„Häresie des Ungehorsams“

Historiker Gerd Althoff über sein neues Buch über Päpste und Gewalt im Mittelalter

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Prof. Dr. Gerd Althoff

© WWU/ Peter Grewer

Historiker Prof. Dr. Gerd Althoff hat eine neue Studie über „Päpste und Gewalt im Hochmittelalter“ vorgelegt. Im Interview mit dem Zentrum für Wissenschaftskommunikation erläutert der Forscher des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der Universität Münster, warum sich die Kirche des 11. Jahrhunderts für die Anwendung von Gewalt einsetzte und dafür eine ganze Theorie entwickelte.

Wie kam es, dass Päpste des Mittelalters für Gewaltanwendung plädierten?

Päpste und Geistliche entwickelten in einer Fülle von Streitschriften, Briefen und Traktaten eine Theorie zur Rechtfertigung von Gewalt gegen Ungehorsame und Ungläubige. Die Autoren breiteten ihre theologischen Argumente aus und beriefen sich vor allem auf das Alte Testament und die Kirchenväter: Schon Augustinus (354-430) hatte erlaubt, Häresie mit Gewalt zu bekämpfen. In bornierter Einseitigkeit ignorierte das Reformpapsttum Bibelstellen zur Nächsten- und Feindesliebe, obwohl diese auch im Mittelalter vielen als markante Botschaften des Christentums galten.

Zuvor hatte die Kirche lange ein distanziertes Verhältnis zur Gewalt. Das Christentum formuliert ja viele Friedensgebote und das Gebot der Nächsten- und Feindesliebe. Die Kirche war zwar, seit sie zur Staatsreligion wurde, an gewaltsamen Aktionen der Staatsgewalt beteiligt – aber nicht durch Kleriker, sondern nur durch ihre weltlichen Vasallen. Ab dem 11. Jahrhundert ist eine Wende zu verzeichnen. Die Päpste griffen nun direkt auf Krieger zu und ließen sie in ihrem Auftrag Gewalt anwenden.

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Buchcover

© Konrad Theiss Verlag

Welche Bibelstellen hoben die Päpste zur Rechtfertigung von Gewalt hervor?

Es sind vor allem Geschichten aus dem Alten Testament, in denen ein zorniger Gott seinen Propheten Vernichtungsaufträge gibt, gegen Menschen, die ihn nicht kennen, nicht verehren oder ihn wegen Ungehorsams erzürnen lassen. Zitiert wurde zum Beispiel die Geschichte von Pinchas aus dem Buch Moses, der aus Eifer für Gott Menschen tötet. Oder die Leviten wurden herangezogen, die ihre eigenen Brüder und Verwandten erschlagen. Auch die Rotte Korach, die durch Gottes Eingreifen vom Erdboden verschwindet, weil sie sich gegen die Priester gewendet hatte.

Allein von Papst Gregor VII. (1073-1085) sind mehr als 500 Briefe überliefert. In vielen verweist er auf Bibelstellen, um die eigene Position zur Rechtfertigung von Gewalt zu stützen. Er zitierte in der Krise seines Pontifikats gut 20 Mal die Geschichte der Verwerfung König Sauls durch den Propheten Samuel. Der Prophet selbst vollzog hier die Tötung des gegnerischen Königs, die König Saul unterlassen hatte. Gott sei Gehorsam wichtiger als Opfer, heißt es da. Und Ungehorsam werte er wie Häresie.

Gehorsam steht stets im Mittelpunkt…

Ja, die Päpste zogen auch das Neue Testament heran, um abzusichern, dass sie Gehorsam fordern könnten, die berühmte Stelle von der Binde- und Lösegewalt in Matthäus 16, 18. Christus sagt zu Petrus: „Alles, was Du auf Erden binden wirst, wird auch im Himmel gebunden sein. Und alles, was Du auf Erden lösen wirst, wird auch im Himmel gelöst sein.“ Diese Stelle hatte man zuvor lediglich auf die Fähigkeit aller Priester zur Sündenvergebung bezogen. In der Zeit Gregors VII. macht man daraus das Recht des Papstes, dass jedem seiner Befehle gehorcht werden müsse, weil sie im Einklang mit himmlischen Befehlen stünden. Eine klare Verschärfung der Interpretation.

