Possible-Worlds-Theory und Film

Anna Herbert, Vanessa Leck, Diana Opitz, Janek Sturm

 

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Definition und Ursprung der Possible-Worlds-Theory (PWT)

Die PWT stammt ursprünglich aus der analytischen Philosophie und basiert auf Leibniz’ Idee der ,besten aller möglichen Welten‘. Nach Leibniz habe Gott die beste aller möglichen Alternativwelten für die Menschheit erschaffen. Die Diskussion darüber, welche Stellung unsere tatsächliche Welt in Relation zu allen alternativen Welten besitzt, brachte zwei zentrale Strömungen hervor: Der modale Realismus nach David K. Lewis geht davon aus, dass „alle logisch möglichen Welten auch tatsächlich existieren“ müssen, „d.h. für jede Möglichkeit, wie eine Welt beschaffen sein könnte, gibt es eine Welt, die genau so beschaffen ist“ (Bartsch 2015: 55). Nach Lewis sind dabei alle möglichen Welten hierarchisch gleichgestellt (vgl. Surkamp 2002: 156). Im moderaten Realismus nach Nicholas Rescher und Saul Kripke verfügt hingegen lediglich die tatsächliche Welt über eine autonome Existenz, während alle anderen Welten „das Produkt mentaler Aktivitäten (also Träume, Wünsche, Hypothesen, Fiktionen usw.) und somit hypothetische, mögliche Konstrukte“ (ebd.: 156) sind. Infolgedessen stehen alternative Welten in direkter Abhängigkeit zur tatsächlichen Welt und sind somit nicht autonom (vgl. ebd.: 156).

Auf Basis dieser Theorien wird davon ausgegangen, dass narrative Texte alternative Welten entwerfen (vgl. ebd.: 153). Die Grundannahme dabei ist, dass vergangene Zustandsveränderungen und Ereignisse auch anders hätten verlaufen können, sodass die Welt insgesamt anders sein könnte, als sie wirklich ist (vgl. ebd.: 154). Folglich wird Wirklichkeit als modales System begriffen, das aus einer Vielzahl von Welten besteht: aus einer tatsächlichen Welt (actual world, AW) und nicht-aktualisierten/virtuellen Welten (possible worlds, PW), die die tatsächliche Welt ‚umkreisen‘ (vgl. ebd.: 154). Auf Basis dieser Annahmen entwickelte der amerikanische Logiker Kripke 1963 ein Modell möglicher Welten, das untersuchte, was geschehen wäre, wenn sich ein Erlebnis bzw. ein Ereignis anders als in der Realität zugetragen hätte, wobei nicht alle mentalen Ereignisse in der Realität hätten stattfinden können (vgl. ebd.: 155). Die Begriffe der „Möglichkeit“ und „Notwendigkeit“ spielen in seinen m-Modell eine zentrale Rolle. Denn wenn ein Ereignis in einer der Welten als möglich eingestuft wird, kann es als wahr klassifiziert werden (vgl. ebd.: 155). Wenn allerdings dieses Ereignis in allen Welten wahr ist, wird dieser Faktor als notwendig eingestuft (vgl. ebd.: 155). In Abgrenzung dazu sind Ereignisse unmöglich, wenn sie in keiner Welt auftreten, also immer unwahr sind (vgl. Bartsch 2015: 55).

In der Philosophie wird eine alternative Welt dann als mögliche Welt angesehen, wenn sie in einer konkreten Zugangsrelation (accessibility relation) zur AW steht (vgl. Surkamp, 2002: 155): „A world is possible in a system of reality if it is accessible from the world at the center of that system“ (Ryan 1991a: 557). Die Unterscheidung zwischen möglichen und unmöglichen Welten basiert dabei auf dem Begriff der Zugänglichkeit, der in der Modallogik als Einhaltung logischer Gesetze definiert wird. Demzufolge hat eine mögliche Welt einen Zugang zur wirklichen Welt, wenn sie widerspruchsfrei ist (vgl. Surkamp 2002: 155; Ronen 1994: 54). Jede Prognose muss entweder wahr oder falsch sein. Konkret müssen fiktionale Aussagen dahingehend überprüft werden, ob Ereignisse in dieser möglichen Welt stattgefunden haben oder so hätten passieren können, anstatt sie mit der tatsächlichen Welt zu vergleichen (vgl. Ronen 1994: 9).

