Kommentar |
Wie kaum ein anderer Begriff firmiert der Begriff der „Moderne" als zentraler Angelpunkt der Entstehung der Soziologie als Wissenschaft, die sich um eine Diagnose der Gegenwartsgesellschaft bemüht, um ihre kennzeichnenden Merkmale zu bestimmen und mögliche Entwicklungslinien der Gesellschaft aufzuzeigen. Theorien gesellschaftlicher Modernisierung stehen der Soziologie seit ihrer Entstehung als Wissenschaft als Referenzpunkte zur Verfügung, weil die Abgrenzung der als modern bezeichneten Gegenwartsgesellschaft von „vormodernen" Gesellschaften eines der Themen der Soziologie ist, durch die sie sich als Wissenschaft selbst definiert. Auffällig ist: In der gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Diskussion zur Diagnose der Gegenwartsgesellschaft wird der Begriff „Moderne" nicht mehr unreflektiert verwendet. Die „Konsequenzen der Moderne" (Giddens) werden reflektiert, die Moderne wird als „unvollendetes Projekt" (Habermas) vorgestellt, der Begriff der Moderne wird multipliziert (Eisenstadt), um die mannigfaltigen Ausformungen der Manifestation moderner Sozial- und Gesellschaftsstrukturen möglichst genau eingrenzen zu können; mit dem Begriff der Moderne wird ein Entwicklungsstadium der Gesellschaft bezeichnet, das nach Ulrich Beck durch personale Freisetzungsprozesse, Globalisierungsprozesse und das Eintreten globaler Umwelt- und Technik-Katastrophen, die als gesellschaftlich erzeugt reflektiert werden, in ein neues, reflexives Stadium eingetreten ist, so dass die erste von einer zweiten Moderne unterschieden werden muss. Für andere ist die Moderne als abgeschlossenes Zeitalter längst von der Postmoderne abgelöst worden (Foucault, Baudrillard, Lyotard, Derrida), weil die zentralen Merkmale der Moderne also etwa Rationalität, Zivilisation, Vernunft und Fortschrittsglaube im letzten Drittel des 20ten Jahrhunderts nachhaltig und irreversibel destruiert worden sind. Und Bruno Latour stellt gar fest, dass der Zustand der Moderne, wie er in modernisierungstheoretischen Ansätzen der soziologischen Gegenwartsdiagnose und Gesellschaftstheorie gefasst ist, nie erreicht worden ist, dass wir also nie modern gewesen sind. Er macht diese provokative These vor allem daran fest, dass die von den Theorien der „Moderne" postulierte Trennung zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Subsystemen, also nach Niklas Luhmann etwa die strikte Unterscheidung zwischen Funktionssystemen der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft wie Politik, Religion, Wirtschaft und Recht, in der Praxis nicht beobachtet werden kann, weil sich hier die von den Differenzierungstheorien als voneinander getrennt gefassten Bereiche regelmäßig vermischen. Ohne diese Vermischung können nach Latour keine Akteur-Netzwerke entstehen, die als Assoziationen Praxis erst ermöglichen. Mit der vielfältigen Verwendung, Revision, Diskussion und Zurückweisung des Begriffs der Moderne rücken gesellschaftliche Transformationen und Veränderungen in den Mittelpunkt der Gegenwartsdiagnose und der Gesellschaftstheorie. Die soziologische Zeitdiagnose steht folglich vor neuen Herausforderungen, die sich vor allem an einer Kritik der Modernisierungstheorie festmachen. Das Seminar, das sich an fortgeschrittene Studierende des Bachelor-Studienganges wendet, greift diese Diskussion auf, indem die wichtigsten Modernitätsnarrative anhand ausgewählter Texte untersucht werden. Leistungspunkte können über ein Referat oder eine Hausarbeit erworben werden. |
Literatur |
Reckwitz, Andreas 2008: Moderne. Der Kampf um die Öffnung und Schließung von Kontingenzen, in: Moebius, Stephan und Andreas Reckwitz (Hg.): Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 226-244. Schwinn, Thomas (Hg.) 2006: Die Vielfalt und Einheit der Moderne. Kultur- und Strukturvergleichende Analysen, Wiebaden: VS Verlag. |