Franz-Josef Arlinghaus, Zwischen Notiz und Bilanz. Zur Eigendynamik des Schriftgebrauchs in der kaufmännischen Buchführung am Beispiel der Datini/di Berto-Handlungsgesellschaft in Avignon (1367-1373) Diss. masch. Münster 1996.


Inhalt:


Abbildungen S. III
Vorwort S. IV


1 Einleitung S. 1

2 Kaufmannsbildung und kaufmännische Schriftkultur S. 8
2.1 Die Ausbildung der Kaufleute und die Folgen für die Ausformung der Buchhaltung S. 8
2.2 Der kulturelle Kontext kaufmännischen Schreibens S. 29


3 Die Quellenlage S. 59
3.1 Die Überlieferungssituation als Methodenproblem S. 59
3.2 Die Datini/di Berto-Handelsgesellschaft in Avignon und ihre Rechnungsbücher S. 78


4 Das Strukturieren von Informationen durch Verwendung parallel geführter Rechnungsbücher S. 95
4.1 Der Aufbau der einzelnen Rechnungsbücher S. 95
4.1.1 Zur äußeren Gestalt der Bücher S. 95
4.1.2 Die 'Kommentare' S. 104
4.1.3 Die Struktur der Information ... S. 121
4.1.3.1 ... in den Ricordanze S. 121
4.1.3.2 ... in den Ricordanze di balle mandate S. 147
4.1.3.3 ... im Libro di Entrata e uscita und im Quaderno di spese di casa S. 169
4.1.3.4 ... im Memoriale S. 189
4.1.3.5 ... im Libro grande S. 207
4.1.3.6 ... in den Quaderni di ragionamento S. 230
4.1.3.7 ... im Libro segreto S. 250
4.2 Zusammenfassung S. 291


5 Von der 'Gedächtnisstütze' zur Kontrolle des Geschäftserfolges: Zur Eigendynamik des Schriftgebrauchs in der Buchführung S. 297
5.1 Warum überhaupt Buchführung? Zu den Funktionen der Buchführung S. 297
5.2 Schriftliche Informationsspeicherung und Neustrukturierung der Daten durch Transkription - eine medienbedingte Notwendigkeit und ihre Folgen S. 330


6 Der Umgang mit Schrift und seine Wirkung auf den Nutzer S. 366


7 Schluß S. 394


Siglen und Abkürzungen S. 407
Quellen S. 408
Literatur S. 413.


1 Einleitung



Als Benedetto Cotrugli 1458 daran ging, einen belehrenden Traktat über den Beruf des Kaufmanns zu schreiben, wußte er wohl, wovon er sprach, denn er hatte es in diesem Metier bereits zu einigem Wohlstand gebracht. Um 1416 in Ragusa geboren, das damals zu Venedig gehörte, ging der Kaufmannssohn während seines Lebens in allen wichtigen Handelszentren des Mittelmeerraumes, darunter Florenz und Barcelona, seinen Geschäften nach. In dem Kapitel 'Del'ordine di tenere le scritture' gibt er, nachdem er die Feder als eines der edelsten Instrumente in der Hand des Kaufmanns gelobt hat, als Begründung für das Anlegen von Geschäftsschriften an, der Händler dürfe nicht einfach aufgrund seiner Erinnerungen handeln, es sei denn, sein Gedächtnis sei so gut wie das des Perserkönigs Darius, der jeden Soldaten seines riesigen Heeres mit Namen gekannt habe, ... oder das des Legaten des Pyrrhos, der schon am zweiten Tag in Rom alle Senatoren mit Namen anredete. Da dies aber nicht jedem gegeben ist, müsse man sich der Schrift bedienen: "La penna è uno strumento sì nobile et sì excellente che non solamente a mercanti, ma etiamdio a ogni arte, et liberale, et mercchanicha, è necessariissima ... Perché lo mercante non dee fare le sue facciende di memoria, ecepto se fussi come Ciro re di Persia, il quale di tucto lo exercito suo, lo quale havea inumerabile, sepea ognuno chiamare per nome; ... et Cinea, legato da Pirho, l'altro dì che entrò in Roma salutò il senato ciaschuno per nome suo. Et perché questo è impossibile ad ogni uno, dunque ne verremo alla prattica delle scripture" (Benedetto Cotrugli, Il libro dell'arte di mercatura [ca. 1458], a cura di Ugo Tucci, Venezia 1990, S. 171).

Im Gegensatz zu Cotrugli, der hier die gedächtnisstützende Funktion der Buchhaltung stark betont, wurden und werden in der recht umfangreichen Forschungsliteratur zur mittelalterlichen Buchhaltung zumeist andere Gründe als Motiv für das Schreiben von Geschäftsschriften genannt. In der Tat ist es nicht ganz einfach, den Beweggründen der Kaufleute für die Anlage ihrer Rechnungsbücher nachzuspüren. Ihre Briefe geben nur sporadisch Auskunft; zu einem expliziten Thema der Traktatliteratur ist die Buchhaltung erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts geworden, und auch hier werden den Büchern zumeist mehrere, ganz unterschiedliche Funktionen zugewiesen. Man hat daher lange Zeit jene Funktion, die dem Rechnungswesen in modernen Handelsunternehmen primär zugeschrieben wird, nämlich am Jahresende schnell und vor allem zuverlässig den Erfolg der Unternehmung auszuweisen, auch als das erste Ziel der Buchhaltung der italienischen compagnie des Mittelalters betrachtet. In der hiermit zusammenhängenden Diskussion um die doppelte Buchführung, die an dieser Stelle nicht referiert werden soll, ist dagegen insbesondere von der angelsächsichen Forschung immer wieder darauf verwiesen worden, daß bei der Ermittlung von Gewinnen und Verlusten die Buchhaltung lange Zeit nicht die zentrale Rolle gespielt hat, die ihr heute zukommt. Dieser Hinweis hat die Diskussion um die ursprünglichen Funktionen mittelalterlicher Rechnungsbücher wieder ein Stück weit zu öffnen vermocht. Neben der Gewinnermittlung werden weitere Funktionen genannt, darunter das Festhalten von Gläubigern und Schuldnern, und vor allem die gegenseitige Kontrolle und Überwachung von Geschäftspartnern und Angestellten, ohne daß ein Abwägen oder eine Hierarchisierung dieser Antriebsmomente erfolgt wäre.