 

Narratologische Applikation

Neben der Philosophie wird die PWT auch in der Erzähltheorie angewendet. In beiden Disziplinen gibt es keine einheitliche Theorie der PWT mit klar definierten Konzepten und Begriffen. In der narratologischen Anwendung der PWT haben sich ab 1970 drei theoretische Konzepte entwickelt (vgl. Surkamp 2002: 156). Zu diesen theoretischen Strömungen gehören das semantische Konzept der möglichen Welt, die Annahme einer Pluralität von Welten und das Konzept der Modalität (vgl. ebd.: 156). Bekannte Vertreter der narratologischen PWT sind Eco, Pavel, Ryan und Dolezel (vgl. Uhl 2013: 211). Das Ziel der narratologischen PWT ist es, eine „theory of narrative worlds, their basic types, inner structures, and underlying regularities“ (Margolin 1990: 846) zu schaffen und somit die Beschaffenheit fiktiver Welten zu untersuchen (vgl. Bartsch 2015: 53).

Für possible worlds in fiktionalen Narrationen gilt: „Der literarische Text entwirft eine für den Leser kontrafaktische, aber aus textimmanenter Sicht eigene aktuale Welt (textual actual world – TAW), in die der Leser durch einen Akt deiktischer Rezentrierung imaginativ eintaucht“ (ebd.: 61). Durch das Prinzip der minimalen Abweichung kann der Rezipient einer fiktiven Narration zunächst davon ausgehen, dass die Wirklichkeit der TAW weitestgehend der eigenen Wirklichkeit entspricht und nur in den explizit dargestellten Besonderheiten der TAW von dieser abweicht (vgl. ebd.: 66; vgl. Surkamp 2002: 163). Dabei vermittelt eine nichtdiegetische Erzählinstanz die TAW zuverlässig, während die Perspektive eines diegetischen (Figuren-)Erzählers in einer verfälschenden Darstellung resultieren kann (vgl. Bartsch 2015: 61).

 

Kritik und Ausblick

Die PWT geht über das primär deskriptive Erkenntnisinteresse der strukturalistischen Narratologie hinaus, indem sie narrative Texte als Weltsystem betrachtet und die Semantik, interne Dynamik und den Wirklichkeitsbezug von Erzähltexten fokussiert (vgl. Surkamp 2002: 178). Problematisch zu sehen ist allerdings eine unkritische Übertragung der philosophischen PWT auf narratologische Konzepte. Rühling hat gar einen generellen Zweifel an dem Anwendungspotential der PWT für die Textanalyse (vgl. Rühling 1997: 32). Zweierlei Aspekte müssen bei eben jenem Übertragungsprozess bedacht werden: In den philosophischen Konzepten stellt der Begriff ‚Welt‘ nur eine Metapher dar. In der an der PWT orientierten Narratologie wird dieser Begriff nicht genügend differenziert. Des Weiteren ist die PWT in der Philosophie nur eine abstrakte Kategorie. Hingegen wird in der Erzähltheorie das Konzept auf einen sehr konkreten Gegenstand angewendet, um konkrete textuelle Phänomene benennen zu können (vgl. Surkamp 2002: 179).

Anstatt mit den Begriffen der TAW und PW zu operieren, sollten laut Uhl die Termini Diegetic Reality und bound oder loose diegetic worlds verwendet werden, um sich durch die Abgrenzung von der PWT von deren problematischen Grundsätzen zu lösen – insbesondere der actual world als Referenzpunkt der Möglichkeit von Welten (vgl. Uhl 2013: 213). Mit den Termini bound und loose diegetic worlds wird verdeutlicht, dass unabhängige Welten nicht nur durch Träume und Halluzinationen geschaffen werden, die – wie in dem Modell der PWT nach Ryan – an Charaktere gebunden sind (vgl. Ryan 1991b: 730 f.), sondern diegetic worlds auch losgelöst von der Wahrnehmung von Charakteren sein können (vgl. Uhl 2013: 210).

Damit die PWT stärker mit erzähltheoretischen Ansätzen verknüpft werden kann, müssen die Begriffe der PWT für ein erzählerisches Darstellungsverfahren operationalisiert werden. Ferner bildet die PWT eine Grundlage für eine erzähltheoretische Neuorientierung und ebnet so den Weg in Richtung einer interdisziplinär ausgerichteten Erzähltheorie. Für Fludernik gehört die PWT neben den thematischen, linguistischen und poststrukturalistischen Ansätzen zu einer von vier neuen erzähltheoretischen Schulen (vgl. Surkamp 2002: 180).

