Hinweise zur Erstellung des "Lerntagebuchs"


Riklef Rambow

In einigen meiner Kurse ist als Teil der Seminaranforderungen die kontinuierliche Führung eines sogenannten "Lerntagebuchs" verlangt. An die TeilnehmerInnen dieser Veranstaltungen wendet sich der folgende Text, der als Hilfestellung bei der Bewältigung dieser Aufgabe gedacht ist.

Inhalt:
1. Ziele des Lerntagebuchs
2. Warum heißt das Lerntagebuch Lerntagebuch?
3. Formalia
4. Leitfragen und Textbeispiele



1. Ziele des Lerntagebuchs


  • Das LT soll zu einem vertieften Verständnis des behandelten Stoffes führen (im Sinne eines "comprehension fostering"), indem es zu regelmäßiger Nachbearbeitung und Reflexion zwingt. Diese Reflexion soll sich auf alle Lerninhalte, die in Zusammenhang mit der betreffenden Sitzung rezipiert wurden, beziehen, also auf die Lektüre des Hintergrundtextes, die Präsentation des Vertiefungstexts und die Diskussion im Seminar einschließlich der Beiträge der TeilnehmerInnen und des Seminarleiters. Aus dieser Gesamtmenge potentieller Lerngelegenheiten sollen diejenigen ausgewählt und expliziert werden, die subjektiv als besonders bedeutsam, interessant oder neuartig empfunden werden.
  • Das LT soll außerdem das Bewusstsein für den eigenen Lernprozess fördern (im Sinne eines "comprehension monitoring"). In diesem Zusammenhang ist auch die Interaktion zwischen dem eigenen Lernprozess und den im Seminar zum Einsatz kommenden Lehrmethoden von Interesse (Warum habe ich das Gefühl, dass mir eine bestimmte Form der Stoffvermittlung besonders "liegt" und warum nicht? Geht das den anderen SeminarteilnehmerInnen auch so oder nicht? etc.)
  • Außerdem soll das Verfassen des LT aber auch dazu dienen, eine Methode des Lernens eigenständig auszuprobieren. Die regelmäßige schriftliche Explikation der eigenen Gedanken in kompakter Form stellt auch außerhalb des Seminarkontexts eine sinnvolle Form der Förderung von Lernprozessen dar. Die "Verschriftlichung" der eigenen Gedanken kann insbesondere helfen, eigene Ideen zu generieren und zu entwickeln. Die Erstellung eines persönlichen Lerntagebuchs in diesem Seminar ist daher auch als das Einüben einer "Technik" des aktiven, selbstgesteuerten Lernens zu sehen.



2. Warum heißt das Lerntagebuch Lerntagebuch?


Die Analogie mit einem üblichen Tagebuch ist nicht grundlos gewählt. Sie soll vor allem zwei Aspekte hervorheben:

  • Erstens die Regelmäßigkeit der Aufzeichnungen, die es - in der Rückschau - ermöglichen soll, die eigene "Lerngeschichte" in Zusammenhang mit dem Seminarbesuch schnell zu rekonstruieren. Das LT hat also, ähnlich wie ein normales Tagebuch, eine Art "Bilanzfunktion".
  • Zweitens soll die Analogie darauf verweisen, dass es zur Führung des LT notwendig ist, einen persönlichen "Stil" der Aufzeichnung zu finden. Es soll sich beim LT wie bei einem normalen Tagebuch um ein fortgesetztes Zwiegespräch des Autors/der Autorin mit sich selbst handeln. Es gibt daher keine allgemeinverbindliche Form, wie man es "richtig" macht.

Die Analogie mit dem normalen Tagebuch hat aber natürlich auch ihre Grenzen. Besonders offensichtlich: Das LT muss am Ende des Semesters abgegeben werden, seine Vertraulichkeit und Privatheit sind also naturgemäß stark eingeschränkt.


