Die Frage, in welcher Gesellschaft wir „eigentlich“ [auch im Sinne Heideggers] leben, impliziert in gewissem Sinne die Frage, „wann“ wir eigentlich leben. Und damit ist weniger das Kalenderdatum gemeint als der temporale Horizont, aus dem heraus wir die Gesellschaft verstehen. Weit verbreitet ist heutzutage die mehr diffuse als klare Vorstellung, dass es abwärts gehe. So neu den Modernen die anthropogene Zerstörung der natürlichen Grundlagen des Lebens aber erscheint, so alt ist doch das apokalyptische Muster, das der Gegenwart der Lebenden durch die Erwartung des Untergangs eine geradezu schmeichelhafte Bedeutsamkeit gibt.
Die Soziologie der Zeit beschäftigt sich mit der Abhängigkeit verschiedener Typen der Zeitorientierung von sozialen Strukturmustern (und umgekehrt), z.B. von der Form der Differenzierung der Gesellschaft. Klassische Unterscheidungen wie die Differenz zwischen zyklischen und linearen Zeitvorstellungen sind schon lange auf die Unterschiede zwischen Gesellschaften, ihren Produktionsregimen, zwischen ihren Schichtungsmuster oder ihren jeweiligen Haltung zum Prinzip der Gestaltbarkeit sozialer Verhältnisse bezogen worden. So sind die Untersuchungen R. Kosellecks zur Verschiebung von Erwartungshorizonten in Reaktion auf Veränderungen des Erfahrungsraumes in der frühen Moderne mittlerweile so etwas wie ein kanonischer Bezugspunkt für Analysen spezifisch moderner Zeitvorstellungen geworden.
Das Thema „soziale Zeit“ ist ein ausgesprochen facettenreicher Fokus in der empirischen wie in der theoretischen Analyse; das Spektrum reicht von der sozialphänomenologischen Analyse der Zeitlichkeit subjektiver Handlungsintentionen (A. Schütz) über pragmatistische Analysen „emergenter Prozesse“ (G. H. Mead) und gesellschaftstheoretische Betrachtungen der Evolution von „Zeitsemantiken“ (N. Luhmann) bis zu zeitdiagnostischen (!) Beschreibungen des Zeit- (H. Rosa) und Zukunftsverlustes (R. Eickelpasch, A. Nassehi) moderner Gegenwartsgesellschaft oder kulturwissenschaftlichen Entrückungen über neue Formen der „Präsenz“ (H. U. Gumbrecht).
Das Seminar vermittelt Zugänge zur komplizierten Lage einer Soziologie der Zeit und der Zeitlichkeit auf zwei miteinander zusammenhängende Weisen: erstens wird natürlich ein Querschnitt durch klassische und traditionsbildende Grundlagen bearbeitet, zweitens aber widmet sich das Seminar als einer Art organisierender Hinsicht der „Apokalyptik“, d.h. dem wandlungsreichen Motiv einer sozialen Erwartung des Endes aller eingespielten Gesellschaftsroutinen. (Literatur wird zu Beginn der Veranstaltung bekannt gegeben) |