Normative Grundlagen der Public Health

Die Debatte um die öffentliche oder Volksgesundheit wird in der gesamten praktischen Philosophie, also in der Ethik, der biomedizinischen Ethik, der Politischen und der Rechtsphilosophie geführt. Darüber hinaus spielen bei der Frage nach den normativen und allgemeinen Grundlagen, die für eine philosophische Erörterung von Fragen der Public Health oder der von der Europäischen Union propagierten „Health in all Policies“ heranzuziehen sind, auch die Handlungstheorie und die Sozialphilosophie eine Rolle.

Die Tatsache, dass die Gesundheit einer Bevölkerung sich nicht auf die Summe der Gesundheit der einzelnen Individuen reduzieren lässt, sowie die Tatsache, dass entscheidende Einflussfaktoren auf die Volksgesundheit nicht im Bereich der klassischen medizinischen Versorgung anzusiedeln sind, stellt nicht nur die klassische biomedizinische Ethik vor eine große Herausforderung, sondern erzeugt auch in der Ethik, der Politischen und der Rechtsphilosophie tief liegende und weit reichende Spannungen, die sich auf drei Quellen zurückführen lassen:

(1.) Der methodologisch-ontologische Individualismus, der weiten Teilen der Politischen und durchgängig der Rechtsphilosophie zugrunde liegt, erzeugt die Schwierigkeit, Phänomene kollektiver Verantwortung angemessen zu erfassen, die eine (partielle) Ablösung vom Modell des individuellen Akteurs verlangen. Mit Bezug auf die Rechtsphilosophie kommt noch hinzu, dass sich die auf Prävention ausgerichtete Public Health nur schwer mit der von den Handlungsfolgen ausgehenden rechtsphilosophischen Perspektive in Einklang bringen lässt.

(2.) Die Dominanz des Liberalismus in der Politischen und Rechtsphilosophie geht prima facie von einer skeptischen Grundhaltung gegenüber dem Eigenwert von Kollektiven und deren Zuständen, die sich nicht auf individuelle Akteure und deren Zustände reduzieren lassen, aus. Kommunitaristische Tendenzen in der Ethik und der Politischen Philosophie, die umgekehrt die evaluative Selbständigkeit und Eigen- oder gar Höherwertigkeit von überindividuellen Entitäten (wie Gruppen, Gemeinschaften oder Institutionen) behaupten, haben dagegen Probleme, der individuellen Selbstbestimmung einen angemessenen und gegenüber rechtlichem oder politischem Zwang abgesicherten Platz zuzuordnen. Die Maßnahmen der „Public Health“ stehen daher in dem Generalverdacht eines ethisch, politisch und rechtsphilosophisch unzulässigen Paternalismus, weil hier im Namen der Gesundheit in die individuelle Lebensführung oder auch in den privaten Bereich der Erziehung eingegriffen werden soll.

(3.) Vor dem Hintergrund des metatheoretischen Streits zwischen einer liberalistischen und einer perfektionistischen Ethik bzw. Politischen Philosophie ist ungeklärt, welchen Stellenwert „Gesundheit“ in einem allgemeinen axiologischen Rahmen einnehmen sollte. Vor allem das Verhältnis von Gesundheit zum grundlegenden Wert der personalen Autonomie ist hier strittig. Dies führt häufig dazu, dass die gesellschaftliche und politische Diskussion daran scheitert, dass die einzelnen Diskutanten von inkompatiblen axiologischen Prämissen ausgehen, die aber weder offen gelegt noch begründet werden.

Der philosophische Beitrag in der Kolleg-Forschergruppe besteht darin, die Grundlagen und Hintergründe für unsere normativen und evaluativen Aussagen mit Bezug auf die Volksgesundheit zu identifizieren. Dabei gilt es zum einen, die Interdependenzen zwischen den Antworten, die man auf die drei genannten Problemfelder geben kann, zu explizieren. Zum anderen soll eine normativ plausible Konzeption von Public Health entwickelt werden, die sich möglichst neutral gegenüber den Schismen Individualismus/Holismus, Liberalismus/Kommunitarismus und Liberalismus/Perfektionismus verhält.