In dieser Arbeit wird Buchhaltung zunächst einmal als Teil eines breiten Verschriftlichungsprozesses betrachtet, der gerade in Italien seit dem 11. Jahrhundert die verschiedensten Lebensbereiche erfaßte und zu durchdringen vermochte. Gerade in der Buchhaltung mittelalterlicher Handelsgesellschaften erscheint 'Schrift' aber nicht in einer beliebigen, alle Möglichkeiten des Mediums ausschöpfenden Form; es lassen sich vielmehr klare Grenzen der Nutzung feststellen, die zum Teil materiell, zum Teil kulturell bedingt sind. Wenn hier von 'Schrift' die Rede ist, so meint dies zunächst einmal den mit Feder und Tinte in einem Buch eingeschriebenen Text. Anders als heute, wo verschiedene Speichermedien für das Fixieren von Texten zur Verfügung stehen, bestanden zu dieser Art des Schreiben für die Kaufleute keine wirklichen Alternativen. So banal dies vielleicht klingen mag, so hatte es doch weitreichende Folgen für den Umgang mit dem Aufgeschriebenen. Denn der auf diese 'mittelalterliche' Weise festgehaltene Konteneintrag ist Ergänzungen, Änderungen oder Neuordnungen so gut wie gar nicht zugänglich; will oder muß man ihn dennoch bearbeiten, bleibt nur das erneute Abschreiben. Es wird noch zu zeigen sein, daß in dieser mangelnden Flexibiltät der in einem Rechnungsbuch vermerkten Posten ein wesentliches Moment für die spezifische Ausformung mittelalterlichen Buchhaltens zu sehen ist.

Neben diesen allein aus den materiellen Gegenbenheiten herzuleitenden Begrenzungen gab es darüber hinaus aber auch noch kulturelle Hürden, die einem flexibleren Gebrauch von Schrift im Wege standen. Denn die Kaufleute nutzten nicht einfach 'die Schrift' in der eben dargestellten Weise, sie griffen vielmehr auf ein ganz bestimmtes Modell des Schriftgebrauchs zurück, wie es in der Gesellschaft des Mittelalters vorherrschend war. Bestehen heutige Rechnungsbücher vornehmlich aus tabellarisch angeordneten Zahlenkolonnen, die nur dann Sinn machen, wenn man die räumliche Anordung der Zahlen miteinander in Beziehung setzt, benutzten im Gegensatz dazu die mittelalterlichen Fernhändler einen vollständigen Text, bestehend aus ganzen Sätzen, für das Vermerken von Geschäftsvorgängen. Dieser Text wurde allerdings sehr geschickt in ein dreispaltiges Seitenformular umgebrochen, so daß wichtige Einzelinformationen an prominenter Stelle plaziert waren und schnell erfaßt werden konnten. Obwohl die Kaufleute durchaus Tabellen zu erstellen und zu lesen wußten, also räumliche Bezüge auf dem Blatt sinnvoll interpretieren konnten, und eine Nutzung dieser Schreibform sicherlich eine Reihe von Vorteilen geboten hätte, verwandten sie diese Technik in ihren Rechnungsbüchern nicht. Hier wird deutlich, daß das Erlernen von Schrift nicht dazu führt, es sofort in all seinen Möglichkeiten anzuwenden. Es scheint vielmehr so, daß Schrift immer in bestimmten Modellen angeboten und rezipiert wird, und es war offenbar nicht leicht, sich über diese Modelle hinwegzusetzen.

Aus dem soeben gesagten ist vielleicht schon deutlich geworden, daß mit sehr einfachen und grundsätzlichen Fragen an die Analyse der Geschäftsschriften herangegangen werden soll. Ein solcher Ansatz, der für andere Felder des Schriftgebrauchs bereits zu fruchtbaren Ergebnissen geführt hat, erlaubt es, die Zuweisung der Rechnungsbücher in engere Funktionsräume wie Erfolgs- oder Mitarbeiterkontrolle erst in einem zweiten Schritt durchzuführen und statt dessen die darunter liegenden, allgemeinen Aufgaben von Schrift, wie Kommunikation herzustellen oder Geschehnisse vor dem Vergessen zu bewahren, in den Vordergrund zu heben. Mag diese Gewichtsverschiebung in der Fragestellung zunächst als sehr abstrakt erscheinen, hat sie doch direkte Konsequenzen für die Herangehensweise an die zu untersuchenden Quellen. Denn bei der Frage nach dem Zugriff des Kaufmanns auf das Medium Schrift werden jetzt zunächst einmal alle Teile des Systems von Rechnungsbüchern, ob Kladde oder Hauptbuch, als gleichwertig betrachtet, müssen als gleichrangig gelten, ohne daß man sofort die Analyse dieses oder jenes Kontobuchs in den Vordergund stellen könnte. Versteht man die kaufmännische Buchhaltung als ein ineinandergreifendes System von zunächst einmal gleich wichtigen schriftlichen Aufzeichnungen, ohne ihr sofort eine bestimmte Funktion im engeren Sinne zuzuweisen, so wird man bei dieser Art der Fragestellung alle Teile dieses System für sich und in ihrem Zusammenwirken möglichst vollständig in den Blick zu nehmen haben. Diese Herangehensweise an die Quellen legt aber zugleich nahe, erst einmal in einer Querschnittsuntersuchung die einzelnen Elemente eines Gefüges von Rechnungsbüchern für sich und in ihrem Bezug zueinander genauer zu untersuchen. D. h. für die hier vorzunehmende Analyse wird man ein geschlossenes Quellencorpus heranziehen müssen, bei dem alle Aufzeichnungen möglichst vollständig überliefert sind.

