Kommentar |
Das europäische Mittelalter gilt nicht nur populärwissenschaftlich als religiöse Einheitskultur. Auch in der Fachwissenschaft war man lange Zeit der Meinung, dass das christlich-lateinische Mittelalter kulturelle Abweichungen nur schwer tolerieren konnte und andere Religionen prinzipiell als ‚Irrglauben‘ oder Teufelswerk sah. Wo mittelalterliche Autoren über andere Religionen sprechen, geschehe dies oft in Form von ‚Polemik'. Gerade in Forschungen, die sich mit der Entstehung von Toleranz und Religionspluralismus in der Neuzeit beschäftigten, konnte man diesen Eindruck sehr eindringlich mit der toleranteren, aufgeklärten Moderne kontrastieren. Doch wider Erwarten erweist sich religiöse Polemik auch in der Gegenwart als gesellschaftlich relevantes Phänomen - zu denken wäre etwa an den deutschen islamophoben Diskurs oder die Angst vor christlichen Fundamentalismen. Religiöse Polemik scheint somit ein epochenübergreifendes Phänomen zu sein, das u.a. religiöse Veränderungen begleitet. Es scheint daher interessant, das Funktionieren von religiöser Polemik im Mittelalter erneut in den Blick zu nehmen. Was wusste man im lateinischen Mittelalter über andere Religionen und inwiefern - und in welchen Medien - wurde über eigene und fremde Religiosität diskutiert? Wie und warum grenzte man sich ‚polemisch‘ von Gegnern ab? An wen richteten sich polemische Texte, auf welcher argumentativen, symbolischen oder emotionalen Ebene funktionierten sie? Mit welchen Argumenten oder Mechanismen versuchte man, Adressaten religiöser Polemik zu überzeugen und eigene Identitäten zu bestärken? Inwiefern wurden so Fremd- und Feindbilder geprägt und emotional besetzt? Das Seminar gibt keinen Überblick über das Zusammenleben verschiedener Religionen im Mittelalter, sondern diskutiert gezielt Problematiken religiöser Polemik anhand ausgewählter Quellen- und Literaturbeispiele, die aus aktuellen und laufenden Forschungen genommen werden. Schwerpunkte liegen bei anti-islamischen und anti-häretischen Polemiken des 12., bettelordensfeindlichen Polemiken des 13. und 14. und anti-klerikalen und anti-türkischen Polemiken des 15. und 16. Jahrhunderts. An einzelnen historischen Situationen sollen aktuelle Ansätze zur historischen Dynamik von Religion, zur Wahrnehmungen von Religionen, zur Funktionsweise von Polemik in verschiedenen Medien und zur Erforschung von Emotionen und Identitäten im Mittelalter diskutiert werden. Die Bereitschaft zur aktiven Teilnahme und regelmäßigen Lektüre von Forschungs- und Quellentexten wird daher vorausgesetzt. Beachten Sie bitte auch, dass Englischkenntnisse und möglichst funktionale Lateinkenntnisse nötig sind. |
Literatur |
Vom Ketzer bis zum Terroristen: Interdisziplinäre Studien zur Konstruktion und Rezeption von Feindbildern, hg. v. Alfons Fürst, Harutyun Harutyunyan, Eva-Maria Schrage u. Verena Voigt, Münster 2012; Alexandra Cuffel, Gendering Disgust in Medieval Religious Polemic, Notre Dame, Ind. 2007; Religious Polemics in Context. Papers Presented to the Second International Conference of the Leiden Institute for the Study of Religions (LISOR), hg. v. T.L. Hettema und A. Van der Kooij, Studies in Theology and Religion 11, Assen, 2004.
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