Filmische Wirklichkeit, Diegese

Till Lorenzen, Anna Marx, Susanne Schöneich

 

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Begriffserklärung

Wenn über eine filmische ‚Welt‘ gesprochen wird, erfolgt dies meist unter Verwendung des Begriffs ‚Diegese‘, welcher einen Kernbegriff der Filmologie (nach Souriau) und der Narratologie nach Genette darstellt. Dabei kann allerdings bis heute nicht von einem für die Filmwissenschaft eindeutigen Diegesekonzept gesprochen werden, da bisher keine allumfassende und allgemein akzeptierte Definition des Begriffs vorliegt.

Diegese1 ist ein von Etienne Souriau in Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie (1950/51) eingeführter Begriff. Souriau unterteilt den filmischen Raum in zwei verschiedene Bereiche: in den physischen Raum des Kaders, in dem „alles, was mir gezeigt wird, alles was mir an sinnlich Gegenwärtigem geboten wird“ (Souriau 1997: 144), enthalten ist, und in die Diegese. Letzterer Teil des filmischen Raums ist ein „unendlich viel weiterer, dreidimensionaler Raum“ (ebd.) und derjenige „Raum, in dem sich die Geschichte abspielt“ (ebd.). Der diegetische Raum ist somit kein physischer sondern ein illusorischer, „der nur im Denken des Zuschauers rekonstruiert wird“ (ebd.). Es handelt sich um die Menge, der vom Film aufgestellten (expliziten und impliziten) Denotationen, bezüglich derjenigen Elemente, die zur internen Welt des spezifischen Films gehören, zu denen die Figuren Zugang haben und die mit speziellen, auch von unserer realen Welt möglicherweise abweichenden Regeln ausgestattet bzw. miteinander verbunden sind. Daher unterscheidet Souriau die Diegese auch von sechs anderen filmologischen Begriffen (afilmisch, filmophanisch, kreatoriell, leinwandlich, profilmisch, spektatoriell, vgl. ebd.: 156f.), die mit Produktionsbedingungen, realen Umständen, künstlerischen Ansprüchen sowie Zuschauererwartungen und -interpretationen zusammenhängen.

 

Forschung

Souriaus Begriff schafft ein stabiles Fundament zur Beschreibung filmischer Welten. So ist jeglichen Forschungsansätzen gemein, dass sie sich im weitesten Sinne auf Souriau beziehen, den Begriff jedoch jeweils zu schärfen versuchen.

Hans Jürgen Wulff unterteilt die Diegese in vier Schichten: die physikalische Welt, die Wahrnehmungswelt der Figuren und ihren sensorischen Eindrücken, die soziale Welt, die stark mit der Wahrnehmung zusammenhängt und die moralische Welt mit ihrem eigenen selbstständigen Wertehorizont. Zusätzlich legt Wulff seinen Schwerpunkt auf die Prozesshaftigkeit der Diegese und spricht häufig von einer Diegetisierung, „also [dem] Nachgestalten der diegetischen Realität“ (Wulff 2007: 44). Die Diegese besitzt einen ludischen Charakter, der von ZuschauerInnen erkannt werden muss, und auf den sie sich einlassen müssen. Somit setzt Wulffs Ansatz bei der Rezeption an, da er die Diegese „als Resultat einer synthetisierenden Leistung des Zuschauers“ ansieht (ebd.: 49). Seiner Folgerung, dass die Diegese als Voraussetzung für eine Narration zu akzeptieren sei, folgt Britta Hartmann und stellt sie hierarchisch deutlich über die Figuren. Die Diegese ist eben auch ohne Figuren oder eine Erzählung existent und jeder Handlungsmöglichkeit vorgeschaltet (vgl. Hartmann 2007: 53–57).

Die Behauptung, dass nur nicht-fiktionale Texte leichter zu diegetisieren seien, da der Bezug zwischen Realität der ZuschauerInnen und Diegese schneller zu erkennen sei, wird weitestgehend abgelehnt, da auch in diesem Fall „die erhaltenen Informationen zu einer möglichst schlüssigen Vorstellung der erzählten Welt“ (Fuxjäger 2007: 24) ergänzt werden.

Dominik Orth wiederum beschäftigt sich mit dem Zusammenspiel von Diegese und narrativer Wirklichkeit auf narratologisch-fiktionstheoretischer Ebene. Im Vordergrund steht die Differenzierung von explizit narrativen und implizit narrativen Fakten. Bei Ersteren handelt es sich um „Fakten, die auf der Ebene der konkreten, expliziten Darstellung […] analysiert werden können“ (Orth 2013: 97). Die implizit narrativen Fakten hingegen basieren auf Implikationen, die sich aus explizit narrativen Fakten ergeben. Die Diegese nach Orth ist das „raumzeitliche Universum“ (Genette 1994: 313) und somit der Oberbegriff für alles, was innerhalb der fiktionalen Erzählung geschieht. Sie beinhaltet die narrative Wirklichkeit, die sich aus impliziten und expliziten Fakten zusammensetzt (vgl. Orth 2013: 99f.).

 

Mind-Bender-Diskurs

Problematisch wird der Begriff Diegese dann, wenn nicht mehr eindeutig zu benennen ist, was zur Diegese gehört und möglicherweise von Figuren imaginiert wird, oder wenn andere ‚Störungen‘ der Welt auftreten. Diese können unterschiedlicher Natur sein: (1) Mehrere Diegesen werden vom Film präsentiert (nebeneinander oder hierarchisch geordnet); (2) eine Diegese ist in sich konsistent, die Figuren jedoch verstehen ihre eigene Welt nicht; (3) scheinbar kausale Zusammenhänge brechen mit Regeln der Diegese (vgl. Hartmann 2007; Fuxjäger 2007; Wulff 2007; Uhl 2013; Rothemund 2013).

