Nichtlineare Systeme und Strukturbildung (Prof. Dr. H.-G. Purwins)
Universelles Verhalten selbstorganisierter Strukturen in nichtlinearen dissipativen Systemen
Räumlich ausgedehnte nichtlineare dissipative Strukturen sind in der Natur allgegenwärtig.
Wasserwellen, elektrische Entladungsvorgänge in der Atmosphäre sowie lebende Pflanzen und
Tiere sind faszinierende Beispiele. Allen Systemen, welche derartige Strukturen ausbilden, sind folgende
Eigenschaften gemeinsam:
- Die
Systeme sind einem beständigen Strom an Energie ausgesetzt. Diese Energie wird im System dissipiert,
also in eine niederwertigere Energieform umgesetzt und wieder abgegeben. Die einströmende Energie
entstammt z.B. dem Wind über der Wasseroberfläche, den durch Reibung von
Wassertröpfchen aufgeladenen Wolken oder dem bei der Atmung von Lebewesen aufgenommenen
Sauerstoff.
- Die Systeme sind hoch nichtlinear,
sodass z.B. eine Erhöhung des einströmenden Energieflusses zu einer qualitativen Änderung
des gesamten Systemverhaltens führen kann (Bifurkation). Z.B. treten Wasserwellen überhaupt erst
oberhalb einer bestimmten endlichen Windstärke auf, Entladungserscheinungen in der Atmosphäre
erst ab einer Schwelle der elektrischen Feldstärke zwischen Wolke und Erde und Lebewesen wenn ein
Minimum an Zufuhr von Sauerstoff sichergestellt ist.
- Selbst wenn in einem System bestimmte
Positionen im Raum von vorn herein nicht ausgezeichnet sind, so können sich nach langer Zeit auf
mesoskopischer und makroskopischer Skala wohldefinierte stabile im Raum variierende Verteilungen gewisser
physikalischer Größen ergeben (Attraktoren). Solche Größen sind in den obigen
Beispielen die Höhe des Wasserspiegels, die Größe der elektrischen Stromdichte oder die
Verteilung chemischer Substanzen in lebenden Objekten.
- In identischen Systemen, also
Systemen mit gleichen Modellgleichungen und Parametersätzen, können unterschiedliche
Attraktoren eingenommen werden, je nach dem Zustand, in dem sich die Systeme anfänglich befinden
(Multistabilität).
- Auf Grund der aufgezählten Eigenschaften
und weiterer Eigenheiten zeigen räumlich ausgedehnte nichtlineare dissipative Strukturen
ausgeprägtes komplexes Verhalten und sind weitestgehend unverstanden. Das Verständnis
selbstorganisierter Strukturen in nichtlinearen dissipativen Systemen stellt deshalb, insbesondere auch in
Hinblick auf das enorme Anwendungspotenzial, eine der ganz großen Herausforderungen der modernen
Naturwissenschaften dar.
Im Mittelpunkt der Arbeiten steht die exemplarische theoretische Untersuchung von
Langzeitlösungen (Attraktoren) der folgenden nichtlinearen partiellen Differentialgleichung vom
Reaktions-Diffusions-Typ
Es konnte gezeigt werden, dass diese Aktivator-Inhibitor-Gleichung in hervorragender Weise geeignet ist,
selbstorganisierte Strukturen in Niedertemperatur-Plasmasystemen und elektrischen Netzwerken
verständlich zu machen. Damit wurde auch eine Brücke von dem großen Gebiet der
Plasmaphysik zu der großen Klasse von Reaktions-Diffusions-Systemen geschlagen, zu denen auch die
Nervenleitungen, viele andere biologische Systeme und eine Vielzahl chemischer Systeme gehören.
Um ein tieferes Verständnis
des Lösungsverhaltens zu gewinnen, werden analytisch vornehmlich Bifurkationspunkte und
Skalenlimites untersucht. Die dabei eingesetzten Verfahren (Zentrale Mannigfaltigkeit, Normalformtheorie,
Skalentrennung, usw.) gestatten es, auch Bifurkationen höherer Kodimension zu untersuchen und
analytische Lösungen in bestimmten Grenzfällen hinzuschreiben. Dies gilt insbesondere für
Fronten und gut lokalisierte solitäre Strukturen, die sich in vieler Hinsicht wie Teilchen verhalten
(dissipative Solitonen). Die Arbeiten werden durch umfangreiche numerische Untersuchungen auf
Hochleistungsrechnern ergänzt.
In der Nähe des Punktes im Parameterraum, an dem stehende dissipative Solitonen zu laufenden
dissipativen Solitonen bifurkieren (Drift-Bifurkation), gelingt die Reduktion der obigen Feldgleichung auf eine
gewöhnliche Differentialgleichung, welche die Schwerpunktkoordinaten der dissipativen Solitonen als
dynamische Variablen enthält. Darüber hinaus kann man zeigen, dass die Änderung der Form
des dissipativen Solitons auch zu einer Drift-Bifurkation führen kann und dass stationäre
lokalisierte Strukturen ohne Rotationssymmetrie (gebundene Zustände von dissipativen Solitonen) bei
Parameteränderung in rotierende Strukturen übergehen (Rotations-Bifurkation). In diesem
Zusammenhang ist bemerkenswert, dass die Mechanismen von Rotations- und Drift-Bifurkation identisch sind.
- Mit diesen Arbeiten gelang es eine mathematische Untermauerung des Teilchenbildes für
dissipative Solitonen zu geben. Auf Grund der Vereinfachung der Beschreibung der Dynamik dissipativer
Solitonen mit Hilfe einer gewöhnlichen Differentialgleichung wird es erstmals möglich, aus
dissipativen Solitonen bestehende Vielteilchensysteme zu untersuchen. Bei
allen Arbeiten wird größter Wert auf den engen Zusammenhang zwischen mathematischer und
numerischer Behandlung der Modellgleichungen sowie das die Modellgleichungen beschreibende Experiment
gelegt. Dabei stehen auch die in der Arbeitsgruppe Purwins untersuchten Gleich- und
Wechselstrom-Gasentladungssysteme zur Verfügung. Die
Untersuchungen stellen einen Beitrag zur Erforschung universeller Gesetzmäßigkeiten der
Strukturbildung in räumlich ausgedehnten nichtlinearen dissipativen Systemen dar. Damit werden tief
greifende neue Erkenntnisse bezüglich einer großen Klasse von physikalischen, chemischen und
biologischen Systemen gewonnen.
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