Die erste Buchhaltung, von der fast alle Bücher erhalten geblieben sind, wurde von einer kleinen Handelsgesellschaft angelegt, die von den Italienern Toro di Berto und Francesco Datini im Oktober 1367 in Avignon gegründet und 1373 aufgelöst wurde. Auf über 10.000 Seiten in insgesamt 35 Rechnungsbüchern vermerkten sie die Lieferung großer Mengen von Metallerzeugnissen aus Mailand ebenso wie den Verkauf einer Rolle Draht oder die Ausgaben für Essen und Trinken. Aber nicht das, was gehandelt wurde, auch nicht, wieviel man damit verdiente, interessiert hier, sondern wie diese Vorgänge in den Rechnungsbüchern notiert und wie diese umfangreichen Notizen verwaltet wurden. Die große Masse des Aufgeschriebenen ließ eine gründliche Analyse zunächst aussichtslos erscheinen. Es zeigte sich aber, daß sich die 35 Rechnungsbücher acht Grundtypen zuweisen ließen, denen zumeist eine spezifische Form und ein spezifischer Zweck eigen waren. In dieser Arbeit soll daher für jeden der acht Typen ein Rechnungsbuch exemplarisch im Detail vorgestellt werden, und wo sich innerhalb einer Typengruppe zu große Abweichungen ergaben - dies ist beispielsweise bei der Gruppe der Memoriali der Fall - wird darauf gesondert einzugehen sein.

Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen dabei zwei sehr einfache Fragen: Erstens soll differenziert für jeden Rechnungsbuchtyp untersucht werden, warum und aus welchen Beweggrunden er angelegt wurde, und zweitens ist zu fragen, wie mit dieser großen Menge an schriftlich fixierten Informationen umgegangen wurde, wie man die Daten verwaltete, um sie auf aktuellem Stand und benutzbar zu halten. Es stellte sich heraus, daß diese beiden Fragen stärker miteinander verschränkt waren, als es zunächst den Anschein hatte. Denn ein nicht geringer Teil des Geschriebenen läßt sich allein auf die Notwendigkeit zurückführen, daß man, wie oben bereits erwähnt, zur Neuordung der Konten die Posten erneut abschreiben und in ein anderes Buch übertragen mußte. Es sollte sich zeigen, daß die sich hieraus ergebenden Strukturänderungen in den Aufzeichnungen einen wichtigen Schlüssel für die Erklärung der Funktionsweise dieses Buchhaltungssystems liefern. Um dies an den Kontobüchern aufzeigen zu können, wird in erster Linie die auf die Struktur und Präsentationsweise der Buchungen in den verschiedenen Rechnungsbüchern einzugehen sein; ihre Inhalte - die ja aufgrund des Abschreibens oft ähnlich waren - treten demgegenüber stark zurück. Die Fokussierung auf die Form der Bücher und Konten bringt es aber mit sich, das Zitieren der Quellen in anderer Weise vorzunehmen als normalerweise üblich. Denn allein durch eine mehr oder weniger umfangreiche Textwiedergabe würden sich nur sehr ungenügend die strukturellen Veränderungen in der Anordnung der Daten aufzeigen lassen. Dank moderner Textverarbeitungssysteme ist es aber heute möglich, das Layout der Geschäftsschriften zumindest grob nachzeichnen zu können. In dieser Arbeit werden daher die Konten in Annäherung an ihre dreispaltige Gliederung in den Rechnungsbüchern ebenfalls in dieser Form im Text wiedergegeben.

Es ist aber nicht allein das Ziel dieser Arbeit, die Buchhaltung einer Handelsfirma genau zu analysieren und vielleicht in ihrer Funktionsweise erklären zu können. Gehofft wird vielmehr, daß sich auf der Basis dieser Querschnittsuntersuchung allgemeine Erkenntnisse über die Motive und Mechanismen mittelalterliche Buchführung gewinnen lassen. Es soll daher in einem zweiten Schritt versucht werden, die Ergebnisse, wie sie durch die Analyse des vollständigen Buchhaltungssystems einer compangia erzielt wurden, auch für ein Nachzeichnen der historischen Entwicklung des Rechnungswesen insgesamt fruchtbar zu machen. Vielleicht, so ist zu hoffen, ermöglicht ja die genaue Analyse der Strukturen einer exemplarisch ausgewählten Buchhaltung eine neue Sichtweise auf die insbesondere für das 13. Jahrhundert mehr als fragmentarische Überlieferung privaten Geschäftsschriftgutes.


