Bioethische Normsetzung zwischen Natur und Handlungsmacht

  • Beschreibung

    Dieser Forschungsschwerpunkt wird sich mit der Frage beschäftigen, wie man Normsetzungen und Normbegründungen in der Bioethik und Biopolitik jenseits von Naturalismus, metaphysischer Teleologie und reinem Konventionalismus rechtfertigen kann.

    In der modernen bioethischen und biopolitischen Diskussion wird auf der einen Seite aus tutioristischen oder metaethischen Gründen (Anspruch auf „absolute“ oder „objektive“ Gültigkeit ethischer Normen) nach natürlichen und sittlichen Vorgaben gesucht, die gesellschaftlichem Wandel und politischen Mehrheitsentscheidungen entzogen sind. Auf der anderen Seite hat sich durch die biotechnische und soziale Entwicklung die Grenze zwischen dem natürlich Vorgegebenen oder dem zeitlos Gültigen und dem durch Handeln Veränderbaren ständig verschoben. Heute hängt etwa die Potentialität eines sich entwickelnden Organismus von menschlichen Zwecksetzungen ab – sowohl in seiner Herstellung (z.B. reprogrammierte Zellen, Zellkerntransfer) wie in seiner Erhaltung (am Leben erhaltene Sterbende etc.). Zugleich haben sich die Werte und Praktiken im Umgang mit natürlichen Prozessen menschlichen Lebens (Sexualität, Reproduktion, Sterben) deutlich verändert.

    Die Bemühungen Sieps in der Ethik in den letzten Jahren richteten sich auf einen „dritten Weg“ zwischen einem teleologischen Naturrecht und einer interessen- oder präferenzbasierten Ethik. Es geht um eine Bewertung natürlicher Strukturen jenseits von Naturalismus und metaphysischer Teleologie und zugleich um ein Verständnis grundlegender Rechte und Pflichten als Resultat teilweise irreversibler historischer Erfahrungen. Dieses Thema soll in den kommenden Jahren unter den folgenden beiden Fragestellungen weiterverfolgt werden:

    (a) Wie weit kann die Verschiebung der Grenze zwischen zurechenbarem Handeln und natürlichen Vorgaben akzeptiert werden, ohne dass daraus ein grenzenloser Technizismus und Konventionalismus resultieren?

    (b) Wie kann man begründen, dass bestimmten Potentialen und „Schwellen“ in einem graduellen und von menschlichem Handeln beeinflussten „natürlichen“ Prozess bestimmte Rechte bzw. Schutznormen zuzuordnen sind?

    Beide Fragerichtungen können unter Verweis auf neuere Arbeiten Sieps in diesem Zusammenhang weiter erläutert werden:

    Ad (a). Trotz einer weitgehenden Abkehr der modernen Ethik und Rechtsphilosophie von einer natürlichen Teleologie, nach der in den Potentialen natürlicher Gegenstände und Prozesse eine „Bestimmung“ zu ihrer Entwicklung bis zu einem bestimmten Ziel liegt, sind Gesetze und rechtspolitische Diskussionen immer noch von solchen Vorstellungen bestimmt. Vor allem in der deutschen Gesetzgebung und Rechtsprechung ist die Frage nach dem Anfang eines Lebensprozesses, in dem das Potential („Totipotenz“) zu einer Entwicklung liegt, die nicht verhindert oder gestört werden darf, dominierend. In der neueren Praxis der Reproduktionsmedizin und der regenerativen Medizin sind aber natürliche Prozesse immer mehr von menschlichen Handlungen beeinflusst bzw. ersetzt worden. Die Entwicklung zu einem geborenen Menschen hängt bei der assistierten Befruchtung von verschiedenen Handlungen ab (Befruchtung, Implantation etc.). Auch die Fortsetzung der Schwangerschaft ist abhängig von der Unterlassung erlaubter (teils straffreier, teils nicht rechtswidriger) Handlungen des Abbruches. Oft geht diesen Abbrüchen eine bewusst durchgeführte Diagnostik voraus. Ein ethisches Dilemma besteht in der Möglichkeit der Präimplantationsdiagnostik (PID), die in Deutschland verboten ist. Der Schutz der „totipotenten“ Zelle hat das Verbot der PID zur Folge.