Vorteile der PWT sind zwar, dass sie nützlich sein kann, um mehrere fiktionale Welten und die autonome Welt zu differenzieren (vgl. Uhl 2013: 213), allerdings hat sich die narratologische PWT so weit von der philosophischen Ursprungsidee entfernt, dass ihr Bezug verloren zu gehen droht (vgl. ebd.). Problematisch ist die Anwendung der PWT vor allem auf Filme oder Texte aus dem Fantasygenre: Was bedeutet in diesem Zusammenhang überhaupt possible (vgl. ebd.)? Daher ist das Konzept der Diegese bzw. das der filmischen Wirklichkeit dem heterogenen Konzept der PWT vorzuziehen (Diegese, filmische Wirklichkeit).

 

Filmbeispiele: eXistenZ, Possible Worlds

Anhand des Films eXistenZ (CAN/UK 1999) veranschaulicht Uhl exemplarisch ein Konzept von Diegese, das in einer Vielzahl von Aspekten mit der PWT übereinstimmt (vgl. Uhl 2013: 210). Diesem Konzept liegt der Gedanke zugrunde, dass Definitionen von ‚Diegese‘ zumeist zu wenig differenziert sind (vgl. ebd.: 207; ⇒ Diegese, filmische Wirklichkeit). In eXistenZ werden verschiedene eigenständige Welten konstruiert. Es wird deutlich, dass die Definition von ‚Diegese‘ als fiktionale Welt des Films nicht ausreichend ist, da der Terminus ‚Welt‘ die Idee eines abgeschlossenen raumzeitlichen Systems impliziert (vgl. ebd.). Folglich plädiert Uhl für eine weitere Differenzierung der Diegese und schlägt dafür eine Unterscheidung zwischen Diegese und Diegetic Reality vor, die häufig synonym angewendet werden. Zu begründen ist diese Unterscheidung damit, dass die Diegese nicht mit der immanenten Wirklichkeit des Films gleichzusetzen ist (vgl. ebd.: 208). Gemäß Uhl kann sich die Diegese als das Universum des Films aus mehreren Welten zusammensetzen, wohingegen es nur eine Diegetic Reality, also eine fiktionale Realität – die sich für die Charaktere durch Kohärenz und Konsistenz auszeichnet – in der Diegese gibt (vgl. ebd.: 208). Zur gründlicheren Erfassung greift sie auf die Begriffe diegetic space und diegetic time zurück (vgl. ebd.: 207 f.). Im Film eXistenZ können nach diesem Konzept vier diegetic spaces und vier diegetic times identifiziert werden. Folglich besteht die Diegese aus vier verschiedenen diegetic worlds. Davon sind drei der diegetic worlds als virtuelle Welten innerhalb eines Computerspiels zu klassifizieren, die sich – gemäß der obigen Differenzierung – von einer Diegetic Reality abgrenzen lassen (vgl. ebd.: 208).

Der Film Possible Worlds (CAN 2000), der auf Histoire-Ebene die Möglichkeit der Pluralität von Welt im Modell einer Gleichrangigkeit verschiedener Welten thematisiert, weist auch einen Bezug zu der PWT auf (vgl. Brössel 2017: 1). Infolge der Präsentation auf Ebene des Discours lässt sich von zwei Ebenen ausgehen. Zum einen die hierarchisch übergeordnete Diegese (Ebene 1) (vgl. ebd.: 10), die die fiktionsinterne Realität präsentiert (vgl. ebd.: 6). Zum anderen die mentale Metadiegese (Ebene 2), in der mit minimalen Veränderungen ähnliche Geschehnisse repräsentiert werden, sodass mögliche alternative Lebensverläufe und Welten entworfen werden (vgl. ebd.: 5 f.). Aus einer genaueren Betrachtung resultiert jedoch die Aushebelung „der dargelegte[n] Ebenenrelation – die Determination der Metadiegese durch die Diegese – wie auch de[s] ontologische[n] Status beider Ebenen – Diegese = Realität vs. Metadiegese = imaginierte Wirklichkeit“ (ebd.: 10). Ebene 1 erweist sich als inkonsistent und mehrschichtig, da Möglichkeiten in der Filmwelt existieren, die für die (meisten) Figuren zwar erfahrbar, jedoch aufgrund diegetischer Restriktionen nicht erklär- und vorstellbar sind (vgl. ebd.: 10 f.). Die Konstruktion der Wirklichkeit durch den Menschen ist infolge seines physischen Denkapparates limitiert, wodurch – so legt der Film nahe − eine „eigene[] – entsprechend menschlich-restriktive[] – ‚Welt‘“ (ebd.: 13) unter hierarchisch gleichrangigen Wirklichkeitsmöglichkeiten produziert werde (vgl. ebd.: 14). Diese imaginativen Limitationen haben zur Folge, dass eine dem Menschen übergeordnete Realitätsebene anzunehmen wäre, die physikalische und biologische Gesetzmäßigkeiten außer Kraft setzt, den Menschen Handlungs- und Lebensoptionen eröffnet, um menschlich-restriktive Welten zu schaffen, aber deren Grenzüberschreitung den Menschen (mit Ausnahme des Mörders) nicht möglich ist (vgl. ebd.: 13 f.). Es ist folglich durchaus denkbar, dass „auch ‚Realität‘ ein Konstrukt einer hegemonialen Instanz ist“ (ebd.: 17).