7 Schluß



Die fast vollständig überlieferten Rechnungsbücher jener kleinen, 1367 von Toro di Berto und Francesco Datini gegründeten compagnia bieten erstmals die Gelegenheit, das gesamte Gefüge aller von einer mittelalterlichen Handelsgesellschaft angelegten Rechnungsbücher untersuchen zu können. So zu verfahren, also zunächst einmal eine Querschnittuntersuchung durchzuführen, leitete sich aus einer Fragestellung ab, die die Buchführung erst in einem zweiten Schritt in einen konkreten, engeren Nutzungszusammenhang gestellt sehen will und zunächst einmal die wesentlich weiter gefaßten, allgemeinen Antriebe der Verschriftlichung wie Kommunikation und Speicherung von Information als im Rechnungswesen wirkend unterstellt. Diesem Ansatz folgend, war nach einer Klärung des allgemeinen Kontextes, in dem das Schreiben der Rechnungsbücher stattfand, jedes Element des Systems von Kontobüchern genau analysiert und auf seinen spezifischen Zweck und Nutzen hin befragt worden. Zunächst konnten die 35 Rechnungsbücher der hier untersuchten compagnia insgesamt acht verschiedenen Typen zugeordnet werden, die alle zeitgleich geführt und miteinander verzahnt waren. Die Buchtypen und ihre Verflechtungen untereinander sind in Schema I in der hinteren Buchlasche dargestellt; es ist an anderer Stelle ausführlich erläutert worden. Wichtig war nun, jede einzelne Komponente der Buchhaltung dieser kleinen Handelsfirma in ihrer Funktion für die compagnia, dann aber auch für das Buchhaltungssystem selbst genau zu analysieren. Dabei zeigte sich, daß trotz der Verzahnungen den verschiedenen Elementen des Systems jeweils eigene Zweckbestimmungen zuzumessen sind, es also zunächst einmal gar nicht als ein Ganzes konzipiert war. So dienten große Teile den Ricordanze, sowie der gesamte Memoriale und der Libro grande einzig dem Zweck, die Konten von Gläubigern und Schuldnern zu verzeichnen und so das Vergessen eines noch zu entrichtenden Betrages zu verhindern, während der Libro di entrata e uscita, das Kassenbuch, vor allem die Aufgabe hatte, intern den Bargeldfluß nachvollziehbar zu machen und also letztlich die verschiedenen Mitarbeiter zu kontrollieren. Es stellte sich heraus, daß die verschiedenen Funktionen nicht gleichrangig zu betrachten waren, sondern vielmehr unterschiedlich stark zur Herausbildung einer systematischen Buchhaltung beigetragen hatten. Den Kern des Systems bildeten eindeutig die drei Bücher - Ricordanze, Memoriale und Libro grande -, für deren Anlage das Motiv der Datenspeicherung, der Gedächtnisstütze der dominierende Antrieb war. Die Buchhaltung der von Toro und Francesco geführten compagnia stellt sich so dar, daß mit einem vornehmlich memorativen Zwecken dienenden Zentrum weitere, aus anderen Antrieben heraus angelegte Rechnungsbücher verzahnt wurden.

Nach der Differenzierung zwischen zentralen und peripheren Elementen des Buchhaltungssystems und damit zugleich zwischen vorrangigen und nachrangigen Antriebsmomenten war nun dieser Kern mit seinen verschiedenen Rechnungsbüchern genauer zu untersuchen. Speziell zu klären war nun, warum für das Aufschreiben von Schuldnern und Gläubigern nicht nur ein Notizbuch geführt, sondern vielmehr drei aufeinander aufbauende, gleichzeitig benutzte Rechnungsbücher Verwendung fanden. Diesem Phänomen nachzugehen, war nicht zuletzt deshalb von Interesse, weil unabhängig von der jeweils angewandten Methode eine solche Dreistufigkeit der Buchhaltung bis heute eigen ist. Um hier eine Antwort finden zu können, war bei der Untersuchung die formale Struktur sowohl der Rechnungsbücher insgesamt wie auch der in ihnen eingeschriebenen Konten in den Mittelpunkt gestellt worden. Denn inhaltlich gab es ja nur wenige Unterschiede zwischen den drei Büchern, da alle drei die gleichen Schuldner- und Gläubigerposten verzeichneten. Tatsächlich war es in erster Linie der Aufbau der Konten und die Art und Weise, wie sie in den Rechnungsbüchern plaziert wurden, an denen sich Differenzen feststellen ließen. Denn während die Konten in den Ricordanze noch chronologisch angeordnet waren und somit die Einträge verschiedener Klienten sowie Käufe und Verkäufe unsortiert direkt aufeinander folgen, hatte man im Libro grande die Posten, die einen Klienten betreffen, bereits weitgehend auf einer Seite und in einem Konto zusammengefaßt und zudem in Soll und Haben gegliedert. Die Differenzen zwischen den Büchern ließen sich also vornehmlich in einer unterschiedlichen Anordnung der gleichen Inhalte festmachen.

