Hajo Diekmannshenke (Institut für Germanistik der Universität Koblenz-Landau, Abt. Koblenz)

„Bloß keine Fehler machen!"

Linguistische Betrachtungen zu Rechtschreibfehlern und ihrer Analyse

 

Noch immer herrscht weitgehend die Meinung, daß Fehler etwas Negatives seien. Zwar hat die gesellschaftliche Toleranz in den letzten Jahrzehnten auch gegenüber Fehlern deutlich zugenommen, doch noch immer besteht ein öffentlicher Konsens darüber, daß Fehler zwar entschuldbar und nicht mehr das Maß aller Dinge, sie aber möglichst zu vermeiden oder wenigstens zu vermindern seien. Dies gilt neben Fehlern ‚im Leben‘ umso mehr für Fehler in Schule, Beruf oder Wissenschaft und immer noch ganz besonders auf dem Gebiet der Rechtschreibung. Das (unerklärte) Ziel des Deutsch- und besonders des Rechtschreibunterrichts ist die (tendenziell absolute) Fehlervermeidung. So werden Fehler angestrichen (meist noch mit der Signalfarbe Rot, bis zum Jahr 2005 korrekte Schreibungen nach alter Rechtschreibnorm, die gemessen an der neuen Normen jedoch falsch sind, dagegen in ‚milderem‘ Grün), müssen korrigiert und sollten in Zukunft vermieden werden. Außerdem schlagen sie sich in der Benotung nieder und erhalten dadurch einen negativen Stellenwert. Zeichentheoretisch gesprochen enthält das Lexem ‚Fehler‘ eine negative Bewertungskomponente sowie die deontische Komponente, daß ‚Fehler‘ unbedingt vermieden werden müssen. Derart stigmatisierte Fehler stellen im Schulalltag eine nicht unerhebliche Belastung der Kinder und Jugendlichen dar und wirken sich häufig negativ auf deren Motivation aus (Schönweiss 1997: 62f.).

Im Vergleich zum Prozeß des primären Spracherwerbs mutet die oben präsentierte Auffassung in ihrer Absolutheit außerordentlich seltsam an. Allein wissenschaftsgeschichtlich betrachtet spielen Fehler im Rahmen dieses Prozesses eine bedeutende Rolle. Als Noam Chomsky (1959) Ende der 50er Jahre das Erklärungsparadigma des Behaviorismus zum Spracherwerb so nachhaltig erschütterte, daß dieser sich davon bis heute kaum erholen konnte, spielten auch Fehler, die Kinder quasi systematisch im Verlauf des Spracherwerbs begehen, eine wichtige Rolle. So verwenden Kinder in einer bestimmten Phase z.B. die Flexionsmorpheme des Präteritums der schwachen Konjugation zeitweise auch für die Flexion der starken Verben. Daß solche Fehler nicht auf Nachahmung oder einem simplen Reiz-Reaktions-Schema als Grundlage des Lernprozesses beruhen können, ist offensichtlich. Die moderne Spracherwerbsforschung (Pinker 1996: 41f.) erkennt seit langem einerseits den diagnostischen Wert solcher Fehler und erklärt sie andererseits als notwendiges Stadium innerhalb dieses Prozesses, welcher sich jedoch individuell unterschiedlich gestaltet hinsichtlich Dauer und Intensität. So zeigen in dieser Phase ‚Belehrungsversuche‘ gegenüber ‚fehlerhaftem‘ Sprachgebrauch bei Kindern in aller Regel keinen ‚Lernerfolg‘ (in elterlicher Sichtweise), wie das folgende Beispiel überzeugend demonstriert:

Kind: want other one spoon, daddy

Vater: you mean, you want the other spoon

Kind: yes, i want other one spoon, please daddy

Vater: can you say ‚the other spoon‘?

Kind: other ... one ... spoon

Vater: say ‚other‘

Kind: other

Vater: ‚spoon‘

Kind: spoon

Vater: ‚other spoon‘

Kind: other ... spoon. now give me other one spoon

(zit.n. Aitchison 1998: 70)

Solche Fehler sind allerdings nur bei einer oberflächlichen Betrachtung Ausweis eines Defizites. Bei näherer Beschäftigung zeugen sie vor allem von einem offensichtlich vorhandenen Regelwissen. Da in diesem Alter das bloße Experimentieren mit Lauten und Lautketten als hauptsächliche Form sprachlicher Äußerungen bereits überwunden ist, müssen die jeweiligen Bildungen auf ein vorhandenes ‚Regelwissen‘, welches jedoch nicht als Regelbewußtsein verstanden werden darf, zurückzuführen sein. Sie geben also in einer wissenschaftlichen Analyse Auskunft über den Status des jeweiligen Entwicklungsprozesses, nicht weil sie ihn als noch defizitär ausweisen, sondern weil sie in erster Linie das bereits Erreichte belegen. Diese sogenannten Defizite rühren weniger von einem Fehlen von Regeln her, sondern beruhen auf der unkorrekten Anwendung oder unzureichenden Spezifikation der vorhandenen Regelkenntnisse. Zu fragen ist also weniger, was Kinder in einzelnen Phasen noch nicht können, als vielmehr, was sie bereits an Regelwissen besitzen. Aus diesem Grunde hat die Sprachdidaktik seit Anfang der 80er Jahre eine Neubewertung der Kategorie ‚Fehler‘ vorgenommen. So ist von ‚klugen Fehlern‘ die Rede ( Vieluf/Vieluf 1981, Erichson 1987), sind Fehler für die Kinder selbst wichtig (Kochan 1987), fordert Marenbach (1989: 112) gar: „Lerner brauchen Fehler!" Dennoch finden sich selbst in den als reformorientiert sich ausweisenden „Beiträge[n] zur Reform der Grundschule" (Naegele/Valtin 1994) noch immer Relikte wissenschaftlich überholter Auffassungen wie Odenbachs „Allgemeine Übungsgesetze" aus den frühen 60er Jahren, in denen u.a. folgendes gefordert wird:

 

Schleichen sich mit der Übung Fehler ein, ohne sofort korrigiert zu werden, so werden sie im Verlauf des weiteren Übens bestärkt und beeinträchtigen den Lernerfolg oder heben ihn auf. (Bartnitzky/Valtin 1994: 52)

Hier wird immer noch kritiklos und offenbar unhinterfragt ein behavioristisches Lernmodell propagiert, in dem ‚Fehler‘ auf der Stelle korrigiert werden müssen, da sie sich angeblich sofort einprägen würden. Nur eine sofortige Korrektur des Fehlers führe zur normgerechten Schreibung, so die dahinterstehende Annahme. Diese ist jedoch weder empirisch belegt, noch hat sie Überzeugungskraft, wie Balhorn (1994: 38) im selben Band hingegen überzeugend darlegt.

 

Warum sollte der „einprägungswert" von fehlern größer sein als der von richtigen schreibversionen? Wenn aber verschiedene schreibversionen nur gleich starke modellwirkung haben, wie wäre die besondere wirkung von fehlern gegenüber den quantitativ weit häufigeren richtigen vorgaben in texten und in selbstgeschriebenem zu erklären?

Allerdings – und dies sei hier nicht nur angemerkt, sondern betont – vollzieht sich der Prozeß des Schriftspracherwerbs nicht deckungsgleich zum Prozeß des Erstspracherwerbs. Die wesentlichen Unterschiede und deren Gründe sind in der einschlägigen Literatur wiederholt herausgearbeitet worden und sollen hier nur gestreift werden (Maas 1992). So ist der Schrifterwerbsprozeß ein sekundärer Erwerbsprozeß, da bereits das System der Erstsprache erworben wurde. Zudem befindet sich die Schriftsprache in einem besonderen ‚Spannungsverhältnis‘ zur bis dahin nur mündlich realisierten Erstsprache, wobei die ‚Umsetzung‘ von Lauten in Schriftzeichen eine qualitativ andere Beziehung der beiden Sprachebenen darstellt als z.B. der Erwerb einer Fremdsprache in Bezug auf die bereits vorhandene Erstsprache. Untersuchungen zum mündlichen Sprachgebrauch haben besonders in den beiden letzten Jahrzehnten zeigen können, daß sich die beiden Ebenen auch hinsichtlich ihrer syntaktischen Regeln deutlich unterscheiden. Beiden Prozessen gemeinsam ist jedoch, daß Fehler notwendige Bestandteile diese Prozesse sind und deswegen auch als Durchgangs- und Entwicklungsphasen eingestuft werden müssen. Der in der folgenden (von Utz Maas erarbeiteten) Graphik dargestellte Erwerb des ‚orthographischen Monitors‘ (Maas 1992) zur Kontrolle einer regelgeleiteten Schreibung baut auf dem ‚phonologischen Monitor‘ auf und entwickelt sich in Abhängigkeit von und in Relation zu diesem.

Bezeichnenderweise setzt der Schrifterwerb zu einem Zeitpunkt ein, an dem die wesentlichen Komponenten der Erstsprache entwickelt und stabilisiert sind, jedoch noch vor dem Ende der (allerdings umstrittenen) sog. ‚sensiblen Phase‘ (Lenneberg 1977). Zeitlich treffen also Elemente des ungesteuerten Erst- und eines gesteuerten Fremd- oder Zweitspracherwerbs zusammen. Dies mag auch erklären, warum die meisten Menschen orthographische Kenntnisse in ihrer Erstsprache eher als intuitiv vorhanden empfinden, was bei der Fremdsprachschreibung jedoch kaum zu beobachten ist. Aus didaktischer Sicht könnte man sich damit durchaus zufrieden geben, da ja auch die mündlichen Fähigkeiten der einzelnen Menschen von unterschiedlicher Ausprägung sind, wobei von Fehlerhaftigkeit normalerweise nur bei eklatanten Verstößen (auf der Systemebene) gesprochen wird, sofern diese den kommunikativen Austausch bemerkbar behindern oder gar unmöglich machen. Allein die individuell unterschiedliche Aussprache von Lauten, Wörtern oder ganzen Äußerungen belegt die vergleichsweise hohe Toleranz sogar auf der Ebene der Standardsprache bei der akustisch-perzeptionellen Sprachwahrnehmung, sofern die Sinnentnahme prinzipiell gelingt.