In solchen Fällen ist zu unterscheiden, ob es sich schlichtweg um eine intentional gebaute Welt handelt, die nicht konsistent diegetisiert werden kann, oder ob es sich um ein paradoxales Stilmittel handelt. Zweiteres ist der interessantere Fall. Hier wird insbesondere der Unterschied zwischen Figurenwahrnehmung und Zuschauerwahrnehmung wichtig. In Fight Club (D/USA 1999) wird der Zuschauer durch den Erzähler bewusst im Unklaren gelassen (underreporting Unzuverlässiges Erzählen), im Fall von Possible Worlds (CAN 200) sind sich sowohl Zuschauer als auch Figuren nur bedingt über die Diegese bewusst (möglicherweise mit Ausnahme des Arztes), ein Film wie Lost Highway (F/USA 1997) treibt es auf die Spitze, da eine zweite Diegese möglicherweise nur noch mental repräsentiert ist (mentale Diegese, mentale Metadiegese), in ihr zudem Inkonsistenzen auftreten und somit Figur und ZuschauerIn vor das Rätsel der Gesetzmäßigkeiten der Diegese gestellt werden.

Hilfreicher kann in solchen Fällen der Begriff der filmischen Wirklichkeit oder der filmischen Realität sein, welcher sich aus der Diegese ableiten lässt (vgl. Fuxjäger 2007: 19). Nele Uhl verdeutlicht, dass innerhalb einer Diegese mehrere weitere Welten möglich sind, welche wiederum den Gesetzen der Diegese (wie von Wulff definiert) entsprechen oder nicht entsprechen können. Die filmische Wirklichkeit hingegen ist nur einmal existent und bezieht sich auf die ‚reale Wirklichkeit‘ der Figuren. Uhl betont, dass „Diegese cannot be equated with the film’s immanent reality“ (Uhl 2013: 209).

Für die vier Kategorien Wulffs bedeutet dies nun, dass innerhalb der filmischen Wirklichkeit alle vier Kategorien, wie sie für die Diegese gelten, auch zur Anwendung kommen. In möglichen weiteren diegetischen Welten können einzelne Kategorien abweichen. In einfachen Fällen gehören zu den möglichen diegetischen (Sub)Welten Dinge wie Träume, pathologische Krankheitsbilder, Wahrnehmungsstörungen und Ähnliches. Neben diesen Störungsformen auf Figurenebene legen manche Filme Störungen in der Diegese selbst an, erschweren den Zugang zur filmischen Wirklichkeit und beeinflussen so permanent den Prozess des Diegetisierens.

 


1 Zu differenzieren sind verschiedene Bedeutungen des Begriffs Diegesis. Der von Platon zur Unterscheidung von Mimesis eingeführte Begriff Diegesis bezeichnet die dialogfreie Erzählung eines Dichters. Unter Mimesis hingegen versteht Platon die dramatische Darstellung von Erzählungen (vgl. Genette 1994: 201 f.). Der neuere Diegesis-Begriff stammt von Souriau, der darunter „die im Kunstwerk dargestellte Welt versteht.“ (Schmid 2014: 7). Die Problematik besteht in der willkürlichen Verwendung der Begriffe Diegese und Diegesis in unterschiedlichen Forschungskontexten. Fuxjäger schreibt zusammenfassend: „Die Diegese ist die erzählte Welt, deren Vorstellung durch eine Diegesis vermittelt wird“ (Fuxjäger 2007: 19).


 

Filme

Fight Club (D/USA 1999, David Fincher).
Lost Highway (F/USA 1997, David Lynch).
Possible Worlds (CAN 2000, Robert Lepage).

 

Forschungsliteratur

Fuxjäger, Anton: „Diegese, Diegesis, diegetisch. Versuch einer Begriffsentwirrung“. In: Montage AV 16/2, (2007), S. 17–37.
Genette, Gérard: Die Erzählung. München 1994.
Hartmann, Britta: „Diegetisieren, Diegese, Diskursuniversum“. In: Montage AV 16/2 (2007), S. 53–69.
Orth, Dominik: Narrative Wirklichkeiten. Eine Typologie pluraler Realitäten in Literatur und Film. Marburg 2013.
Rothemund, Kathrin: „Ants, Games, Brains. The complexity of Reality in Darren Aronofsky´s π“. In: Julia Eckel u.a. (Hgg.): (Dis)Orienting Media and Narrative Mazes. Bielefeld 2013, S. 221–235.
Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie. Berlin 2014.
Schneider, Hasko: „Filmische Lösung für die Darstellung verschiedener Wirklichkeitsformen“. In: Karl-Dietmar Möller-Naß u.a. (Hgg.): Film- und Fernsehwissenschaftliches Kolloquium. Münster 1995, S. 75–81.
Souriau, Etienne: „Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie“. In: Montage AV 6/2 (1997). S. 140–157.
Uhl, Nele: „Amazing Maze. On the concept of Diegese, Possible Worlds and the Aesthetics of illness”. In: Julia Eckel u.a. (Hgg.): (Dis)Orienting Media and Narrative Mazes. Bielefeld 2013, S. 205–220.
Wulff, Hans J.: „Schichtenbau und Prozesshaftigkeit des Diegetischen. Zwei Anmerkungen“. In: Montage AV 16/2, (2007), S. 39–51.