Nötig war diese Neuordnung des bereits einmal Notierten durch erneutes Abschreiben, weil die sich aus dem Wirtschaften der Kaufleute ergebenden Anforderungen an ein Medium zur Informationsspeicherung von der Schrift auf Anhieb nur sehr unzureichend erfüllt werden konnten. Im Vergleich zu anderen Feldern des Schriftgebrauchs fielen beim Kaufmann tagtäglich unverhältnismäßig viele Einzelinformationen an, die nicht zuletzt aus der üblichen Praxis des Verkaufs von Ware auf Kredit resultierten. Eine große Zahl an Schuldner- und Gläubigerkonten, wie sie in den Ricordanze, dem Memoriale und dem Libro grande zu finden sind, war die Folge. Ein Zweites, Wesentliches tritt hinzu: Die Kunden von Toro und Francesco betraten die drei Läden der beiden nicht nur einmal, sondern kauften an verschiedenen Tagen immer wieder einzelne Dinge, beglichen vielleicht einen Teil ihrer Schuld, um dann beim nächsten Mal erneut Waren zu erwerben, ohne den geforderten Preis sofort in bar zu entrichten. Da aber nicht vorherzusehen war, ob und wie oft eine Person Geschäftsbeziehungen in der eben dargestellten Form mit der compagnia aufnahm, wäre es unsinnig gewesen, nach einem einmal erfolgten Eintrag in den Ricordanze vorsorglich Raum für weitere Buchungen zu lassen. Bei der großen Zahl von täglich vermerkten Posten führte dies aber zu einer sehr disparaten Verteilung der einem Kunden zuzurechnenden Einträge in der Kladde, so daß bei dem großen Umfang an Notizen die Übersichtlichkeit verloren ging und sogar die reale Gefahr des Informationsverlustes drohte. Hier konnte nur ein Löschen der bereits bezahlten Schulden und ein Neuordnen der noch offenen Konten Abhilfe schaffen. Anders als heute, wo diese Vorgänge computergestützt leicht durchzuführen wären, blieb bei der Benutzung mit Tinte auf Papier aufgetragener Schrift nichts anderes übrig, als die Notizen von Zeit zu Zeit erneut durchzusehen und unter neuen Ordnungskriterien in ein zweites Buch zu übertragen.

Das Verfahren ist an anderer Stelle bereits detaillierter erläutert worden; hier sei nur erneut betont, daß das entscheidende Moment für die Unausweichlichkeit eines erneuten Abschreibens der Posten nicht in der großen Menge an ökonomischen Transaktionen zu sehen ist. Dies stellte nur die notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung dar. Entscheidend waren vielmehr die begrenzten Möglichkeiten des Mediums Schrift, das aufgrund seiner mangelnden Flexibilität ab einem bestimmten Punkt eben nicht mehr in der Lage ist, Vorgänge vor dem Vergessen zu bewahren. Hätte man andere Medien bereits zur Verfügung gehabt - etwa den Computer -, wäre ein solch umständliches und aufwendiges Procedere, wie es das Abschreiben darstellt, auch bei größeren Datenmengen nicht erforderlich gewesen.

Der hiermit abgesteckte Rahmen, in dem sich die Herausbildung eines komplexen Buchführungssystems vollzog, zeigt an, daß dem gesamten Prozeß eine hohe eigendynamische Komponente innewohnt. Eigentlich wollte man sich ja nur, gestützt auf einige Notizen, die Forderungen an seine Schuldner merken. Die Notwendigkeit der Neubearbeitung, ja selbst die Art und Weise, wie Konten im zweiten und dritten Buch anzuordnen waren, war nicht mehr in das Belieben des Schriftnutzers gestellt. Allein um sein ursprüngliches Ziel zu erreichen, eine taugliche und benutzbare Merkhilfe zu haben, sah sich der Kaufmann gezwungen, die hier aufgezeigten Bearbeitungsschritte durchzuführen und letztlich mindestens zwei, besser drei 'Notizbücher' parallel zu verwenden. Ohne auf weitere Annahmen zurückgreifen zu müssen, allein durch das Aufzeigen der Funktionsweise dieses eigendynamischen Prozesses, konnten die meisten und wichtigsten Erscheinungsformen einer systematischen Buchhaltung als Folge eben dieser Eigendynamik hergeleitet werden.

Lag es schon nicht in der ursprünglichen Absicht der Fernhändler, sich auf diese Weise und mit solcher Intensität mit dem Speichermedium 'Schrift' auseinanderzusetzen und damit letztlich ein wohlgeordnetes Gefüge von Rechnungsbüchern und Konten zu erstellen, traten im Zuge der Bearbeitung des einmal Geschriebenen weitere 'Nebenwirkungen' auf, die weder intendiert noch vorhersehbar waren. Denn mit dem mehrfachen Übertragen der Notizen ging unweigerlich deren unmittelbarer Bezug zum tatsächlichen ökonomischen Vorgang verloren, und die 'Distanz' zwischen Buchung und Kauf oder Verkauf wurde durch das Dazwischentreten verschiedener Rechnungsbücher und verschiedener Verarbeitungsstufen immer größer. Kann man in den Ricordanze noch aus dem Eintrag erfahren, welche Waren für einen bestimmten Betrag den Besitzer wechselten, und zeigen die vor und nach diesem Eintrag eingeschriebenen Posten an, was an diesem Tag noch von anderen Kunden erworben wurde, so gehen diese eng mit dem tatsächlichen Geschehen verknüpften Informationen durch mehrfaches Destillieren der Buchungen unweigerlich verloren.

Noch wichtiger als der Verlust der direkten Verbindung zur 'wirklichen' Transaktion war aber die Tatsache, daß an ihre Stelle ein zunehmender Bezug auf bereits einmal Geschriebenes, auf Konten und Buchungen in demselben oder in anderen Rechnungsbüchern, trat. Statt als Grund für die Buchung den Kauf eines Helmes oder Tuches zu nennen, wies man nun - zwangsläufig - auf eine bereits erfolgte Eintragung an anderer Stelle im Geschäftsschriftgut hin; statt zwischen Posten vermerkt zu sein, die tatsächlich zuvor oder nachher Geschehenes festhalten, findet sich der Eintrag nun herausgerissen aus seinem 'eigentlichen' Zusammenhang und auf die Soll- oder Haben-Seite des Kontos einer bestimmten Person plaziert. Diese zunächst unspektakulär anmuntende gesteigerte Selbstreferentialität des Gefüges der Kontenbücher bedeutete in der Konsequenz aber einen - fast unmerklichen - Wechsel des Koordinatensystems, in das die Notiz eingefaßt war. Die dadurch erfolgten Bedeutungsverschiebungen einzelner Sprachelemente und Konstruktionen, die Herausbildung von 'Fachtermini' allein durch die Änderung des Bezuges, machen dies nicht nur besonders deutlich, sie zeigen zugleich, welche weitreichenden Folgen der Wechsel des Referenzsystems weg vom Vorgang im Laden hin zum Eintrag im Buch mit sich brachte.

