Einführungen in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts
impressum :: feedback :: kontakt ::  
 
zurück   zurück Glossarverzeichnis

ARMENFÜRSORGE

(tl) Im Hochmittelalter war die Armenfürsorge hauptsächlich in privater Hand. Klöster, Bruderschaften, Innungen und Stiftungen hatten die zuvor dominierenden Pfarreien abgelöst. Armut wurde in dieser Zeit durchaus nicht negativ gesehen. So galt die freiwillige Entsagung von materiellen Besitz als christliches Ideal (Armutsbewegung in der katholischen Kirche im zwölften Jahrhundert), Bettler wurden als Ebenbilder Christi angesehen (weil auch dieser in Armut gelebt hatte). Zudem betrachtete man die materielle Armut weiter Teile der Bevölkerung als normal und gottgewollt. Die Vergabe von Almosen galt als Akt christlicher Nächstenliebe und dem eigenen Seelenheil dienlich. Sie erfolgte (durch die oben genannten Institutionen oder durch Privatpersonen) meist unorganisiert und ohne zuvor die tatsächliche Bedürftigkeit des Empfängers zu überprüfen.

Am Übergang zwischen Mittelalter und früher Neuzeit setzten dann zwei ineinander verwobene Prozesse ein, die Wesen und Ziele der Armenfürsorge veränderten. Zum einen fand eine Neubewertung der Armut statt: an die Stelle des positiven Armutsbildes des Mittelalters trat zunehmend das Stereotyp des lästigen und unwürdigen Armen; auch wandelte sich Armut in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von einem individuellen zu einem sozialen Problem, welches ein erzieherisches Vorgehen der Gemeinschaft erfordert (Pädagogisierung der Armenfürsorge). Ältere Darstellungen datierten diesen Prozess ins 16. Jahrhundert und betonten die überragende Bedeutung der Reformation (insbesondere im Kalvinismus war Armut stark negativ besetzt). Neuere Untersuchungen haben deren Stellung jedoch relativiert. Der Wandel des Armutsbildes setzte nämlich schon im 15. Jahrhundert (also vor der Reformation) ein und vollzog sich in katholischen und protestantischen Territorien nur marginal verschieden. Als Ursachen können zum einen die Auswirkungen der Pestepidemien in der Mitte des 14. Jahrhunderts (Arbeitslosigkeit, Lohnverfall, gegen Ende des 15. Jahrhunderts wieder ansteigende Bevölkerungszahlen) und damit einhergehend ein Anschwellen des beruflichen Bettels in der gleichen Zeit angeführt werden. Der beschriebene Gesinnungswandel vollzog sich in der Hauptsache in den größeren Städten. In ländlichen Gebieten war er weit weniger ausgeprägt.

Der zweite Prozess war die Kommunalisierung und Rationalisierung der Armenfürsorge. Städte waren von der Armutsproblematik überdurchschnittlich stark betroffen, weil sich hier die Unterstützungs-Ressourcen konzentrierten. Daher versuchte man innerhalb der Städte schon im 13. Jahrhundert und dann verstärkt im späten 14. und 15. Jahrhundert das Armenwesen (insbesondere die Behandlung der ortsansässigen Armen) besser zu kontrollieren, zu organisieren und zu zentralisieren (wiederholt, u.a. in der Reichspolizeiordnung von 1530 wurde in staatlichen Normen festgeschrieben, dass jede Stadt oder Gemeinde ihre Armen selbst ernähren und erhalten muss). Das öffentliche Betteln und die Vergabe von Almosen wurden stark reglementiert (in Nürnberg gab es zum Beispiel so genannte Bettelzeichen für legitime Bettler und zentral verwaltete Almosenkassen). Auch wurde zwischen nicht-arbeitsfähigen und arbeitsfähigen Armen unterschieden, um auf letztere erzieherisch einzuwirken und sie wieder in den Wirtschaftsprozess zu integrieren. Ein wichtiger Teil der städtischen Armenpolitik war darüber hinaus die Abwehr von fremden Bettlern (bis hin zu Jagden auf "ausländische" Arme).

Für unterschiedliche Gruppen von Armen und Bedürftigen wurde ein System verschiedenster Institutionen geschaffen. Grundsätzlich kann man solche der offenen und geschlossenen Armenpflege unterscheiden. Zu den offenen Elementen gehören zum Beispiel die schon genannten Bettelvorschriften. Die älteste Institution der geschlossenen Armenfürsorge waren die städtischen Spitäler. Zunächst waren diese gegründet worden, um alte und sieche Arme aufzunehmen, sie entwickelten sich aber mehr und mehr zu Altersheimen, in die sich vermögende Bürger einkauften (auch wenn es insbesondere in katholischen Gebieten Versuche gab, mit Neugründungen im 16. und 17. Jahrhundert an die ursprüngliche Tradition anzuknüpfen). Seit dem 17. Jahrhundert nahm zudem die Zahl der Arbeits- und Zuchthäuser zu. Die Ziele dieser Häuser waren so heterogen wie ihre Insassen. Diese konnten sowohl straffällig gewordene Menschen sein, die in erster Linie verwahrt und bestraft, aber auch resozialisiert werden sollten. Daneben beherbergten sie aber auch sozial auffällige oder bedürftige Personen, für die hauptsächlich Erziehung zur Teilnahme am Wirtschaftsprozess oder Fürsorge angestrebt waren. Seit dem 16. Jahrhundert gab es außerdem vermehrt kirchliche oder städtische Waisenhäuser, welche die Aufgaben der zuvor offenen Fürsorge für Waisen und Findelkindern übernahmen. Im 17. Jahrhundert wurden sie häufig mit Arbeitshäusern verbunden. Von Ausnahmen abgesehen hieß dies, dass dem Auftrag zur christlichen Erziehung und nützlicher Ausbildung nicht nachgekommen wurde. Vielmehr ging es den Betreibern um den frühestmöglichen Einsatz der Kinder bei gewinnbringenden Tätigkeiten (insbesondere bei der Herstellung von Textilien).