    Ähnlich steht es mit dem Potential von Zellen, die durch künstliche Maßnahmen wie die Reprogrammierung adulter Zellen zu sog. iPS-Zellen oder den Zellkerntransfer erzeugt werden. Über die Probleme, die solche neuen medizinischen und genetischen Techniken für den Totipotenzbegriff mit sich bringen, haben die Mitglieder Siep, Schöne-Seifert und Ach vor wenigen Jahren ein Gutachten veröffentlicht. In den bioethischen Forschungen Sieps geht es darüber hinaus um die grundsätzliche Frage des Verhältnisses von menschlichen Handlungen zu natürlichen „Grenzen“. Der Versuch, Rechte und Gesetze stärker von der möglichen Rechtfertigung für menschliche Handlungen und Zielsetzungen als von natürlichen Potentialen und Entwicklungen abhängig zu machen, kollidiert mit der naturrechtlichen Tradition und den Vorstellungen von moralischen und rechtlichen Grenzen, die menschlicher Verfügung entzogen sind. Bereits in der historischen Entwicklung des Naturrechts zeigt sich aber eine Veränderung des Verhältnisses von natürlicher Vorgegebenheit und Entwicklungsfähigkeit einerseits und menschlicher Befreiung von Lasten und Leiden der natürlichen Konstitution andererseits. Sie muss nicht zu einer völligen Willkür oder zu Relativismus und Positivismus führen.

    Ad (b). Eine Bioethik, die von einer neuen Zuordnung von natürlichen Entwicklungsprozessen und menschlicher Zwecksetzungs- und Handlungskompetenz ausgeht, muss eine Reihe von Voraussetzungen erfüllen. Sie muss die Vorstellung einer nicht-normativen, aber zugleich nicht gänzlich „wertneutralen“ Natur zulassen (aa). Zweitens müssen in den natürlichen Prozessen Stufen auszumachen sein, denen in nicht-willkürlicher Weise Normen bzw. Schutzrechte zugeordnet werden können (bb). Schließlich muss es eine Konzeption von Normenbegründung geben, die für den Wandel wissenschaftlicher Einsichten und menschlicher Praktiken offen ist, aber „irreversible“ Normen aufgrund historischer Erfahrungen und ihrer systematischen Begründungen zu rechtfertigen gestattet (cc).

    (aa) Natürliche Prozesse, die teilweise von menschlichen Zwecksetzungen und kontrollierenden Handlungen unabhängig sind und teilweise von ihnen beeinflussbar, müssen in einer anderen Perspektive erfasst werden als in derjenigen rein naturwissenschaftlicher Erklärung. Das Entwicklungspotential einer Blastozyste enthält keine Bestimmung oder Norm, sie in bestimmter Weise zu entwickeln. Ein Fötus in der Endphase der Schwangerschaft besitzt dagegen große Chancen, ohne absichtliche Störungen zur Geburt zu reifen. Er besitzt ferner bereits eine ganze Reihe menschlicher Fähigkeiten. Folglich „betrachten“ und bewerten wir ihn anders als einen Hundertzeller. Das ist keine bloß subjektive „Projektion“, aber auch keine bloße Konsequenz aus naturwissenschaftlichen Fakten. Ähnliches gilt auch für die Evolution der äußeren Natur, in der wir die Bewertung der Chancen artgemäßen Lebens nicht bloß auf Interessen oder Schmerzvermeidungen „höherer“ Lebewesen zurückführen, aber auch nicht aus rein biologisch beschreibbaren Fähigkeiten ableiten. Die Begründung einer solchen evaluativen Sicht auf natürliche Prozesse hat Folgen für eine Reihe bio- und medizinethischer Fragen, vor allem auch die nach der Perfektionierung des menschlichen Körpers durch Verbesserung seiner natürlichen (evolutionär ererbten) Potentiale oder durch deren Ersetzung mittels technischer „Prothesen“, Implantate etc. Die metaethischen Voraussetzungen wie die bioethischen Konsequenzen sind umstritten und sollen weiterentwickelt werden.

    (bb) Es muss eine einleuchtende und im Rahmen von Rechtsordnungen öffentlich festzulegende Zuordnung von Normen zu natürlichen Entwicklungsstufen möglich sein – wie sie in Ansätzen in der britischen Gesetzgebung und dem zugrunde liegenden ethischen Gutachten (Warnock-Report) ins Auge gefasst ist. Dazu ist eine insgesamt gestufte Konzeption der Entwicklung von „Schutzniveaus“ nötig, die zu einem graduellen Verständnis natürlicher Prozesse passt, wie es letztlich auch die Evolutionstheorie nahelegt (vgl. auch die unten unter (6) skizzierte Forschungsperspektive). Über das „Passen“ von Normen zu natürlichen Prozessen jenseits von Teleologie und naturalistischem Fehlschluss hat der Antragsteller bereits Arbeiten vorgelegt (Siep 2004, Siep/Quante 2004, Siep in Vieth/Halbig/Kallhoff 2008). Die Konzeption von Entwicklungsstufen sowohl in der Evolution wie in der Humanentwicklung bedarf aber weiterer Klärung (vgl. dazu Cook 2008). Für die Humanentwicklung gilt noch mehr als für andere Naturprozesse, dass ihre Stufen nicht von menschlichen Handlungen unabhängig sind.