Im Film Possible Worlds verliert die actual world infolge der Parallelität von Welten ihren Status als tatsächliche „objektiv existente Referenzwelt“ (Surkamp 2002: 154) gemäß des moderaten Realismus nach Kripke, da sie von den Figuren nur erfahr- aber nicht erklärbar ist. Infolge dieser Unerklärlichkeit ist das Entstehen von alternativen possible worlds nicht auf kognitive Vorgänge der Figuren zurückzuführen, wie sie von Ryan betont werden (vgl. ebd.: 168). Vielmehr erweist sich der Terminus der loose diegtic worlds gemäß Uhl als adäquat, nach welchem alternative Welten unabhängig von den mentalen Aktivitäten einer Figur entstehen. Das Modell von Ryan ist dennoch für die Analyse der Erzählsituation nicht zu vernachlässigen. Infolge des Entwurfs „unterschiedliche[r] mögliche[r] Welten […] durch die verbalen und mentalen Repräsentationen fiktiver Perspektiventräger in bezug auf dasselbe Geschehen“ (ebd.: 176) werden RezipientInnen zu einer kritischen Analyse der Autorität der Vermittlungsinstanzen sensibilisiert, was insbesondere hinsichtlich des unzuverlässigen Erzählens elementar ist (Unzuverlässiges Erzählen).

 

Filme

eXistenZ (CAN/UK 1999, David Cronenberg).
Possible Worlds (CAN 2000, Robert Lepage).

 

Forschungsliteratur

Bartsch, Christoph: „Zeit und Possible Worlds Theory – Eskapismus in ‚mögliche Zeiten‘ in Jack Londons ‚The Star Rover‘“. In: Weixler, Antonius/Lukas Werner (Hgg.): Zeiten erzählen. Ansätze – Aspekte – Analysen. Berlin/Boston 2015, S. 53–77.
Brössel, Stephan: „Narrative ‚Verrätselung‘ in Robert Lepages Possible Worlds“. In: Sabine Schlickers/Vera Toro (Hgg.): Perturbatory Narration in Film. Narratological Studies on Deception, Paradox and Empuzzlement. Berlin/Boston (2017; in Druck).
Fludernik, Monika/ Brian Richardson: „Bibliography of Recent Works in Narrative“. In: Style 34 (2000), S. 319–328.
Margolin, Uri: „Individuals in Narrative Worlds: An Ontological Perspective“. In: Poetics Today 11 (1990), S. 843−871.
Ronen, Ruth: Possible Worlds in Literary Theory. Cambridge 1994.
Rühling, Lutz: „Fiktionalität und Poetizität“. In: Heinz Ludwig Arnold/Heinrich Detering (Hgg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München 1997, S. 25–51.
Ryan, Marie-Laure: „Possible Worlds and Accessibility Relations: A Semantic Typology of Fiction“. In: Poetics Today 12 (1991a), S. 553−576.
Ryan, Marie-Laure: Possible Worlds, Artificial Intelligence, and Narrative Theory. Bloomington 1991b.
Surkamp, Carola: „Narratologie und possible-worlds theory: Narrative Texte als alternative Welten“. In: Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hgg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier 2002, S. 153–183.
Uhl, Nele: „Amazing Maze. On the Concept of Diegese, Possible Worlds, and the Aesthetics of Illness“. In: Julia Eckel u.a. (Hgg.): (Dis)orienting media and narrative mazes. Bielefeld 2013, S. 205−219.