Auch innerhalb literarischer Diskurse können orthographische Normen in nicht unerheblichem Umfang suspendiert und als kreativer Umgang mit Sprache und ihren Möglichkeiten gewertet werden. Weniger die scheinbar lautgetreue Umsetzung von Dialektsprechen in Schriftlichkeit, wie es z.B. in Gerhard Hauptmanns naturalistischen Theaterstücken der Fall ist, ist hier gemeint, als die bewußte Gestaltung des Schriftlichen im Spannungsverhältnis zur Norm-Orthographie, wie sie in Arno Schmidts (1987) KAFF auch MARE CRISIUM zu beobachten ist:

Sie faßte inzwischen – d. h. während ich weenich=nutzich <dachte> - die Torfschtücke an; mit 1 Papier; (Tempo=Taschen=Tuch ? – Schon mööklich). Warf sie ungeschickt in den prottestierenden Ofen. Und schloß das Eiserne Thor. (Woraufhin das Feuer natürlich, und reeletief prommt, ausgink. Sie zuckte nur die Axeln.) /

Schmidt 1987: 133

Für den eigenwilligen Schriftsteller gelten orthographische Normen nicht, er macht keine Rechtschreibfehler, er zeichnet sich durch einen kreativen Umgang mit geltenden Normen aus. Doch wie verhält es sich im Fall des folgenden Gedichts, welches eher als Produkt eines Menschen mit großen orthographischen Problemen denn als ‚Literatur‘ erscheint?

Mein Fahrrad

Mein Fahrrad hat glinkel
Sadel, Betalen, Lampe, Tenamo, Kette
Zwei Reder, das mus bremsen bei slechten radwegen
Ich bumpe Luft in die reder. Im ferker hat die Strasenbahn
immer forpfad. Nur auf ferkersinselns ist der fusgenger
sicher

(Rüdiger Rosenthal; zit. n. Wolf 1992: 27)

Würde es sich um den Text einer Schülerin oder eines Schülers handeln, so würde das allgemeine (und auch das spezielle DeutschlehrerIn-) Urteil hinsichtlich der Rechtschreibkenntnisse sicher vernichtend ausfallen. Warum aber werden an Schriftlichkeit im Alltag soviel strengere Maßstäbe als an Mündlichkeit (und als an literarische Produkte) gelegt? Und ist diese Strenge gerechtfertigt? Ginge es allein um das Gelingen des kommunikativen Austausches, dann wäre dieses Insistieren auf einer absoluten Norm wohl kaum zu rechtfertigen. Schließlich existierten in der Geschichte der deutschen Sprache bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts immer unterschiedliche Schreibweisen (im Sinne unterschiedlich empfundener Orthographien) nebeneinander, ohne daß der kommunikative Austausch verhindert oder nachhaltig gestört worden wäre. So finden sich selbst in (originalen) Goethe-Texten unterschiedliche Schreibweisen eines Wortes in ein und demselben Text. Erst das 19. Jahrhundert forderte nicht nur das schöne, flüssige und lesbare, sondern auch erstmals das ‚richtige‘ Schreiben (Polenz 1999: 43). Und selbst nach der Normierung der deutschen Orthographie durch die 2. Orthographiekonferenz 1901 und deren gelegentlichen Reformierungen existieren heute verschiedene Schreibweisen nebeneinander (Friseur, Frisör; Delphin, Delfin), bei denen sich der Status der korrekten Schreibung im Laufe der Jahre verändert hat, in den genannten Beispielen zur Toleranz gegenüber der 2. Schreibweise, die im Falle von Frisör nur die Akzeptanz eines bereits erfolgten Usus darstellt, im Falle von Delfin dagegen sogar die Einführung einer im allgemeinen nicht existierenden Schreibweise, die bislang als eindeutig fehlerhaft eingestuft worden wäre, beinhaltet. Könnte man in diesen Fällen von einer größeren Toleranz bei der Schreibung von (eingedeutschten) Fremdwörtern sprechen, so läßt sich bei weiteren Wortschreibungen etwas anderes beobachten, die Umkehrung von Recht- und Falschschreibung. So stellt nach der Reform rau die korrekte Schreibweise dar, das alte rauh hingegen wird in absehbarer Zukunft ein Fehler sein. Die Argumentation der Reformbefürworter ist in diesem Fall aufschlußreich. Da die alte Schreibung rauh einen Einzelfall darstelle und dadurch ein fehlerfreies Schreiben erschwere, wird nun rau gleich analog lautenden Wörtern geschrieben: blau, schlau, grau (Adjektive) ebenso wie Frau, Bau, Pfau (Nomina) oder trau (dich), schau (hin), hau (drauf) (Verben). Damit werden synchrone Systematizität sowie leichte Lernbarkeit (basierend auf Erfahrungen aus der Unterrichtspraxis) als wesentliche Begründungen angeführt. Man könnte auch etwas anders argumentieren: Da das Kind rau analog zu den genannten anderen Wörtern ohne –h schreibt und dies zudem der Regelfall (auf -au- folgt bei einfachen Wörtern kein -h) ist, sollte diese Schreibung korrekt sein. Damit wird jedoch das eigentliche Dilemma von Recht- und Falschschreibung offensichtlich. Der Schreibusus unterliegt einerseits vielfältigen Einflüssen, die manchmal historische Schreibweisen konservieren, manchmal aber auch solche historischen Schreibweisen verändern und/oder modifizieren, was besonders bei in der Inkorporation von Fremdwörtern der Fall ist. Zudem ‚kollidieren‘ gelegentlich verschiedene orthographische Prinzipien miteinander, so z.B. das phonographische und das morphologische Prinzip (Eisenberg 1995). Andererseits orientieren sich Schreiberinnen und Schreiber an intuitiven orthographischen Regelhaftigkeiten, schreiben also nicht wahllos, sondern greifen auf eine vermutete Regelhaftigkeit zurück, die dann in einen Konflikt mit der usuellen Norm und im Fall von hochgradig normierten Schriftsystemen wie dem Deutschen auch mit dessen kodifizierter Norm geraten können. Falschschreibungen sind damit meistens nicht Ausdruck von Regeldefiziten, sondern der Anwendung anderer, eben nicht kodifizierter Schreibegeln. Dabei darf nicht vergessen werden, daß auch die oben als Begründung herangezogene Systematizität von Sprache bzw. ihrer Schreibung selbst eine Abstraktion darstellt, die sich im Sprachgebrauch nur mittelbar zeigt und letztlich eine wissenschaftliche Interpretation darstellt. Ferdinand de Saussure (1967) prägte hierfür die Beziehung langue – parole, die für den Schreibprozeß analog um eine Art ‚ecrirage‘ erweitert werden könnte. So finden wir im konkreten Einzelfall immer eine individuelle schriftliche Realisationsformen des abstrakten Systems schriftlicher Sprache. Während die Kodifizierung des mündlichen Sprachgebrauchs als Orthoepie oder ‚Hochlautung‘ außer für den Bereich von Bühnen- oder Mediensprache (besonders für Nachrichtensendungen in Radio und Fernsehen), wobei beide Bereiche inzwischen wesentlich ‚weichere‘ Normen als noch vor einigen Jahrzehnten aufweisen, weniger streng erscheint, eröffnen die ‚Richtlinien‘ für Schriftlichkeit deutlich weniger Spielräume, orthographische Varianten sind nur in sehr wenigen Fällen zugelassen und betreffen meist die Fremdwortschreibung. So werden innerhalb der mündlichen Kommunikation eher syntaktische Abweichungen denn phonetische als Fehler angesehen, während in Schriftlichkeit beide Ebenen (wobei hier die orthographische an die Stelle der phonetischen tritt) praktisch gleichwertig nebeneinander stehen.