In dieser Untersuchung zur mittelalterlichen Buchhaltung ging es zunächst einmal darum, die Rechnungsbücher als Ausdruck einer zunehmenden Verschriftlichung von Lebensbezügen zu betrachten und unter diesem Gesichtspunkt ihren Funktionen und Entwicklungsbedingungen nachzuspüren. Die weitgehend beim Medium 'Schrift' anzusiedelnden, eigendynamischen Prozesse luden aber mit den daraus ableitbaren Folgen dazu ein, sie mit zwei Phänomenen zu konfrontieren, die in dieser Zeit im Kontext kaufmännischen Lebens von besonderer Bedeutung waren. Eines dieser Phänomene war die Entwicklung der Methode der doppelten Buchführung, wie sie im Laufe des 14. Jahrhunderts durch italienische Kaufleute eingeführt wurde. Hier ergab ein Vergleich, daß sich eine ganze Reihe von Verfahren, die als zentraler Kern einer der Doppik folgenden Buchhaltung gelten können, aus jenen eigendynamischen Prozessen herleiten lassen. Dies gilt insbesondere für die 'automatisch' steigende Selbstreferentialität innerhalb des Gefüges von Rechnungbüchern, die einen wichtigen Schritt hin zum geschlossenen System der doppelten Buchhaltung darstellt. Aber nicht zuletzt auch die Herausbildung einer 'Fachsprache', die man bereits innerhalb der Konten zu benutzen wußte, war ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Doppik. Mehr noch: Es konnte gezeigt werden, daß das eigentliche Problem zur Erklärung der Entstehung der doppelten Buchführung nicht mehr in der Frage zu sehen ist, wie es zu der 'Entdeckung' des Prinzips kam, jeden Vorgang zweifach verbuchen zu müssen. Denn ein solches Doppelbuchen stellt sich fast von selbst ein, wenn über den gleichen Vorgang verschiedene Verzeichnisse angelegt werden, die diesen Vorgang aus unterschiedlicher Sicht beleuchten, wenn also etwa gleichzeitig ein Kassenbuch und ein Buch über Gläubiger und Schuldner geführt wird. Die zentrale Frage scheint nicht mehr zu sein, warum doppelt verbucht wurde, sondern welche Gründe die Kaufleute dazu brachten, neben den Personenkonten weitere Konten konsequent und stetig zu führen. Diese andere Sicht der Problematik um die Herausbildung der doppelten Buchhaltung gründete nicht zuletzt auf die hier zuvor durchgeführte, eindeutige Differenzierung zwischen dem zentralen Kern des Rechnungswesens und den weniger bedeutenden, peripheren Elementen, wie sie sich nur an einem vollständig überlieferten Buchhaltungssystem herauspräparieren lassen.

Das zweite Phänomen wies über den engeren Rahmen der Buchhaltung hinaus und betraf die Mentalität der Kaufleute. Die hohe Selbstreferentialität und die Bedeutungsverschiebungen in der Sprache zusammen mit der Tatsache, daß dies ja weder intendiert noch voraussehbar war, ließen die Frage aufkommen, ob die beim Umgang mit den Rechnungsbüchern ablaufenden eigendynamischen Prozesse nicht auf die Nutzer der Schrift zurückgewirkt haben. Die Frage war nicht zuletzt deshalb naheliegend, weil man die Bearbeitung der Posten in den Ricordanze und ihr neues Anordnen unter anderen Kriterien auch als eine Form sehr pragmatischer Textanalyse verstehen kann, deren nötige kognitive Prozesse - wenn auch gezwungenermaßen und ohne große Entscheidungsfreiheiten - vom schreibenden Kaufmann durchzuführen waren. Hinzu kam, daß sich die Berufswelt des Kaufmanns, die täglich durchgeführten Transaktionen von Kauf und Verkauf, in den Rechnungsbüchern der zweiten und dritten Ebene in ganz anderer Weise präsentiert als in seinen ersten Notizen oder aus der direkten Anschauung. Grundlage dieser Überlegung war, um es nochmals zu betonen, daß von einer weitgehend eigendynamischen Entwicklung des Buchhaltungssystems auszugehen ist, daß mentale Veränderungen also nicht die Ursache, vielleicht aber die Folge des Umgangs mit Rechnungsbüchern sein können. Diese Frage hier anzugehen, war überhaupt nur deshalb möglich, weil die Forschung zu spezifisch kaufmännischen Denkmustern bereits grundlegende Beiträge vorzuweisen hat, auf die zurückgegriffen werden konnte. Insbesondere die Arbeit von Bec, der anhand des literarischen Schreibens der Florentiner Fernhändler der Frührenaissance deren Mentalität nachgespürt hat, ließen sich gut zu einem Vergleich mit dem Schreiben in den Rechnungsbüchern heranziehen. Hier fanden sich erstaunliche Parallelen zwischen der Art und Weise, wie die Kaufleute in ihren literarischen Schriften die Darstellung von Geschehnissen strukturierten, und der Art und Weise, wie sie in ihren Rechnungsbüchern Geschäftsvorgänge anzuordnen hatten. Wenn auch klar ist, daß sich die Mentalität einer sozialen Gruppe wie die der Kaufleute aufgrund ganz unterschiedlicher Einflüsse ausgeformt hat, konnten zumindest einige der Elemente dieser Mentalität - das Denken in weitgehend kausalen Zusammenhängen und die Vorstellung einer direkten sukzessiven Abfolge von Geschehnissen seien hier genannt - auf ihren Umgang mit den Rechnungsbüchern zurückgeführt werden.