3. Formalia


  • Umfang: Das LT soll für jede Seminarsitzung (mit Ausnahme der ersten) einen eigenen Abschnitt enthalten. Kann der/die Seminarteilnehmer/in an einer bestimmten Sitzung nicht teilnehmen, dann beziehen sich die Eintragungen im LT für diesen Termin nur auf die Lektüre des Hintergrundtexts. Die Länge der Abschnitte sollte im Schnitt nicht unter einer Textseite betragen (bei üblicher Formatierung, also z.B. Schrift: 12pt; Zeilenabstand: 1 1/2; Seitenränder 2-3 cm).
  • Abgabetermin: Das LT soll innerhalb einer Woche nach der letzten Sitzung, also bis spätestens 17.02.00 abgegeben werden. Verlängerungen dieser Frist sind nur in begründeten Fällen und nach Rücksprache mit dem Seminarleiter möglich.
  • Beurteilungskriterien: Es widerspräche dem Grundgedanken des LT, seinen Inhalt ("Was ist gelernt worden?") bewerten zu wollen. Das heißt aber keineswegs, dass es überhaupt keine Mindestkriterien gibt. Entscheidend ist, dass das LT den Versuch einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den Themen widerspiegelt. Nicht akzeptiert werden daher Texte,
    - die ausschließlich stichpunktartig den Hintergrundtext zusammenfassen,
    - die sich zu eng an ein ggf. in der Sitzung verteiltes Hand-out anlehnen,
    - die zu kurz sind, d. h. im Schnitt deutlich weniger als eine Seite pro Sitzung umfassen.
    - die extreme formale Mängel aufweisen (bzgl. Rechtschreibung, Zeichensetzung, Satzbau etc.).

Den Ausdruck des LT bitte einfach mit einem Heftstreifen zusammengeheftet abgeben, nicht in einem Schnellhefter o.ä.




4. Leitfragen und Textbeispiele


Im Folgenden sind einige Beispiele aus Lerntagebüchern früherer Seminare zusammengestellt, die als Anregung dafür dienen können, wie groß das Spektrum an sinnvollen Reflexionsmöglichkeiten ist. Es ist empfehlenswert, das Lerntagebuch für sich selbst um bestimmte Leitfragen herum zu organisieren, mit denen Sie die Reflexion über die Stunde strukturieren können; für die Entwicklung einer solchen individuell stimmigen Heuristik sollen die untenstehenden Beispiele als Anhaltspunkte dienen. Selbstverständlich ist es weder erfoderlich noch überhaupt möglich, alle der im Folgenden aufgeführten Fragen in Bezug auf jede einzelne Stunde zu bearbeiten. Sie sollten vielmehr versuchen, jeweils diejenige Frage (oder einige wenige Fragen) auszuwählen, die Ihnen in Bezug auf die betreffende Sitzung als besonders markant bzw. ergiebig erscheint.

  • Sind mir Bezüge und Anknüpfungspunkte zwischen dem Thema der Stunde und aus anderen Fächern/Seminaren bereits bekannten Theorien, Befunden oder Methoden aufgefallen? " Wie auch in der Basisveranstaltung I des letzten Semesters deutlich wurde, scheint weniger die Anwendung als die tatsächliche Erstellung von Hypertexten zu komplexen Wissensstrukturen zu führen..."
    " ...ferner ist in den vorigen Sitzungen immer wieder betont worden, wie wichtig es im heutigen Informationszeitalter ist, die sog. metakognitiven Fähigkeiten (wie Strukturieren, Hinterfragen, Reflektieren von Texten) zu vermitteln. Hierzu können Hypertexte, weil sie dem Lernenden viel Arbeit abnehmen, doch gerade nicht so viel beitragen."
  • Erscheinen mir Hintergrundtext und Vertiefungstext stimmig und aufeinander bezogen? Wirkt die empirische Arbeit methodisch sauber und überzeugend? "Streng genommen wird die Studie dem dargestellten Ansatz aber nur geringfügig gerecht. Die 'Reflexion' direkt während der Handlung erscheint mir in einem strengen Sinne gar nicht operationalisierbar...."
  • Welche Sachverhalte erscheinen mir wichtig so wichtig, dass ich sie noch einmal mit eigenen Worten auf den Punkt bringen möchte?