 

 

Fehler und ihr Stellenwert innerhalb der Orthographie und deren Entwicklung

Unsere Orthographie stellt sich als ein historisch gewachsenes Produkt miteinander konkurrierender Schreibpraxen dar (Maas 1991, 1992) und ist keineswegs undurchschaubar oder in weiten Teilen annähernd regellos (Bartnitzky/Valtin 1994: 52). Während dieser Prozeß von den Anfängen deutschsprachiger Schriftlichkeit in althochdeutscher Zeit bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts quasi ‚naturwüchsig‘ verläuft (was meint, daß keine außerhalb dieses Prozesses situierte Norminstanz existiert), legt seit der 2. Orthographiekonferenz der ‚Duden‘ die jeweils gültige Norm fest, wobei diese Norm nicht deskriptiv ‚nachgeschrieben‘ wird, also den jeweiligen Usus dokumentiert, sondern in diesen aktiv gestaltend eingreift, damit deskriptiven Charakter erhält. Wie Utz Maas (1991) zeigen konnte, bedeutet ‚naturwüchsig‘ aber keineswegs regellos, sondern steht für eine Art Aushandlungs- und Ausgleichsprozeß unterschiedlicher Interessen und Entwürfe, wie er für Sprachwandelprozesse allgemein kennzeichnend ist (Keller 1990). So finden wir schon um das Jahr 1000 bei Notker dem Deutschen Versuche, jene abstrakte phonologische Systematik der alt(hoch)deutschen Mündlichkeit in der entstehenden Schriftlichkeit zu spiegeln, wobei sich von Anfang an eine medienspezifisch differrierende Ausprägung der jeweiligen Subsystemnormen beobachten läßt. Schriftliche Normen und Konventionen zeugen von Anfang an von mehr als nur einer bloßen Verschriftlichung der gesprochenen Sprache, sie dokumentieren auch eine funktionale Differenzierung der geschriebenen Sprache (Nerius 1987: 834). Der Prozeß der Ausprägung einer einheitlichen deutschen Schriftlichkeit (‚Norm der deutschen Schriftsprache‘) ist einerseits gekennzeichnet als Versuch einer überregional immer stärkeren Annäherung jener ‚ecrirage‘ an eine Schriftlichkeits-‚langue‘, andererseits als stetiges Konkurrieren diverser konkreter Realisierungsmodelle in der jeweiligen Schreibpraxis. Insofern erscheint es außerordentlich problematisch, den Begriff des ‚Fehlers‘ auf diese Phase der deutschsprachigen Schriftlichkeit anwenden zu wollen. Bezeichnenderweise verzichtet die moderne Editionswissenschaft inzwischen darauf, z.B. mittelhochdeutsche Texte wie noch vor wenigen Jahrzehnten generell üblich und heute bei den meisten Textausgaben immer noch der Regelfall, Originaltexte zu ‚normalisieren‘, ‚offensichtliche Fehlschreibungen‘ zu korrigieren oder gar ‚das‘ Original rekonstruieren zu wollen. Was sollte hier der Maßstab sein und was sind eigentlich offensichtliche Verschreibungen? In der Praxis ist diese Frage in Einzelfällen meist einfach zu beantworten, grundsätzlich scheint dies jedoch nicht möglich zu sein.