Vor dem Hintergrund dieser an den Büchern einer Handelsgesellschaft der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts gewonnenen Einsichten war nun zu fragen, inwieweit sich die beobachteten Phänomene für ein Nachzeichnen der historischen Entwicklung des Rechnungswesens heranziehen lassen. Zwar war von vornherein zu bedenken, daß sich aufgrund der großen Lücken speziell in der Überlieferung des 13. Jahrhunderts nur sehr schwer definitive Aussagen über die Chronologie der Abläufe machen lassen würden. Soweit es aber die erhaltenen Rechnungsbücher erlauben, konnte festgestellt werden, daß auch die ältesten überlieferten Fragmente und Rechnungsbücher fast ausschließlich oder doch vorwiegend Schuldner- und Gläubigerkonten verzeichnen, also vornehmlich eine memorative Funktion zu erfüllen hatten. Und es scheint fast so, als ob die erst später überlieferten Bilanzen und Kassenbücher in beinahe genauer Entsprechung die sukzessive Anlagerung weiterer weniger zentraler Elemente widerspiegeln, wie dies ähnlich in der Buchhaltung der compagnia von Toro und Francesco zu beobachten war. Da ein weitgehend eigendynamischer Prozeß für die Herausbildung von typischen Buchführungselementen unterstellt werden kann, der vor allem auf der Annahme einer primär gedächtnisstützenden Funktion der Bücher bei der Gläubiger- und Schuldnerverwaltung gründet, war die Feststellung von starken Anhaltspunkten - von Beweisen zu sprechen, verbietet sich aufgrund der Überlieferungssituation - für eine historische Prädominanz dieses Motivs der zentrale Punkt, um die aus der Querschnittanalyse abgeleiteten Modellvorstellungen auf die chronologische Entwicklung des Rechnungswesens im Spätmittelalter übertragen zu können. Denn wenn es für die compagnia von Toro und Francesco nötig war, Posten, die allein mit dem Ziel der Informationsspeicherung in einem Buch vermerkt wurden, ab einer bestimmten Menge erneut in ein weiteres Buch neugeordnet zu übertragen, dann wird dies bei gleichen Motivations- und Rahmenbedingungen auch für die ersten Handelsgesellschaften des 12. und 13. Jahrhunderts gegolten haben. Auch die historische Entwicklung der Buchhaltung, d. h. letztlich die Herausbildung einer systematischen Kontenführung, dürfte also weitgehend auf die beiden Elementen 'memorative Funktion' und 'Eigendynamik' zurückzuführen sein.

Abschließend sei es erlaubt, die beobachteten Zusammenhänge, das Dreiecksverhältnis zwischen dem Medium Schrift, seinen Nutzern und den zu verzeichnenden Gegenständen über den Rahmen der Buchhaltung hinaus auf einer allgemeineren Ebene zu diskutieren. Zunächst einmal ließ sich feststellen, daß es fast unzulässig ist, ganz ohne Differenzierungen von 'der Schrift' zu sprechen. Schrift meint hier in erster Linie den mit Tinte auf Papier in einem Buch fixierten Text. Dieser materielle Kontext, in dem schriftliche Aufzeichnungen stattfanden, hatte entscheidenden Einfluß auf die Art der Weiterbearbeitung des Geschriebenen und damit auch auf die Präsentation der so festgehaltenen Inhalte. Durch Vergleich mit den möglichen Konsequenzen, die eine Verwendung des Rotulus oder aber auch des Computers anstelle des Buches gehabt hätte, ist dies mehrfach thematisiert worden.

Aber nicht nur die besonderen materiellen Gegebenheiten hatten ihren Einfluß auf die Art der Benutzung des Mediums. Der mittelalterliche Schreiber war weit davon entfernt, die Möglichkeiten der Schrift in allen ihren verschiedenen Erscheinungsformen voll auszuschöpfen. In den Rechnungsbüchern mittelalterlicher Handelsgesellschaften schrieb man die Posten in ganzen Sätzen, und die Konten waren vollständige Texte, obwohl die tabellarische Form des Schreibens bekannt war und obwohl sie sich gerade für die Buchhaltung angeboten hätte. Die Prädominanz der Verwendung des Modells 'Volltext' findet sich im Mittelalter auch auf anderen Feldern, etwa bei der praktischen Arithmetik, auf denen sie heute zugunsten von Symbolen weitgehend verdrängt ist. So gesehen wäre es präziser, statt allgemein von 'Schrift' von verschiedenen Schriftmodellen zu sprechen, die zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Epochen vorwiegend oder ausschließlich Verwendung fanden. Die Tatsache, daß es vornehmlich eine bestimmte Art des Schreibens war, die man im Mittelalter benutzte, wird vielleicht für andere Felder des Schriftgebrauchs, für die es so oder so das geeignetste Modell war, keine besonderen Konsequenzen gehabt haben. Bei der Bearbeitung der Posten in den Rechnungsbüchern ist es allerdings ein gravierender Unterschied, ob bereits tabellarisch angeordnete Daten umgruppiert oder ganze Sätze neu geschrieben werden müssen. Der oben beschriebene Vorgang der Textinterpretation beim Forttragen der Konten und die mit ihm zusammenhängenden Phänomene wie etwa die Herausbildung von 'Fachtermini', aber auch die damit gegebene größere Chance, die dort zu leistenden kognitiven Prozesse zu verinnerlichen, hätten sich bei der sofortigen Nutzung der Tabelle so nicht oder zumindest nicht in einem solchen Maße eingestellt.

