Religiöse Begründungen in säkularem Gewand?

Zum Verhältnis von religiösen und säkulären Gründen in bioethischen Debatten
2011-05-09 Evansjh

In öffentlichen Debatten, insbesondere bei bioethischen Themen, gelten religiöse Begründungen als normativ problematisch wenn nicht gar als Dialoghindernis, denn sie verweisen auf nicht allgemein geteilte Werte. Dessen ungeachtet haben jedoch nicht wenige Menschen de facto religiöse Gründe für ihre Ansichten zu bioethischen Fragen. In seiner Fellow Lecture an der Kolleg-Forschergruppe „Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik“ legte der Soziologe Professor John H. Evans (University of California, San Diego) dar, wie religiöse Menschen ihre Argumente in bioethischen Debatten vorbringen. Er zeigte, wie verschiedene Techniken zur Überführung von religiösen Gründen in säkulare verwendet werden können, und dass es offenbar einen Unterschied macht, ob Leute sich professionell mit Bioethik beschäftigen oder nicht.

In den USA wurde die Bioethik ursprünglich vom Streit zwischen Theologen und Vertretern der angewandten Naturwissenschaften geprägt. Mittlerweile dominiert jedoch der Principlism die bioethischen Debatten – ein vordergründig säkulares Konzept, das auf Prinzipien mittlerer Reichweite beruht und seit den 1970er Jahren von Tom Beauchamp und James Childress entwickelt wurde. Es entspricht weitgehend der normativen Theorie von John Rawls, der vorschlug, zur Regelung politischer Fragen nur auf öffentliche Gründe zurückzugreifen, solche also, die jedem Bürger unabhängig von seinen religiösen Überzeugungen zugänglich sind. Dieser Ansatz wurde später allerdings dafür kritisiert, die legitimen Ansprüche religiöser Personen zu vernachlässigen und zu einer Entfremdung von der politischen Partizipation zu führen.

Wie jedoch verhalten sich diese normativen Konzepte zur tatsächlichen Situation? In einem laufenden Forschungsprojekt untersucht Evans die Rolle religiöser Begründungen in der gegenwärtigen Bioethik. Verwenden religiöse Menschen religiöse Begründungen im öffentlichen Raum? Empfinden nichtreligiöse Menschen religiöse Begründung als störend, oder sind sie vielmehr an den wahren Gründen ihrer Gesprächspartner interessiert? Welches Verhältnis von religiösen und säkularen Gründen findet sich in bioethischen Debatten?

Bezugnehmend auf die letzte Frage hat Evans ein Modell mit fünf möglichen Zusammenhängen aufgestellt. Demnach können religiöse Gründe (1) vermieden oder (2) schlichtweg verwendet werden, so dass kein eigentlicher Zusammenhang bestehen würde. Darüber hinaus bestehen für religiöse Menschen die Optionen (3) einer „verdichtenden Übersetzung“ von religiösen in säkulare Gründe, (4) einer „zufriedenstellenden Auswahl“ säkularer Gründe oder (5) einer „strategischen Auswahl“ säkularer Gründe, die am ehesten ihre eigene, religiös begründete Position stützen. Evans merkte an, dass die strikte Vermeidung religiöser Gründe zwar konzeptionell dem Principlism entsprechen würde, er bezweifelt jedoch, dass religiöse Menschen dazu überhaupt in der Lage seien. Gemäß seinen Beobachtungen funktioniert Principlism für religiöse Leute üblicherweise nach der vierten Strategie.

Als Ergebnis von Evans‘ ersten Befragungen zeigte es sich, dass religiöse Menschen in der Diskussion mit säkularen Gesprächspartnern oder Angehörigen anderer Religionen religiöse Gründe verwenden möchten. Interessanterweise wollten auch säkulare Teilnehmer der Studie nicht, dass religiöse Menschen zwingend säkulare Gründe verwenden. Allerdings gingen sie auch nicht davon aus, dass sie sich von solchen religiösen Gründen gegebenenfalls überzeugen lassen würden. Vermutlich deshalb zeige sich bei jenen religiösen Personen, die sich professionell mit Bioethik beschäftigen, die Tendenz zur Verwendung der Auswahlstrategien (4/5). Entgegen mancher Befürchtungen würden diese Strategien also nicht aufgrund des Gefühls diskursiver Benachteiligung gewählt, sondern zur Erhöhung der Effektivität. In dieser Hinsicht belegten empirische Studien bemerkenswerte Maximierungsstrategien: So scheinen einige Aktivisten der religiösen Rechten Begründungen zu verwenden, an die sie faktisch nicht glauben.

In der Diskussion mit den Mitgliedern der Kolleg-Forschergruppe ergaben sich schließlich mehrere weiterführende Fragen: Gibt es überhaupt Menschen, die ausschließlich religiöse Gründe haben? Wie unterscheidet man präzise zwischen säkularen und religiösen Gründen? Um welche Form von Gründen geht es: deskriptive oder expressive Sprechakte? Ist so etwas wie eine empirische Bioethik sinnvoll? Wenn ja, welche Konsequenzen ergeben sich für die normative Theorie?