Erst mit dem Erscheinen (und besonders der weiten Verbreitung) der Lutherbibel und der ersten deutschsprachigen Wörterbücher werden die überregionalen Ausgleichstendenzen zwischen den verschiedenen Schreibpraxen deutlicher und führen zu einer immer stärkeren Vereinheitlichung der Schriftsprache, ohne daß allerdings Schreibvarianten inkriminiert würden oder daß eine solche Handhabung als Ziel erkennbar wäre. Orthographie als Hilfe für LeserInnen zur Sinnentnahme aus Texten fließt zusammen mit einer Tendenz zur Standardisierung des Schreibusus im gesamten deutschen Sprachgebiet, welche damit als Garant von Eindeutigkeit im Rahmen der Schreibung angesehen werden kann. Ob diese Standardisierung aber praktisch keinerlei Toleranz zulassen darf oder nicht verschiedene Alternativschreibweisen zulassen könnte, wäre noch zu diskutieren. Bislang noch nicht systematisch untersucht wurde dabei, inwieweit ‚Fehlschreibungen‘ (z.B. bei der Übernahme aus andern Sprachen) den orthographische Wandel wesentlich mitbeeinflußt haben. Das in allen Sprachen weit verbreitete Phänomen der ‚Volksetymologie‘ scheint jedoch eine solche Annahme zu stützen.

 

 

Konsequenzen für den Rechtschreibunterricht

Ein moderner Rechtschreibunterricht, verstanden als Bestandteil eines umfassenderen Grammatikunterrichts, der als Langzeitprojekt die gesamte ‚Schullaufbahn‘ eines Kindes/Jugendlichen umfaßt, muß einerseits ein anderes Verständnis von ‚Fehlern‘ (im Sinne von notwendigen Durchgangsphasen und als Indikatoren regelgeleiteter Schreibstrategien) entwickeln, andererseits muß eine linguistisch fundierte Analyse der jeweiligen Schreibungen durch Lehrerinnen und Lehrer einen wesentlichen Stellenwert innerhalb des Unterrichts und der konkreten Arbeit mit den Kindern erhalten. Voraussetzung für einen solchen Unterricht ist jedoch eine entsprechende Qualifikation während des Studiums und in anschließenden Weiterbildungsmaßnahmen. Besonders deutlich wird dies, wenn man berücksichtigt, welche Fortschritte das Wissen um den Prozeß des Schriftspracherwerbs seit den 70er Jahren beachtlich gemacht hat. Im folgenden soll an konkreten Beispielen aus dem Deutschunterricht gezeigt werden, welcher Art diese linguistischen Kenntnisse sein müssen, welche Erkenntnisse aus den ‚Fehlern‘ gezogen und wie besonders die Neuen Medien für eine Verbesserung der derzeitigen Situation genutzt werden können.

Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Erfahrungen mit ausgewählten Schülern einer dritten bzw. vierten Grundschulklasse sowie auf Unterrichtsergebnisse, die im Rahmen eines Praktikums in einer 5. Klasse einer Koblenzer Hauptschule erhoben wurden. In beiden Fällen wurde mit dem Test- und Auswertungsinstrumentarium des nordrheinwestfälischen Modellversuchs „Aus Fehlern lernen – Ermittlung des Rechtschreib-Förderbedarfs und die Möglichkeiten netzbasierter Bildungsförderung" gearbeitet, welcher von Friedrich Schönweiss und seinem Team an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster entwickelt wurde (http://www.digite.net/):

Während sich auf der einen Seite die Unzufriedenheit eines großen Teils der ‚Nachfrager’ nach Bildung über massive Defizite von Schulabgängern immer offener Luft macht (der Schule wird vorgehalten, ihr gelänge es nicht, Kinder insbesondere die Kernfächer wie die eigene Sprache oder Mathematik effektiv zu vermitteln), wird gleichzeitig in einer technologischen Aufrüstung des Bildungswesens im Anschluss an die computerisierte ‚Global Society’ ein Ausweg aus der Bildungsmisere gesucht.

Die mit den neuen Technologien gebotenen Möglichkeiten drohen jedoch dann verspielt zu werden, wenn es nicht gelingt, eine Verknüpfung der neuen Medien und ihren vielfältigen Optionen mit der konkreten Bildungsbiographie jedes einzelnen Kindes bzw. Jugendlichen zu bewirken. [...]