Das zentral wirkende Moment bei der Ausformung einer systematischen Buchführung, daß Eingehen-Müssen auf die strukturbedingten Grenzen der Schrift hinsichtlich ihrer Flexibilität und Ergänzbarkeit, ließ sich in Ansätzen auch auf anderen Feldern der Schriftnutzung feststellen. Aber das Problem wird hier in einem ganz anderen Maße virulent. Wenn aus der Begrenztheit der Schrift bei ihrer Verwendung in den Kontobüchern eine Eigendynamik resultierte, die in ihrer Konsequenz zu neuen Textformen und zur Herausbildung eines selbstrefentiellen Systems geführt hat, so lag dies nicht zuletzt an den direkt spürbaren Konsequenzen, die eintraten, wenn der Basistext nicht bearbeitet wurde. Ein unordentlich geführtes Statutenbuch ist hinderlich, macht zeitaufwendiges Suchen erforderlich, hat aber für diejenigen, die es verwalten - also die kommunalen Notare etc. -, wenn sie jährlich wechseln, lange Zeit keine gravierenden Folgen. Dadurch, daß der Kaufmann mit der schriftlichen Kontenführung dem Medium zugleich die Verwaltung seiner Gelder übertrug, war der Schrift zugleich ein mächtiges Sanktionsmittel beigegeben worden. Ein unordentlich geführtes Schuldnerbuch, ein übersehener, falsch zugeordneter oder nicht übertragener Posten führte hier sofort zu Einnahmeverlusten, zog eine 'Geldstrafe' nach sich. Die zu befolgenden Regeln waren auf allen Gebieten des Schriftgebrauchs ähnlich, aber da ihre Nichtbeachtung häufig nur sehr vermittelt spürbar war und oft nicht diejenigen traf, die die schriftlich fixierten Informationen zu verwalten hatten, wurden sie nicht selten über einen längeren Zeitraum ignoriert. Dagegen verstärkten bei den Kaufleuten die Sanktionsmöglichkeiten des Mediums - man muß es so formulieren - noch einmal in erheblichem Maße den ohnehin bestehenden, erhöhten Druck zu einer Neubearbeitung der Bücher, wie er sich aufgrund der unvergleichlich großen Nutzungsintensität im Bereich des kaufmännischen Rechnungswesens eingestellt hatte. Aber vor allem hieraus, aus der weitgehenden Nichtbeachtung des zur Schrift gehörenden Regelwerkes auf vielen anderen Feldern des Schriftgebrauchs und aus seiner vergleichsweise strikten Befolgung in der Buchhaltung erklären sich die meisten Unterschiede in der Art der Nutzung der Schrift und in den Konsequenzen, die diese Nutzungsunterschiede nach sich zogen.

Aber unabhängig davon, ob die Bearbeitung des Geschriebenen aufgrund drohender Sanktionen sofort sehr intensiv oder zögernd, oft erst nach Jahren, einsetzt, wird man in beiden Fällen eher ein 'Sich-Gezwungen-Sehen' denn ein 'Gestaltenwollen' als Antrieb annehmen können. In Kapitel 5.2 konnte gezeigt werden, daß dies nicht allein auf ein allgemeines Bearbeiten-Müssen beschränkt ist, sondern sich sogar bis in die einzelnen Bearbeitungsverfahren hinein nachweisen läßt. Wird man nach dem oben Gesagten die weit verbreitete Ansicht, 'Schrift' sei ein sehr flexibles, vielfältig benutzbares Werkzeug, insofern revidieren müssen, als es zumindest im Mittelalter nur in spezifischen, kulturell geprägten Modellen genutzt wurde und sein Funktionieren zudem das Befolgen eines umfangreichen Regelwerkes voraussetzte, so wird man darüber hinaus das im Begriff 'Werkzeug' anklingende Verständnis von Schrift korrigieren müssen, sie sei immer, völlig beherrscht von ihren Anwendern, direkt auf bestimmte konkrete Zwecke hin benutzt worden. Obwohl ein Kulturgut, also von Menschen erzeugt, scheint Schrift in diesem Nutzungsfeld sehr schnell entscheidender auf die ablaufenden Prozesse eingewirkt zu haben als diejenigen, die mit ihr umgingen. Vielleicht darf hier über das gestellte Thema hinausblickend angemerkt werden, daß der Raum, den man zur Erklärung komplexer kultureller Entwicklungen dem bewußten Einwirken der Beteiligten oder ihren mentalen Dispositionen zugebilligt hat, auch bei anderen Phänomenen kleiner ausfallen könnte als gemeinhin angenommen. Selbst bei der Ausformung der von ihm geschaffenen Erzeugnisse scheint dem Menschen nicht immer die Hauptrolle als kreativ gestaltender homo faber zuzufallen, die man ihm so gerne zu geben bereit ist. Damit ist nicht einer deterministischen Geschichtsauffassung das Wort geredet; es geht vielmehr darum, jeweils die Möglichkeiten der am Prozeß Beteiligten genau auszuloten, statt ihnen a priori die entscheidende Funktion zuzuweisen. Hierin liegt aber für den geschichtswissenschaftlichen Diskurs eine nicht geringe Chance; denn die Rahmenbedingungen, in denen sich menschliches Handeln abspielt, lassen sich überprüfbarer beschreiben und herleiten als schwerer zugängliche mentale Dispositionen oder ganz in das Belieben des Subjekts gestellte Entscheidungen, die eine Entwicklung vermeintlich oder tatsächlich vorangetrieben haben.