    (cc) Die dritte Voraussetzung ist ein Begriff „veränderungsfester“, aber gleichwohl auf Handlungserfahrungen beruhender Normgebung und Normbegründung. Wenn Normen nicht an der Natur „abgelesen“ werden können, aber auch nicht einer erfahrungsfreien Vernunft entstammen, dann muss ein Begriff historischer Erfahrung erarbeitet werden. Um einen solchen Begriff, der weder geschichtsphilosophisch noch durch übliche Theorien kultureller Evolution (z.B. Modernisierungstheorien) untermauert wird, aber auch nicht auf einen Wertewandel in Form eines Geschmackswandels reduzierbar ist, hat sich der Antragsteller Siep seit einigen Jahren bemüht (Siep 2004, 2006, 2008b, 2008c). Für die Bioethik sind die Fragen entscheidend, wie sich der Wandel von Praktiken der menschlichen Reproduktion, der medizinischen Erleichterung und evtl. auch „milden“ Verbesserung von körperlichen Prozessen – etwa Alterungsprozessen – mit Grundsätzen der Menschenwürde und der Menschenrechte vereinbaren lässt, für deren Revision es keine vernünftigen Gründe und Motive gibt und in einem bestimmten Sinn auch nicht geben kann. Ein solcher Begriff normativer Erfahrung soll auch in Zusammenarbeit mit Historikern weiterentwickelt werden (Vorgespräche mit Prof. Ulrich Thamer, Münster).

    (dd) Der Schwerpunkt ist mit den Forschungsbereichen der übrigen Hauptantragsteller eng vernetzt. Für eine Hinwendung zu einer nicht metaphysisch-teleologisch verstandenen Natur des Menschen ist die Beschäftigung mit der philosophischen Anthropologie unabdingbar (Forschungsperspektive (1)). Die Erfassung dessen, was für den Menschen Leiden und Glück bedeutet, ist ferner von großer Bedeutung für eine Konzeption der Normbegründung durch historische Erfahrungen. Sie haben es mit dem Leid zu tun, das durch die Unterdrückung menschlicher Bedürfnisse und Fähigkeiten, die Demütigung von Selbstachtung und Glücksverlangen etc. hervorgebracht wird. Beispiele dafür sind die Emanzipation von paternalistischen und autoritären Verhältnissen in Moral, Religion, Recht und staatlichen Herrschaftsverhältnissen. Umgekehrt können Normen sich auch als Bedingungen gedeihlichen oder blühenden menschlichen Lebens erweisen. In der Bioethik geht es ebenfalls darum, ob menschliches Glücksverlangen in Bezug auf Reproduktion, Alterungsprozesse und körperliche Leistungsfähigkeiten völlig freigestellt werden kann oder eingeschränkt werden muss. In der Auseinandersetzung mit der empirischen Glücksforschung muss natürlich auch geklärt werden, ob diese – auch angesichts der philosophischen Tradition – über einen hinreichend differenzierten und „anspruchsvollen“ Glücksbegriff verfügt.

    Der Schwerpunkt "Ethik des Rechts" ist von zentraler Bedeutung für das Projekt, weil sie die Spezifität von Rechtsnormen innerhalb des (vor allem deutschen) Rechtssystems zum Gegenstand haben. Es fragt sich, ob dieses mit seiner deontologischen Struktur, seiner Absolutsetzung der Menschenwürde und der Personrechte, seinen irreversiblen Bestandteilen der Grundrechte („Wesensgehalt“) etc. überhaupt in der Lage ist, sich für historische Erfahrungen und die grundlegenden Veränderungen der menschlichen Praktiken zu öffnen.

    Auf der anderen Seite wird argumentiert, dass die unterschiedlichen Bestimmungen des Schutzes befruchteter Eizellen (Nidationshemmer, Schwangerschaftsabbruch etc.) eigentlich bereits einen gestuften Rechtsschutz darstellen, den die prinzipiell-deontologischen Rechtsgrundsätze eigentlich ausschließen (ein paradigmatisches Beispiel ist auch das generelle Importverbot des Stammzellgesetzes und seine weite Ausnahmeregelung). Ferner kommt in der Begründung von Rechtssetzungen immer wieder die Berufung auf „tragende Grundsätze“, „Wertüberzeugungen“ etc. der Rechtsordnung vor, die selber einen wertethischen Charakter haben. Solche Wertüberzeugungen sind aber in der modernen Rechtsordnung nicht statisch, sondern veränderlich.