Um ein Stück dazu beizutragen, dass sich die Schere zwischen aktuellem Bildungs- und Qualifikationsbedarf einerseits und den Ergebnissen der institutionellen Bildung nicht weiter öffnet, werden im Rahmen von Digite.net flexible, netzbasierte Bildungs-Angebote konzipiert und (fort-) entwickelt. Dies freilich nicht einfach nur im Elfenbeinturm, sondern im Austausch mit allen Interessierten. Gleichzeitig wollen wir Kindern wie Eltern und Lehrkräfte dabei unterstützen, den Computer ganz grundsätzlich als Bildungs-Werkzeug entdecken, schätzen und engagiert nutzen zu lernen.

(aus dem Programm von Digite.net)

Im Rahmen des Koblenzer Projektes wurde dabei teilweise das Alfons-Diagnostik-Programm eingesetzt, wobei auch die Möglichkeiten und die Grenzen moderner Software für solche Vorfahren deutlich wurden. Dieses spezielle Programm ist ursprünglich als Rechtschreibtest mit anschließender automatisierter Fehlerauswertung konzipiert worden. Eine neue Internetversion, bei der u.a. die Erfahrungen des Projekts und die hier vorgelegten Überlegungen berücksichtigt werden, befinden sich in der Testphase. Der Grundgedanke besteht darin, individuelle Wissensdefizite in einem standardisierten Testverfahren zu ermitteln und über eine automatische Fehleranalyse Hinweise für eine weitergehende, vor allem individuell ausgerichtete Förderung zu geben (Schönweiss 1997).

Die beiden folgenden Protokolle dokumentieren die computergestützte Terstauswertung.

 

 

Fehlerprotokolle aus dem Programm Alfons Diagnostikprogramm Deutsch

Name: Philipp Datum: 08.03.98

Test: Standardtest Klasse: 4

Anzahl Wörter: 23

richtig: 5

trampelte, unfassbar, erschrak, eigentlich, prall

falsch: 18

 Lehrerinen, bliess, emfielt, entfliht, Verliehrer, unentberliches. Entgültig, Zereissprobe, Supfpflanzen, Werme, Seule, winckent, vergass, Wacks, Kaputzen, aussteuern, sosstigem, wollhabensten

Fehlerarten:

1. Wahrnehmungsfehler: 2

 

Wahrnehmungsdurchgliederung 

Supfpflanzen Wahrnehmungstrennschärfe  

Buchstabenfehler

emfielt  

1

 

0

0

1

 

2. Regelfehler: 17

 

Umlautableitung

2

Werme, Seule

 

Konsonantenableitung

2

entgültig, winckent

 

Konsonantenverdopplung

7

Lehrerinen, bliess, Zereissprobe, Zereissprobe, winckent, vergass, Kaputzen

 

Dehnung

4

emfielt, entfliht, Verliehrer, unentberliches

 

Gleichklingende Buchstaben

1

Wacks

 

Groß- und Kleinschreibung

1

 

aussteuern

 

3. Weitere Fehler: 2

sosstigem (sonstigem), wollhabensten (wohlhabendsten)

 

Name: Florian Datum: 08.03.98

Test: Standardtest Klasse: 4

Anzahl Wörter: 42

richtig: 30

 probieren, ähnliche, genießen, krabbeln, belohnte, künftig, aufwärts, schmerzte, schwitzte, Dummheit, begegneten, missverständlich, schliff, trampelte, Lehrerinnen, unfassbar, blies, erschrak, entflieht, Verlierer, endgültig, Sumpfpflanzen, sonstigem, Wärme, Säule, eigentlich, winkend, vergaß, Wachs, prall

falsch: 13

 qengelte, Jagt, uberschwappten, Karrotten, obs, emfielt, wohlhabensten, unendberliches, zerreissprobe, Kaputzen, aussteuern, zerreissprobe, Gerichtsverhandelung

Fehlerarten:

1. Wahrnehmungsfehler: 5

 

Wahrnehmungsdurchgliederung

2

obs, wohlhabensten

 

Wahrnehmungstrennschärfe

1

uberschwappten

 

Wahrnehmungsrichtung

0

Buchstabenfehler

2

qengelte, emfielt

 

2. Regelfehler: 11

 

Umlautableitung

0

Konsonantenableitung

2

Jagt, unendberliches

 

Konsonantenverdopplung

3

Karrotten, zerreissprobe, Kaputzen

 

Dehnung

2

emfielt, unendberliches

 

Gleichklingende Buchstaben

0

Groß- und Kleinschreibung

4

 

obs, zerreissprobe, aussteuern, zerreissprobe

 

