Einführungen in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts
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ANNALES-SCHULE

(ml) Unter dem Begriff Annales-Schule werden Strömungen der französischen Geschichtsschreibung zusammengefasst, die sich um eine 1929 von Lucien Febvre (1878-1956) und Marc Bloch (1886-1944) in Straßburg mit dem Titel »Annales d’histoire économique et sociale« gegründete Zeitschrift gruppieren. Der Name der Zeitschrift selbst wechselte diverse Male: seit 1939 lautete er »Annales d’histoire sociale«, seit 1942 »Mélanges d’histoire sociale«, seit 1946 »Annales. Economies Sociétés, Civilisations«, seit 1994 »Annales. Histoire. Sciences sociales«.

Zwei Grundkennzeichen der Annales-Schule sind die Einbindung der Methodik sozialwissenschaftlicher Nachbardisziplinen der Geschichte und die Abgrenzung gegenüber einer als "Oberflächengeschichte" abgelehnten politischen Ereignisgeschichte. Ferner wird die Stellung der Geschichtswissenschaft mit ihrem als prinzipiell grenzenlos verstandenen Gegenstand (histoire totale) als stategische Mitte innerhalb der Sozial- und Kulturwissenschaften betont, die diese zur Kooperation mit Nachbardisziplinen und zur Übernahme von innovativen Methoden und Forschungsergebnissen derselben verpflichte. Entsprechend ist der Begriff der Annales-"Schule" insofern irreführend, als er nicht eine dogmatische Ausrichtung, sondern eher eine problemorientierte, nicht disziplingebundene Herangehensweise bezeichnet.

Üblicherweise werden die zur Annales-Schule gerechneten HistorikerInnen in vier Generationen eingeteilt: Die erste bildet die Gründergeneration um Febvre und Bloch, die mit der Anbindung der seit der Jahrhundertwende aufkommenden Disziplinen der Soziologie, Geographie, Psychologie und Linguistik an die Geschichtswissenschaft und der Betonung der aktiven Rolle des Historikers bei der Konstruktion seines Gegenstandes die Ausrichtung auf den gesellschaftlichen Zusammenhang der Geschichte vorgaben.

Bedeutende Vertreter der zweiten Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg große internationale Bedeutung erlangten, waren Fernand Braudel (1902-1985) und Ernest Labrousse (1895-1988). Braudel betonte die Prägung der menschlichen Geschichte durch die Bedingungen der Umwelt und des Raumes und der Ungleichzeitigkeit der Geschichte auf den Ebenen von Mentalitätsverschiebungen, Wirtschaftsentwicklungen und politisch-militärischer Ereignisabfolge. Labrousse brachte die Untersuchung "langer Reihen" (v.a. Preisreihen) voran und versuchte, die unter den oberflächenhaften Ereignissen liegenden Strukturen zu erkennen. Ein gemeinsames Merkmal der zweiten Generation wird daher in der räumlich und zeitlich weit ausgreifenden Perspektive, die den Begriff der "longue durée" geprägt hat, gesehen. In der 1947 gegründeten VIe Section de l’Ecole des Hautes Etudes als außeruniversitären Forschungszentrum für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften gelang zudem die institutionelle Verankerung der Forschungsrichtung.

In den fünfziger und sechziger Jahren bildeten sich innerhalb der dritten Generation zwei Richtungen heraus. Eine vertiefte die Methode der "langen Reihen" zur statistischen Auswertung in großen Mengen vorhandener gleichartiger Quellen (histoire serielle), die andere stellte die Erforschung kultureller Phänomene in den Mittelpunkt einer "Mentalitätsgeschichte". Die bekanntesten Vertreter dieser Generation, George Duby (1919-1997), Pierre Chaunu (*1923), Jacques Le Goff (* 1924) und Emmanuel Le Roy Ladurie (* 1929) verbinden die neuen mentalitätsgeschichtlichen mit den älteren wirtschaftsgeschichtlichen Ansätzen.

In der vierten Generation seit den siebziger Jahren ist in noch stärkerem Maße die stärkere Ausdifferenzierung von Methoden und Gegenständen spürbar, die sich auch aus der Entwicklung ergibt, dass sich die Annales-Schule zumindest in Frankreich mittlerweile zur dominierenden Strömung der Geschichtswissenschaft entwickelt hatte, deren Paradigmen und Methoden nun ihrerseits durch neue Ansätze (z.B. microstoria in Italien, Postmoderne-Diskurse) herausgefordert wurden. Der mentalitätsgeschichtliche Ansatz bildete dabei die Grundlage einer entstehenden Historischen Anthropologie. Andererseits brachte die Ausdifferenzierung auch Strömungen hervor, die sich im Gegensatz zum Ursprungsparadigma, aber in veränderter Perspektive wieder der Erforschung politischer Ereignisgeschichte zuwandten.

Literatur:

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