Bischof Bonizo von Sutri ging im 11. Jahrhundert sogar so weit, die Bergpredigt zu verkehren, wie der Titel meines Buches „Selig sind, die Verfolgung ausüben“ verdeutlicht. Er schrieb, es seien auch die Menschen „selig zu preisen, die um der Gerechtigkeit willen Verfolgung ausüben“ – nicht nur die, die verfolgt würden. So erarbeitete das Papsttum eine Lehre, die auf einen Gottesstaat zielte und alle zu Häretikern erklärte, die Ungehorsam gegen die Kirche zeigten.

Warum lässt sich von einer Gewalttheorie sprechen?

Die Bibelstellen – das kann man voraussetzen – waren immer bekannt. Doch bis zum 11. Jahrhundert wurden sie in der Exegese gar nicht genutzt. Dann aber treten sie stark in den Vordergrund. Offenbar stoßen die Päpste des Hochmittelalters bei erneuter Bibellektüre auf diese Textstellen, die Potenzial zur Rechtfertigung von Gewalt haben. Wenn man diese Textstellen zusammenzieht, ergibt sich eine stringente Argumentation. Aus den normativen Sätzen der Bibel wird eine Handlungsplattform entwickelt, eine Theorie, auf deren Basis man Herrschaft ausüben kann – über Kirche und Welt. Man gab sich nicht mit der Freiheit der Kirche zufrieden, sondern wollte die „plenitudo potestatis“, die Vollgewalt über Kirche und Welt.

Was war der Auslöser für die Gewalttheorie?

Auslöser war die Kirchenpolitik Kaiser Heinrichs III. (1039-1056), der die Kirche durch die Ein- und Absetzung von Päpsten so dominierte, dass sie ihre Freiheit in Gefahr sah. Diese Fremdbestimmung führte zu gewaltigen geistigen Anstrengungen, die eigenen Rechte neu aus den heiligen Schriften abzuleiten. So entdeckte man, dass die Päpste Gehorsam von allen Gläubigen fordern könnten – und dass Ungehorsam gegen päpstliche Gebote Häresie sei, gegen die man mit Gewalt vorgehen dürfe.

Sie schreiben, der Vorwurf der „Häresie des Ungehorsams“ wird zur politischen Waffe.

Die Gehorsamsforderung bezog sich auf alle – auch auf Könige und Kaiser. Gregor VII. schreibt schon in frühen Jahren Heinrich IV. (1056-1106) einen Brief mit der Grußformel: „Heinrich IV. Gruß und Segen, wenn er denn wie ein Christ gehorcht.“ Dieser Anspruch der Kirche zielte auf eine unglaubliche Veränderung der Welt.

Auch innerkirchlich verlangt der Papst Gehorsam?

Zuvor hatten sich die Bischöfe als Brüder des Papstes verstanden. Man beriet sich und suchte den Konsens. Jedenfalls nahm man keine Befehle entgegen. Die Reformpäpste aber zitieren die Bischöfe nun plötzlich nach Rom, wo sie sich Absetzungsverfahren unterziehen müssen, wenn sie ungehorsam waren – wenn sie etwa den Zölibat der Kleriker nicht streng genug überwacht hatten oder wenn sie Simonie betrieben, Handel mit geistlichen Dingen wie Kirchenämtern.

Sorgte das für Kritik?

Die Gewalttheorie rief bereits unter Zeitgenossen Kritik hervor. Gegner des Reformpapsttums wiesen in Streitschriften vehement darauf hin, dass die päpstliche Lehre der Friedens-, Nächsten- und Feindesliebe des Neuen Testaments diametral widersprach. Sie forderten Tugenden wie Demut, Freundlichkeit, Sanftmut, Liebe und Güte. Durchgesetzt hat sich im Hochmittelalter jedoch zunächst die päpstliche Argumentation. Innerkirchlich führte das zur Hierarchisierung und päpstlichen Vorherrschaft. Außerhalb der Kirche sollte das für eine faktische Obergewalt der Kirche über die weltlichen Herrscher sorgen.