3. Weitere Fehler: 1

Gerichtsverhandelung

Das erste Kind, Philipp, war zum Untersuchungszeitpunkt Schüler der 4. Klasse und muß als eher rechtschreibschwach eingeschätzt werden. Er unternahm den Test freiwillig, brach aber schließlich nach 23 von insgesamt 42 Aufgaben ab. Die Auswertung ergab 5 richtige und 18 falsche Schreibungen. Die vom Programm vorgenommene Grobklassifizierung in Wahrnehmungs-, Regel- und weitere Fehler ist in der modernen Orthographiediskussion nicht unumstritten, da eine klare Unterscheidung zwischen Wahrnehmungs- und Regelfehlern nicht nur in der Praxis schwierig ist, da zu bedenken ist, daß jede Schreibung eines diktierten Textes eine regelgeleitete Verschriftung des Gehörten darstellt, bei der allerdings die Phonem-Graphem-Korrespondenz in ihrem Verhältnis zu anderen orthographischen Prinzipien einen jeweils unterschiedlichen Stellenwert erfahren kann. Auch die letztendliche Zuordnung des einzelnen Fehlers kann durchaus umstritten sein. Grundsätzlich gilt auch hier, daß diese Klassifizierung LehrerInnen allenfalls erste Hinweise auf mögliche Fehlerursachen geben kann, diese aber keinesfalls schon selbständig ermittelt. So werden reine Tippfehler nicht als solche erkannt, ein grundsätzliches Problem computergestützter Fehleranalyse, da hier nur ein Vergleich verschiedener Wörter und ihrer Schreibungen Aufschluß darüber geben kann, ob das Kind die jeweilige Schreibung prinzipiell beherrscht oder nicht. Zudem spielt hier die Übung im Umgang mit der Tastur eine wichtige Rolle, da ungeübte TastaturschreiberInnen in Testsituationen deutlich mehr (und andere) Tippfehler produzieren als geübte. Zudem kann nicht geklärt werden, welche Regeln das jeweilige Kind bereits beherrscht.

Die automatisierte Fehleranalyse für Philipp zeigt zutreffend, daß dieses Kind vor allem im Bereich des Regelwissens starke Defizite aufweist. Werme, bliess und emfielt sind Belege dafür, daß ein Wissen um das morphologische Prinzip (weitgehende morphologische Konstantschreibung bei Wortbildung und Flexion, Rückführung auf ‘Stamm-‘ oder ‘Grundformen’, womit „eine deutliche Finalisierung der Schreibung auf ihre Funktion für den Leser, der bei der relativ großen morpho-phonologischen Variation [...] lexikalisch-grammatische Hilfestellung für die Textinterpretation erhält" (Maas 1994: 172; Herv. im Orig.), erfolgt.) der Rechtschreibung und - was vor allem didaktisch wichtig ist - seine Anwendung bei konkreten Rechtschreibproblemen offensichtlich noch nicht ausreichend vorhanden ist. Die Schreibungen Werme und Seule weisen darauf hin, daß die Orientierung an der Lautung und an der Schreibung bekannter analog lautender Wörter (Kerne, Ferne, Beule, Eule usw.) ebenfalls noch eine große Rolle spielt. Die Korrektschreibung von erschrak stützt die Annahme, daß es sich bei diesem Kind eher um einen „lexikalischen Lernertyp" (Thomé 1999: 252) handelt, der sich im jeweiligen Einzelfall stark am Schriftbild anderer, bereits bekannter Wörter orientiert. Ebenso scheinen v.a. die zugegebenermaßen auf den ersten Blick komplizierten Distributionsverhältnisse bei den Dehnungszeichen große Probleme zu bereiten, was bei Schulkindern häufig zur spontanen Bildung ‘eigener’ Regeln führt, um dadurch eine ‘Richtschnur’ für weitere Problemfälle zu gewinnen (Maas 1994: 173). Eine weitergehende Fehleranalyse legt den Schluß nahe, daß dieses Kind hinsichtlich seines orthographischen Regelwissens einer intensiven Förderung bedarf, soll nicht Rechtschreibung zu einem generellen Problem seiner schulischen Laufbahn werden. ‘Kunstwörter-Tests’ wie der von Thomé (1999) in 3. und 4. Klassen von Oldenburger Grundschulen durchgeführte können wichtige Informationen über die der Verschriftlichung einzelner Wörter zugrundeliegenden Schreibstrategien liefern und zusammen mit dem Alfons-Test die Auswahl entsprechender Aufgaben und Übungen erleichtern.

Das zweite Kind, Florian, konnte zum Untersuchungszeitpunkt bereits als ausgesprochen rechtschreibsicherer Schüler charakterisiert werden und absolvierte den Test vollständig mit 13 Fehlern bei insgesamt 42 Wörtern. Hierbei muß angemerkt werden, daß Florian Schüler der 3. Klasse war und die verschiedenen Tests für seine Altersstufe praktisch fehlerfrei absolvierte. Zwar mögen 13 Fehler viel erscheinen, eine genauere Analyse zeigt jedoch, daß Florians Schreibungen im Gegensatz zu Philipp keine Hinweise auf ernsthafte Rechtschreibprobleme geben. So handelt es sich bei den Fehlern vor allem um schwierige und ungewöhnliche Wörter (Kaputzen <it.>, Karrotten <nl.>, Jagt), bei denen die Schreibung für jedes Wort einzeln erlernt werden muß. Regelwissen hilft hier nicht weiter. Andere Fehler zeugen dagegen - vor allem im Vergleich mit den korrekten Schreibungen - von vorhandenem Regelwissen und dem Versuch, dieses anzuwenden, was auf einen generalisierenden Lernertyp hinweist (Thomé 1999: 252). So wird Gerichtsverhandelung hyperkorrekt in Analogie zu verhandeln gebildet, Karrotten analog zu Karren, harren und Barren. Noch nicht vollständig beherrscht wird dagegen die Distribution von s, ss und ß. Florian kannte offensichtlich (noch) nicht die Regel, daß nach einem Diphthong (-ei-) grundsätzlich nicht ss folgen kann. Die Fehler bei der Groß- und Kleinschreibung können als Konzentrationsfehler betrachtet werden, da Florian im anschließenden Gespräch sofort den Fehler erkannte und auch die Regel für die (korrekte) Großschreibung angeben konnte. Die durch das Programm vorgenommene Grobklassifizierung liefert denn auch keine weitergehenden Erkenntnisse, diese gewinnt man erst im Vergleich von Korrekt- und Falschschreibungen sowie im individuellen Gespräch über einzelne Schreibungen und deren Begründung. Solche Gespräche sind unerläßlich, um die individuelle Lösungsstrategie des Kindes kennenzulernen. Daß dies selbst beste Software nicht leisten kann, liegt auf der Hand.

