„Europäischer Menschenrechtsgerichtshof ein Säkularisierungsagent“

Soziologe Matthias Koenig über die Regulierung religiöser Diversität in Europa

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Prof. Dr. Matthias Koenig
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Über Trends und Dynamiken der Regulierung religiöser Diversität in Europa hat der Göttinger Soziologe Prof. Dr. Matthias Koenig in der öffentlichen Ringvorlesung „Religionspolitik heute“ des Exzellenzclusters und des Centrums für Religion und Moderne (CRM) der WWU gesprochen. Er skizzierte diese am Beispiel des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg, der seit den 1990er-Jahren als moderater Säkularisierungsagent auf der transnationalen Ebene auftrete.

„Religiöse Diversität stellt gegenwärtig eine zentrale Herausforderung für Nationalstaaten in West- und Osteuropa dar“, sagte der Soziologe. Zu Megatrends wie Entkirchlichung, Individualisierung und Pluralisierung kämen permanente Veränderungen durch Migrationsbewegungen sowie eine neue öffentliche Auseinandersetzung um die Anerkennung religiöser Vielfalt hinzu. Die Forschung versuche diese Entwicklung je nach Perspektive durch kulturelle, politische und institutionelle Faktoren zu erklären. Allerdings würden, so der Wissenschaftler, historische Pfadabhängigkeiten „nationaler Modelle“ häufig zugunsten transnationaler Wandlungsdynamiken überbetont.

Matthias Koenig stellte dem in seinem Vortrag das Argument entgegen, dass die Herausbildung transnationaler Rechtsfelder zunehmend eine Triebfeder des Wandels von Varianten religionspolitischer Arrangements sei. Er untermauerte seine theoretischen Überlegungen durch empirische Einblicke in die Arbeit des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und dessen Regulierungsbemühungen religiöser Pluralität. Es werde ersichtlich, so Koenig, dass der EGMR „seit den 1990er Jahren neue und vielfach genutzte Gelegenheitsstrukturen für die rechtliche Mobilisierung religiöser Minderheiten geschaffen habe“.

Der Gerichtshof entwickelte sich nach den Worten des Wissenschaftlers in der Folge durch die richterliche Re-Interpretation von Normen der Religionsfreiheit und der staatlichen Neutralität zum „moderaten Säkularisierungsagenten“ in Europa, der durch direkte, indirekte und teils auch paradoxe Effekte auch Einfluss auf die nationalstaatliche Regulierung religiöser Diversität ausgeübt habe. Im Ergebnis seien die verschiedenen Varianten religionspolitischer Arrangements – von Staatskirchen-, über Kooperations- bis hin zu Trennungsmodellen – sukzessive ins Fahrwasser von Prozessen der De-Monopolisierung und Re-Regulierung religiöser Felder geraten.

Die Ringvorlesung befasst sich mit aktuellen Fragen der Religionspolitik. Ziel der Vorträge und Podien ist es, Grundsatzfragen sowie aktuelle Konflikte und Lösungen zu erörtern, auch im internationalen Vergleich. Die Reihe bringt Wissenschaft, Politik, Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften durch Vorträge und Podiumsdiskussionen ins Gespräch.

Am Dienstag, 21. Juni, spricht Politikwissenschaftler Prof. Dr. Philip Manow von der Universität Bremen über „Die religiöse Prägung des bundesdeutschen Wohlfahrtsstaates im europäischen Vergleich“. Der Vortrag beginnt um 18.15 Uhr im Hörsaal F2 des Fürstenberghauses am Domplatz 20-22. (exc/maz/vvm)