Ging die Theorie denn tatsächlich in Gewalt über?

Die neue Lehre wurde schon bald in bewaffneten Aktionen umgesetzt. Gegen Könige und Kaiser wurde ab 1075 gekämpft, auch gegen Geistliche, etwa den Gegenpapst, den der Kaiser gegen Gregor VII. hatte einsetzen lassen. In den Schlachten, in Sachsen und Italien, ist viel Blut geflossen – alles unter dem Prinzip „Selig sind, die Verfolgung ausüben“. Weitere Folgen der Gewalttheorie waren dann die Kreuzzüge, Ketzerkriege, Inquisition und Verfolgung von Häretikern. Papst Urban II. (1085-1099) bezog sich mit Psalm 79 auf den zornigen Gott des Alten Testaments, als er 1095 zum ersten Kreuzzug aufrief. Auch mit anderen Bibelstellen motivierten die Päpste christliche Krieger zum Waffeneinsatz. Bischöfe und Kleriker begleiteten das Heer mit Psalmengesängen ins Feld. Es gibt viele Belege, dass Kleriker bis in die Schlacht hinein die Führung behielten.

Die Kreuzzüge sind bereits gut erforscht.

Die Forschung hat den Blick lange auf die Kreuzzüge und Ketzerkriege verengt. Die grundsätzliche Hinwendung der Kirche zur Gewalt jedoch und ihre theoretische Begründung durch eine neuartige Auslegung der heiligen Schriften hat sie übersehen. Die Kirchengeschichte zeigt hier blinde Flecken. Die Konflikte Papst Gregors VII. und seiner Nachfolger mit den salischen und staufischen Königen und Kaisern sind zwar weithin bekannt. Unbemerkt blieb dagegen, wie die Reformpäpste ihre Geltungsansprüche und ihre gewaltsame Umsetzung in unzähligen Schriften begründeten. Man hat sich immer gefragt: Wie konnte das Papsttum ab dem 11. Jahrhundert seinen Einfluss so steigern? Und verwies etwa auf die Persönlichkeiten der Handelnden. Erst jetzt wird klar, dass das Gedankengebäude zur Gewaltrechtfertigung viele Menschen fasziniert haben muss. Weitere Untersuchungen sind daher notwendig, auch zur Wirkung der gregorianischen Gewalttheorie in späteren Jahrhunderten. Inzwischen ist die Kirche seit langem in der Gewaltfrage von den gregorianischen Vorstellungen abgewichen. Der Wandel ist allerdings stillschweigend geschehen. Und die päpstlichen Geltungsansprüche auf Gehorsam und Suprematie hat er nicht erfasst.

Wirkt sich das bis heute aus?

Das Reformpapsttum hat den römischen Zentralismus, die päpstliche Unfehlbarkeit und Jurisdiktionsgewalt sowie die Verschärfung des Zölibats grundgelegt, die bis heute innerhalb und außerhalb der Kirche Gegenstand kontroverser Debatten sind. Im 19. Jahrhundert verdichtete das Erste Vatikanische Konzil dies dogmatisch. Man bezog sich ausdrücklich auf die Päpste des Hochmittelalters. Dass die Geltungsansprüche damals mit einer Gewalttheorie begründet wurden, war in Vergessen geraten. Das Zweite Vatikanum (1962-1965) schwächte manches ab. Doch im Kern besteht der römische Zentralismus weiter, und er sorgt für Diskussionen. Die neuen Einsichten enthüllen, in welchem Ausmaß er auf exegetischen Ergebnissen beruhte, die heute wohl niemand mehr teilt. Daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen, steht also zur Aufgabe.

Interview: Viola van Melis

Hinweis: Sendefähige O-Töne können bei Hanno Schiffer (Tel.: 0251/83-23376) angefragt werden und lassen sich hier anhören.