Der Vergleich der beiden Fehlerprotokolle zeigt, wie wichtig eine weiterführende Analyse ist. So haben beide Schüler einige identische (Kaputzen, emfielt, aussteuern) oder vergleichbare Fehler (zerreissprobe, Zereissprobe, unentberliches, unendberliches) gemacht, dennoch sind die orthographischen Kenntnisse grundsätzlich unterschiedlich zu bewerten. Selbst wenn man den Klassen-Unterschied (3. vs. 4. Klasse) unberücksichtigt läßt, muß Philipp als tendenziell rechtschreibschwach, Florian dagegen als rechtschreibsicher eingestuft werden. Um dies erkennen und die damit verbundenen Konsequenzen für eine weitergehende Förderung ziehen zu können, bedarf es jedoch einer über die vom Programm erstellte hinausgehende Analyse der Fehler. Solche qualitativen Analysen können weder Eltern noch interessierte Laien leisten, vielfach sind auch Studierende (noch) nicht dazu in der Lage. Mitunter gilt dies ebenso für LehrerInnen, die sicher mehrheitlich über entsprechende Hilfestellungen seitens entsprechend qualifizierter LinguistInnen dankbar wären.

Die Protokolle und Auswertungen einiger Schülerinnen und Schüler der genannten 5. Klasse offenbaren noch ein anderes Problem. In diesem Test, dem insgesamt 41 Wörter zugrunde lagen, ergab sich im Fall von Dilan eine Verteilung von 18 Falsch- zu 23 Normschreibungen. Bei näherer Betrachtung fällt dabei jedoch auf, daß sich unter den Falschschreibungen endfiel, endfliet, undendberliches und auch eigendlich finden. Unter den Normschreibungen demgemäß endgültig. Da sich ähnliche Ergebnisse auch bei anderen Kindern zeigten, geht diese Beobachtung über den bloßen Einzelfall hinaus. Die morphologisch bedingte Unterscheidung zwischen end- und ent- scheint bei diesen Kindern noch nicht erkannt worden zu sein, zumindest nicht ihre Umsetzung in die Schreibung. Unter dieser Voraussetzung muß konsequenterweise auch die normgerechte Schreibung endgültig als ‚fehlerhaft‘ angesehen werden, da eine Strategie, schreibe grundsätzlich nur end- stets auch einige normgerechte Schreibungen produzieren wird. Die Differenzierung der beiden Morpheme stellt also die notwendige Konsequenz des Testergebnisses dar. Eine bloße Korrektur der nicht normgerechten Schreibungen greift also deutlich zu kurz. Offensichtlich wird die Begrenztheit computergestützter automatisierter Auswertung, wenn man sieht, daß etwa 25% aller Fehler der Schülerinnen und Schüler dieser 5. Klasse als „weitere Fehler" klassifiziert werden, wobei davon wiederum etwa 90% als „nicht zugeordnete Schreibweisen" eingeordnet werden.

Damit sollen jedoch nicht grundsätzlich Sinn und Nutzen dieses Analyseverfahrens infrage gestellt werden. Als erster Hinweis für Lehrerinnen und Lehrer sind sie sehr hilfreich und wegweisend für einen individuelle ausgerichteten Förderunterricht, der zur Zeit im schulischen Alltag viel zu kurz kommt. Der Nutzen besteht vor allem in der Offenlegung der individuellen Fähigkeiten einzelner Schülerinnen und Schüler. Anschließen muß sich jedoch in jedem Fall sowohl ein Gespräch über die jeweiligen Norm- und Falschschreibungen, um individuelle Lösungsstrategien kennenzulernen. Erst darauf kann eine individuelle Betreuung und Förderung aufbauen. Das unter Einsatz der Kommunikationsmöglichkeiten des Internet genannte Münsteraner Verfahren bietet hierzu neue Möglichkeiten und Perspektiven. Auf Test und Fehleranalyse aufbauend erhalten die teilnehmenden Kinder weiteres ausgewähltes Arbeits- und Übungsmaterial in einzelnen Schwerpunktbereichen, welches wiederum bearbeitet und den Betreuern/Lehrern zurückgesandt wird. Im Aufbau ist auch die Ausweitung dieses Verfahrens auf das Internet, so daß die Kinder auf diesem Wege eine individuelle Betreuung und Förderung erfahren können.

 

 

Literaturhinweise:

Aitchison, Jean 1998: The Articulate Mammal. An introduction to psycholinguistics, 4. Ed., London, New York [zuerst 976]

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Hajo Diekmannshenke

 

 

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