteten zahlreiche Wissenschaftler der Universität interdisziplinär zusammen. Vertreten sind die Fächer Geschichte, Literaturwissenschaft, Rechtswissenschaft, Philosophie, Ethnologie, Byzantinistik und Judaistik. Jedes Jahr stehen dem Forschungsverbund rund zwei Millionen Euro von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zur Verfügung. Über die Ziele und Wege des zunächst für vier Jahre bewilligten Sonderforschungsbereiches sprach Juliane Albrecht mit dem Sprecher des SFB, dem Sozial- und Wirtschaftshistoriker Prof. Dr. Ulrich Pfister. Das Interview ist in der aktuellen Ausgabe der Unizeitung „wissen|leben“ erschienen.

Was werden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit ihrer Arbeit über die Kulturen des Entscheidens erforschen?

Die derzeitige Forschung zu Entscheidungen interessiert sich bisher vornehmlich für die Ergebnisse des Entscheidens, die Entscheidungen. Sie verfolgt das Ziel, Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie bessere Entscheidungen getroffen werden können. Neu ist, dass wir nicht die Entscheidung, sondern das Entscheiden in den Mittelpunkt rücken.

Was genau ist das Neue daran?

Zunächst verstehen wir Entscheiden als eine Form des sozialen Handelns, als einen interaktiven Prozess, und nicht als einen mentalen Vorgang. Damit hängen zwei wichtige Gedanken zusammen. Erstens: Entscheiden ist eine Zumutung für die am Entscheiden beteiligten Personen. Diese Zumutung hängt damit zusammen, dass beim Entscheiden zunächst mögliche Alternativen entwickelt werden. Am Endpunkt des Entscheidens wird eine Alternative ausgewählt, und alle anderen werden ausgeschieden. Diese Zumutung führt dazu, dass Entscheiden unter einem sehr hohen Legitimationsdruck steht. Wir interessieren uns dafür, wie Gesellschaften in der Vergangenheit und der Gegenwart mit dieser Zumutung umgehen und auf welchen kulturellen Grundlagen – eben Kulturen des Entscheidens – dies beruht. Eine häufig zu beobachtende Möglichkeit kann dabei darin bestehen, Entscheidungen zunächst zu verschieben oder gar überhaupt keine Entscheidung zu treffen. Das zweite wichtige ist, dass Entscheiden aus der Alltagsroutine herausgenommen und institutionalisiert wird, zum Beispiel, wenn die Inhalte der Universitätszeitung in einer eigenen Redaktionssitzung festgelegt werden müssen. Das sind einige Schwerpunkte unseres Forschungsprogramms und die Richtung, in die wir gehen wollen. Wir verstehen dies als eine Form der Grundlagenforschung, die neue und genuin kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Entscheiden eröffnen möchte.

Glauben Sie, dass infolge dessen dann mit den Forschungsergebnissen manche Passage in Geschichtsbüchern neu geschrieben werden muss?

Änderungen in den Geschichtsbüchern wird es wohl nicht geben müssen. Aber bei der Beurteilung langfristiger Vorgänge wird man womöglich genauer sagen können, wie in bestimmten Situationen entschieden wurde und warum bestimmte Entscheidungen getroffen wurden – oder eben gerade auch nicht. Die Frage, warum etwas zu diesem Zeitpunkt so entschieden wurde und später oder früher ganz anders, kann man dann vielleicht besser erklären. Es geht uns aber schon auch darum, Geschichte anders zu beschreiben und zu verstehen, als dies etwa bei der klassischen Politikgeschichte der Fall ist. Diese geht ja von getroffenen Entscheidungen als historischen Ereignissen aus und fragt nach deren Zustandekommen und den Folgen sowie danach, warum dieser oder jener Politiker diese oder jene Entscheidung gefällt hat. Wir dagegen interessieren uns aber gerade auch für solche Fälle von Entscheiden, bei denen gar keine Entscheidung getroffen wurde. Meiner Beobachtung nach dürfte das wohl sogar die große Mehrheit sein.

Privates und religiöses Entscheiden

Im SFB werden Praktiken des Entscheidens untersucht, die wir dem privaten Bereich zuordnen und denen eine existenzielle Bedeutung zugemessen wird. Autobiografien, die Prof. Martina Wagner-Egelhaaf untersucht, haben unser Verständnis geprägt, ob und wie über solche Fragen entschieden wurde. Richtet man den Blick auf andere Gesellschaften, zeigt sich, dass sie dort in unterschiedlicher Weise beantwortet werden. Ein von Prof. Helene Basu geleitetes Projekt zu Ehe und Heirat in Indien zeigt, wie sehr traditionelle und moderne „Kulturen des Entscheidens“ aufeinander stoßen. Grundlegende Probleme werden aufgeworfen, wenn man sich dem religiösen Bereich zuwendet, und zwar gerade bei der Frage, ob über Glaubensfragen überhaupt entschieden werden kann. In der Vormoderne hatte die Frage, woran einzelne Menschen glaubten, eine herausragende Bedeutung für das öffentliche Zusammenleben. Entsprechend wurden Verfahren wie die Inquisition, die in Projekten von Prof. Sita Steckel und Prof. Wolfram Drews untersucht wird, eingerichtet, die in Glaubensfragen entscheiden sollten. In der Reformation wurde die Frage, ob es möglich ist, über religiöse Wahrheit zu entscheiden, zum Problem. Entsprechend, so Projektleiter Prof. Matthias Pohlig, erscheint die frühe Reformation als ein „entscheidenskulturelles Experimentierfeld“, in der neue Formen entwickelt wurden.

Politisches Entscheiden

Hier werden Formen politischen Entscheidens vom Mittelalter bis zur Zeitgeschichte untersucht. Dabei zeigt sich, wie sehr sich Gesellschaften darin unterscheiden, was sie als politisches Entscheiden ansahen. Dies gilt auch für moderne Staatlichkeit, die Garantie und Herstellung von Sicherheit. Was gerade darunter gefasst wurde, unterlag zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert einem grundlegenden Wandel. Ein Projekt von Prof. Rolf Ahmann und Prof. André Krischer zeigt dies am Beispiel Großbritanniens.
Fragen der Sicherheit bestimmten auch Debatten, die in der Nachkriegszeit über Atompolitik und Kernenergie geführt wurden. Diese werden in zwei Projekten von Prof. Thomas Großbölting und Prof. Eduard Mühle zum politischen Entscheiden in der Bundesrepublik und der Tschechoslowakei behandelt. Es zeigt sich, dass es zwischen West und Ost trotz ideologischer Gegensätze viele Gemeinsamkeiten in den jeweiligen Kulturen des politischen Entscheidens gab. So war in beiden Systemen in den 1960er und 70er Jahren der Glaube verbreitet, politisches Entscheiden durch die Einführung fortschrittlicher Technologien und den Rückgriff auf wissenschaftlich fundierte Modelle „rationalen Entscheidens“ zu optimieren. Gemeinsam ist aber auch, dass sich die damit verbundenen Hoffnungen in Ost und West aufgrund der Vielgestaltigkeit des politischen Alltags nicht erfüllten. (upm/wissen|leben/SFB)