    Gerade die bio- und medizintechnologische Entwicklung zeigt, dass Gesetzgebung und Rechtsprechung durch diese Entwicklungen oft überfordert werden und „Ethik- Kommissionen“ bzw. -räte einsetzen, um den Lernprozess des Rechts zu verbessern. Wenn die Ethik von Erfahrungsprozessen mit Normen, wie sie etwa in der Verfassungsgeschichte oder auch in den „Generationen“ der Grundrechte sichtbar werden, für ihre Inhalte und ihre Rechtfertigungsfiguren profitiert, ist zu fragen, ob nicht auch das Recht für die sinnvolle Ausarbeitung und Begründung von Normen auf ethische Überlegungen, die sich Erfahrungen mit natürlichen Prozessen (und ihren Stufen) sowie menschlichen Handlungen öffnen (und der sich verschiebenden Grenze zwischen beiden), angewiesen ist.

    Wie Schwerpunkt zur "Konsequentialismus-Debatte" geht es auch in dem hier in Rede stehenden Schwerpunkt um das Verhältnis zwischen prinzipien- und folgentheoretischen Aspekten der Ethik. „Irreversible“ Erfahrungen und dadurch gerechtfertigte Normen haben einen deontologischen Aspekt: Menschenwürde und Menschenrechte können nicht gegen Quantitäten von Präferenz- oder Wunscherfüllungen abgewogen werden. Auf der anderen Seite ist die Frage nach der Zulässigkeit menschlicher Zwecksetzungen im Umgang mit natürlichen Potentialen und Entwicklungsstufen orientiert an Erwartungen von Glück (Entwicklungschancen und Freuden für den künftigen Geborenen und für die Eltern) und Leid (Verweigerung von Chancen, evtl. Schmerzen) für die Betroffenen.

    Auch insgesamt ist die Normentwicklung an der Ermöglichung „guter Folgen“ für den Menschen durch Einräumung von Rechten und Erlaubnissen, Verbot von Unterdrückung, Erniedrigung, Diskriminierung etc. orientiert. Wer auf solche Konsequenzen statt auf unbedingte Gebote zurückgreift, setzt sich aber dem Vorwurf des Pragmatismus oder Relativismus aus. Entsprechend wichtig ist die Frage nach unbedingten Verboten (z.B. sadistischer Folter, egoistischer Demütigung etc.) und nach nicht revidierbaren Rechten („Wesens-“ oder „Würdegehalt“). Ob solche Verbote und Rechte mit einer graduellen Konzeption natürlicher Prozesse in ihrer Wechselwirkung mit sich erweiternden Handlungsmöglichkeiten vereinbar sind, ist eine zentrale Frage dieses Schwerpunktes. 

  • Veranstaltungen

    © NN

    Philosophischer Askriptivismus

    „Es gibt nichts Gutes außer: Man tut es.“ Askriptivisten würden wohl ergänzen: „Man tut nichts Gutes, außer es wird anerkannt“. Wie der Askriptivismus die gängige Praxis der Konstitution von Handlungen und der Zuschreibung von Verantwortung quasi auf den Kopf stellt, soll ein Workshop am 21.–22. Juni ergründen.

    Normenbegründung und historische Erfahrung

    Die allgemeine Erklärung der Menschrechte von 1948 steht in unmittelbarer Folge zu zwei verheerenden Weltkriegen und dem Holocaust. Eine Tagung am 30. und 31. Januar wird sich der Frage widmen, inweit Normen durch den Verweis auf historische Erfahrungen begründet werden können.

  • Preprints

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    „Natur als Maß menschlichen Handelns?“

    Ludwig Siep

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    Erscheint in: Weidmann/von Woedtke (Hg.): Das menschliche Maß. Orientierungsversuche im biotechnologischen Zeitalter. 2018.

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    „Mutterschaft zwischen ‚Natur‘ und Selbstbestimmung“

    Thomas Gutmann

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    Erscheint in: Röthel/Heiderhoff (Hrsg.): Regelungsaufgabe Mutterstellung: Was kann, was darf, was will der Staat? Metzner Verlag, 2016.

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    „Naturbegriff und Angewandte Ethik“

    Ludwig Siep

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    Erscheint in: Rothhaar/Hähnel (Hrsg.): Normativität des Lebens - Normativität der Vernunft? Berlin: DeGruyter 2015.

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    „Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungswesens: Jürgen Habermas über die Zukunft der menschlichen Natur“

    Michael Quante

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    Erscheint in: Rapic (Hrsg.): Habermas und der Historische Materialismus. Freiburg: Alber 2013.

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    „The Argument from Potentiality in the Embryo Protection Debate: Finally ‘Depotentialized’?“

    Marco Stier & Bettina Schöne-Seifert

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    Erscheint in: American Journal of Bioethics. 13/1, 2013.

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    „Die menschliche Natur und ihr Wert“

    Kurt Bayertz

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    Übersicht aller Preprints der Kolleg-Forschergruppe