    "Insgesamt erschien mir diese Studie sehr komplex, so dass es sinnvoll ist, wichtige Aspekte noch einmal festzuhalten. Global geht es um den Lehr-Lern-Effekt von Instruktionsmedien. In Einklang mit kognitiven Ansätzen postuliert man aber keine direkte Beziehung von Medium und Lerneffekt. Lernvariablen, Motivation und Selbstwirksamkeit sind als Moderatorvariablen zwischengeschaltet..."
    "Die zentrale Aussage ist dabei, dass sich der Gruppenerfolg und schließlich der Lerneffekt des Einzelnen über die Quantität und Qualität der Interaktion in der Gruppe herleiten. Die Interaktion selbst steht in Wechselwirkung mit einer Reihe von Faktoren, die es durch die Gestaltung der Maßnahmen positiv zu beeinflussen gilt: ..."
  • Welche weiterführenden Fragen wirft das Gelernte auf? Regt es mich zu Gedanken an, die über den Stoff im engeren Sinne hinausführen?

    "Eine ebenfalls interessante Frage ist, ob sich durch den Einsatz des Mediums, bei dem hohe Selbstwirksamkeitserwartungen existieren, bestehende negative Erwartungen bzgl. des Faches ausgleichen lassen könnten. Ob ein Schüler mit starken Abneigungen gegen englische Literatur und einer daraus resultierenden geringen Selbstwirksamkeitserwartung durch den Einsatz des Fernsehens mehr Vertrauen entwickeln würde, sich mit diesem Themenbereich auseinanderzusetzen, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden."
    "Der skizzierte Gegensatz zwischen (pädagogisch-psychologischer) Forschung und in der Pädagogik anwendbaren Ergebnissen reizt mich. Dies vor allem deshalb, da ich bisher keine genaue Trennlinie ausmachen kann, wo die Pädagogische Psychologie endet und das, was ich mir laienhaft unter Pädagogik vorstelle (Entwickeln von anwendungs- und situationsbezogenen Lehr- und Lernkonzepten, vor allem für Schule und Weiterbildung) anfängt. Vielleicht klärt sich das ja noch im weiteren Verlauf des Seminars."
    "Was ich auch in den Studien vermisst habe, ist ein Exkurs darüber, wie sich die Zeit, die außerhalb der Schule mit dem bearbeiteten Stoff verbracht wird, auf die Leistungen der Schüler und den Lernerfolg auswirkt..."
  • Welche zentralen Konzepte erscheinen mir so wichtig und nützlich, dass ich sie gerne behalten möchte? Kann ich diese kurz und prägnant definieren?

    "'perseverance' umfasst die Zeit, die ein Lernender freiwillig aufzuwenden bereit ist, um sich mit einer Aufgabe zu beschäftigen; 'time-on-task' ist der Anteil der 'enganged time', der auf die vom Lehrer vorgegebenen Lernbereiche oder Aufgaben gerichtet ist..."
  • Gibt es Bezüge zwischen dem Gelernten und dem Seminar (seiner Gestaltung, seinen Rahmenbedingungen, seinem Ablauf) selbst?

    "In einem Seminar über Lehrmethoden muss man sich die Frage stellen, ob der Einsatz des Mediums Film/Video nicht an einigen Stellen sinnvoll gewesen wäre. So hätte ein Film in der Sitzung über Methoden der Klassenführung bestimmte Verständnisprobleme verhindern können. Es wäre zum Beispiel denkbar, nach einer mündlichen Einführung in die Methoden Filmbeispiele darzubieten, denen dann die Funktion der Wissensüberprüfung zukäme, indem die Seminarteilnehmer gefordert wären, die dargestellten Verhaltensweisen zu identifizieren und zu benennen. Alternativ wäre aber auch..."
    "Jetzt werde ich etwas vom Seminar abschweifen und einen anderen Lerneffekt anführen, der nicht direkt mit dem Stoff zu tun hat: Ich saß heute eingequetscht mit drei anderen Teilnehmenden zwischen der Rückenwand des Seminarraums und den Kehrseiten der Studierenden, die der Tafel gegenübersaßen, und versuchte krampfhaft, so etwas wie Konzentration zusammen zu bringen. Dabei gewann der Begriff "classroom organization" für mich eine ganz neue Bedeutung..."
    "...Allerdings hat ja auch der normale Unterricht seine eigenen Formen des Gruppenlernens. In den Diskussionen lernt man voneinander und miteinander. Die Fähigkeit, Sachlagen aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten, auf Argumente zu reagieren, auf den anderen einzugehen oder die eigene Meinung zu vertreten, lernt man am besten in Diskussionen, wie sie der Unterricht häufig bietet. Oder man lernt es auch nicht, ein Eindruck, der sich mir oft aufzwingt, wenn ich die Diskussionen verfolge, die im Seminar stattfinden. Kaum jemand geht auf die Worte seines Vorredners ein."
  • Fallen mir Beispiele aus meiner eigenen (biografischen) Erfahrung ein, die das Gelernte illustrieren, bestätigen, oder ihm widersprechen?

