(C2-19) Traditionelle Religionen und vagierende Religiosität als Motoren politisch-sozialer Bewegungen im 19. Jahrhundert

Religiosität bietet auch und vielleicht ganz besonders in Umbruch- und Krisenzeiten Orientierungs- und Rechtfertigungsmodelle für politisch-soziale Bewegungen und erhält dadurch eine besondere gesellschaftliche Relevanz. Im Zeitalter der Französischen Revolutionen zwischen 1789 und 1871 und später mit der Entstehung des politischen Massenmarktes am Ende des 19. Jahrhunderts greifen auch politische Alternativen und Oppositionsentwürfe und/oder politisch-soziale Bewegungen auf religiöse Überzeugungen und eine religiöse Formensprache zurück, um ihren Konzepten eine zusätzliche Legitimations- und Mobilisierungskraft zu verleihen. Dieses Bedürfnis begründet sich unter anderem in dem Wunsch, dem jeweiligen Sozialmodell eine allgemeine Letztverbindlichkeit zuzuschreiben und an bestehende Organisations- und Kommunikationsformen anzuknüpfen. Im Kontext einer nach wie stark von traditioneller Religiosität geprägten Gesellschaft geschieht dies nach 1789 durch einen Transfer des Religiösen auf den politisch-sozialen Bereich. Zur Erklärung dieses Phänomens wird in der Forschung vielfach der nicht unproblematische Begriff der „politischen Religion“ benutzt. In Anlehnung an Thesen von Mona Ozouf und Thomas Nipperdey soll in diesem Projekt vielmehr von einem „Transfer des Sakralen“ und/oder einer „vagierenden Religiosität“ gesprochen werden. Entscheidend für die begriffliche Zuordnung werden die jeweilige Funktionen religiöser Elemente in der Begründung und Kommunikation entsprechender Sozialmodelle sein. Im Falle des französischen Frühsozialismus als einem Beispiel einer frühen sozialen Bewegung im nachrevolutionären Frankreich dient das Religiöse nach einem tiefen Bruch mit der traditionellen Deutungsmacht der Religion im Ancien Régime dem Bedürfnis nach einer neuen Harmoniestiftung und Ganzheitlichkeit, aber auch nach einer gesellschaftlichen Lösung der neu entstandenen sozialen Frage in einer bürgerlichen Ordnung. In einer stärker säkularisierten Gesellschaft an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bedeutet außerkirchliche Religiosität im Sinne von Nipperdey die Möglichkeit, in einer diesseitsbezogenen Welt für eine Alternativbewegung die Chance, an vertraute emotionale und kulturelle Einstellungen anzuknüpfen und sie gegen eine als dekadent verstandene Welt in Stellung zu bringen . Das führte bis hin zum Entwurf einer „Kunstreligion“ und diente einer neuen Identitätsvergewisserung, auch wenn sich in entsprechende Bewegungen, wie der Lebensreformbewegung, andere Denkmuster der Zeit, etwa „völkische“ oder „naturmystische“ Vorstellungen gleichrangig festgesetzt hatten.

Das Projekt interessiert sich besonders für solche Formen von Religiosität bzw. religionsähnlichen Bewegungen, die als „Gegen-Bewegung“ zur Fundamentalopposition neigten und ins Politische drängten bzw. auch eine entsprechende Praxis entwickelten. Sie reagieren auf die vermeintliche „Verletzung“ oder den „Verlust“ von alten Gewissheiten und suchen diese auf einer neuen Ebene wiederherzustellen, ohne damit eine Rückkehr zur Tradition das Wort zu reden. Vielmehr bedienen sie sich durchaus neuer Kommunikations- und Sakralisierungsstrategien. Eine These von Hermann Lübbe geht davon aus, dass zur Kompensation der Effekte der Säkularisierung neue Formen der Sakralisierung entstehen. Revolutions- und Säkularisierungsvorgänge ziehen ein Vakuum nach sich, welches neu gefüllt werden muss. Es bilden sich gesellschaftliche Bewegungen, die auf eine neue Harmonie bzw. auf die Widerherstellung einer verlorenen Ganzheit zielen. Als Fallbeispiele für den Vergleich werden die sozialen Bewegungen des französischen Frühsozialismus und der deutschen Lebensreform- bzw. Jugendbewegung herangezogen. In beiden Fällen werden neben den sozial-kulturellen Konzepten bzw. Gegenentwürfen die kulturellen Praktiken der Gruppen untersucht. Der Projektleiter hat zuletzt (2013) entsprechende Ansätze für eine Ausstellung des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg zum Thema „Aufbruch der Jugend“ entwickelt, deren Ideen und Konzeption von ihm stammen. Außerdem hat er entsprechende Beiträge für den Katalog der Ausstellung verfasst. Außerdem besteht weiterhin eine Kooperation mit Frau Dr. Christina Schröer, die sich mittlerweile an der Universität Freiburg mit dem Phänomen sakralisierter Politik in der französischen Dritten Republik zwischen 1870 und 1920 beschäftigt.


Das Projekt ist Teil der Arbeitsplattform G Religion, Politik und Geschlechterordnung und der Koordinierten Projektgruppen Säkularisierung und Sakralisierung der Medien und Sozialformen des Religiösen in der Zweiten Moderne (seit den 1960er Jahren).