Entsprechend der fast gleichförmigen Entwicklung der Armutswahrnehmung in katholischen und protestantischen Territorien unterschied sich auch die praktische Armenfürsorge in diesen Gebieten nur graduell. So war Betteln in der überwiegenden Zahl der katholischen Städte grundsätzlich erlaubt. Es wurde zwar kontrolliert, bildete aber weiterhin einen zum Teil bedeutenden Bestandteil der Armenfürsorge. In protestantischen Städten hingegen war es in der Regel grundsätzlich verboten. Letztere hatten zudem durch die Säkularisation umfangreicher Kirchengüter oft umfangreichere Mittel für eine städtische Armenpolitik zur Verfügung. Dadurch entwickelte sich diese hier zum Teil früher und ausgeprägter. Die Entwicklung wirkte dann aber häufig auf katholische Gebiete nach.

Im 18. Jahrhundert traten mehr und mehr die Unzulänglichkeiten der bisherigen Armenpolitik ins Bewusstsein der Zeitgenossen. Die Zahl der geschlossenen Einrichtungen war zu gering. Daneben war das undifferenzierte Vorgehen der Arbeits- und Zuchthäuser gegenüber verschiedensten Insassen ineffizient. Folglich erreichten die meisten nicht nur die ihnen gesteckten Ziele (vor allem Disziplinierung und Erziehung zu produktiver Arbeit) nicht, sondern blieben auch dauernde Zuschussbetriebe. Schließlich wurde das Vorgehen gegen fremde Arme und die Behandlung der Kinder in den Waisenhäusern als ethisch fragwürdig gebrandmarkt.

Unter dem Einfluss des Humanismus und des aufgeklärten Absolutismus wurden Versuche unternommen diesen Missständen zu begegnen; so wurden die Arbeits-, Zucht- und Waisenhäuser ihren verschiedenen Funktionen entsprechend voneinander getrennt. Gleichzeitig wandelte sich in dieser Zeit erneut die gesellschaftliche Wahrnehmung der Armut. Insbesondere wurde ihre ökonomische Bedingtheit erkannt und nach geeigneten ökonomischen Maßnahmen zu ihrer Überwindung gesucht. Diese Einsicht, verbunden mit einer aufklärerischen Fortschrittsideologie, führte zu einem euphorischen Glauben an die armutsüberwindende Kraft der Arbeit und einem pädagogisch verstandenen Kampf gegen den Müßiggang in jeder Form. Exemplarischen Charakter hierfür hatte die Armengesetzgebung von Hamburg. Hier wurden, unter möglichst genauer Abstimmung auf den Einzelfall, zentral finanzierte und organisierte Fürsorge und Erziehung zur Arbeit miteinander verbunden: durch Almosenunterstützung bei Arbeitsunfähigkeit, Krankenversorgung, Vermittlung von Arbeitsmöglichkeiten, Schulbesuch mit Arbeitsverpflichtung für die Armenkinder, Verlust der Unterstützung und Zuchthausstrafen für als faul oder betrügerisch wahrgenommene Arme.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden in England, Frankreich und Preußen Gesetze erlassen, welche die armenrechtlichen Beziehungen in einem nationalen Zusammenhang regelten (ohne an den Zielen und Mitteln der Armenpolitik grundsätzliche Änderungen vorzunehmen). Nach und nach wurde dieses Vorgehen - wenn auch zum Teil mit nicht unerheblichen Verzögerungen - in fast allen deutschen Staaten nachgeahmt. Der Löwenanteil der Armenfürsorge wurde aber weiterhin von privaten Wohlfahrtsorganisationen, Kirchen und den Städten geleistet.

Einen weiteren Schub bekam die staatlich organisierte Armenfürsorge durch die Bismarcksche Sozialpolitik (insbesondere Einführung der verwandtes Thema Renten- und Invaliditätsversicherung) und deren Ausbau vor und nach dem Ersten Weltkrieg. In der Bundesrepublik wurde dann mit der Sozialhilfe eine bedarfsorientierte Sicherung des Existenzminimums eingeführt (das heißt, dass jeder, der der bedürftig ist, einen Anspruch auf Leistungen hat, unabhängig davon, ob er zuvor in staatliche Systeme eingezahlt hat). Nach der Wiedervereinigung wurde dieses System auch auf die Gebiete der ehemaligen DDR übertragen.

Literatur:

zurück   zurück Glossarverzeichnis
 
zum Seitenanfang
           © 2004 by Ulrich Pfister/Georg Fertig • mail: wisoge@uni-muenster.de