    "In meiner eigenen Schulzeit wurden Filme meistens nur als Pausenfüller benutzt. Deswegen häufte sich ihr Einsatz vor den großen Ferien: Es war wohl auch als 'Belohnung' gedacht. Offensichtlich waren auch die Lehrer der Ansicht, dass TV 'easy' ist und print 'tough'. Gelernt wurde dabei nicht viel, 'Video ansehen' wurde dadurch eher zu einem anderen Wort für 'entspannen' oder 'nicht arbeiten müssen'."
    "... soweit ich mich erinnern kann, waren die anderen 'prompt'-Varianten ebenfalls ständig in meiner Schulzeit präsent. Von daher kann ich die Feststellung von Durkin (1979), dass die Vermittlung von metakognitiven Fähigkeiten dieser Art im Schulalltag so extrem unterrepräsentiert ist, eigentlich nicht bestätigen."
  • Welche Aspekte des Gelernten fand ich interessant, nützlich, überzeugend, und welche nicht? Warum?

    "Zunächst einmal ein paar Anmerkungen zum Hintergrundtext: Man konnte anhand dieses Aufsatzes, deutlicher noch als in der letzten Sitzung, sehr schön sehen, wie Psychologie in der Anwendung aussehen kann. Die kochbuchartige Darstellung möglicher Techniken der Klassenführung in diesem Text weist eine solche Konkretion auf, dass man sie durchaus in Fortbildungsseminaren z.B. für Lehrer präsentieren könnte. Dabei begegnen dem Leser nicht nur selbstverständliche Dinge, sondern auch Aspekte, die man so nicht erwarten würde. Beispiele: ..."
    "Diese Sitzung war für mich die interessanteste bisher. Das liegt sicherlich daran, dass ich mir über die Verhältnisse von zugewiesener Zeit und Zeitnutzung beim Lernen bislang noch nie Gedanken gemacht habe..."
  • Welche Fragen blieben offen? Was erschien mir unklar oder auch falsch?

    "Es wurde eine Grafik auf einer Folie aufgelegt, die mich im Nachhinein doch sehr verwirrte. Ich nehme an, dass diese Grafik den theoretischen Hintergrund für die vorgestellte Studie liefern sollte, aber sie verführte zu Schlussfolgerungen, die durch die Studie nicht bewiesen wurden, was dann zu einiger Verwirrung meinerseits führte... (es folgt eine Beschreibung dieser Verwirrung)"
  • Welche Aspekte des Gelernten kann ich bei gegenwärtigen oder zukünftigen Tätigkeiten selber nutzen? Wie könnte eine solche Nutzung aussehen?

    " ...für meine momentane Arbeit heißt das, dass ich beim Einsatz von Kleingruppenmethoden verstärkt auf die im Referat genannten Punkte achten werde, das heißt auf die Belohnungsstruktur, die Wichtigkeit des Beitrags jedes einzelnen Teilnehmers und die Abstimmung der Einzelbeiträge."
  • Habe ich Erfahrungen oder Beobachtungen gemacht, die mir bei zukünftigen Präsentationen helfen können?

    "Das war heute also unsere Referatesitzung. Die hätte wohl durchaus besser laufen können. Weitaus besser. Mögliche Verbesserungsansätze wären: Noch mehr mit Folien und Tafelbildern zu arbeiten. Vor allem Schaubilder zur Strukturierung der beiden vorgestellten Verfahren (STAD, Jigsaw) hätten helfen können..."

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