Plot Twist, Final Twist

Anna Demmer, Lea Ebers, Kim Wessel

 

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Allgemeine Begriffsbestimmung

Das filmische Phänomen des Plot-Twists, in der neueren Forschung auch als ,Mindfuck‘ bezeichnet, gilt seit den späten 1980er Jahren als typisches Stilmittel von Mind-Bender-Filmen. Der Begriff ‚Plot‘ bezieht sich im Gegensatz zur ‚Story‘ auf die filmisch dargestellte Abfolge von Handlungssequenzen (,sujet‘) und nicht auf die kausal-chronologische (,fabula‘) (vgl. Leiendecker 2013: 257). Twist bedeutet im Englischen soviel wie „Drehung“, „Verdrehung“, und im figurativen Gebrauch auch „überraschende Wendung“ (Strank 2014: 31). Dementsprechend ist der Begriff ‚Plot-Twist‘ in gewisser Weise irreführend, da sich die Aneinanderreihung der Handlungssequenzen in der Reihenfolge ihrer Präsentation durch den Twist nicht als vollständig unwahr herausstellt, sondern viel mehr eine zweite Bedeutungsebene beschritten wird, die bis zu diesem Zeitpunkt verborgen gewesen ist (vgl. Leiendecker 2015: 43). Der Status der Diegese wird dabei nicht grundlegend verändert, lediglich „das Wissen über das Verhältnis der Hauptfiguren zueinander“ (Strank 2014: 31) wandelt sich. Nicht der Plot ist Ziel des Umbruchs, sondern die den Ereignissen zugeschriebene Bedeutung. Um einen Überraschungseffekt zu erreichen, muss die Diegese darüber hinaus eine gewisse Stabilität aufweisen, da ein Film, in dem alles möglich ist, keine großen Überraschungen hervorbringt (Filmische Wirklichkeit, Diegese) (vgl. ebd.: 33).

Ein gelungener Plot-Twist führt folglich zu einem Wendepunkt in der Handlung, durch den „essenzielle diegetische Informationen [...] revidiert oder zumindest in Frage gestellt werden“ (ebd.: 30). Er bewirkt eine Täuschung der ZuschauerInnen, die sie dazu verleiten, das zuvor Gesehene zu reinterpretieren. Durch neue Informationen entwickelt sich die ehemalige Haupthandlung zur Nebenhandlung und das bereits Gesehene erhält eine völlig andere Bedeutung (vgl. ebd.: 13). Häufig tritt der Plot-Twist als Final Twist bzw. als Twist Ending auf und ist auf ein damit verbundenes ‚Aha-Erlebnis‘ hin angelegt (vgl. Brütsch 2011: 3). Von einem ,richtigen‘ Twist kann allerdings erst gesprochen werden, wenn dieser nicht allein gegen Ende des Films vollzogen wird, sondern darüber hinaus an Reichweite besitzt (Shutter Island [USA 2010]; vgl. Leiendecker 2015: 43).

 

Formen des Twists im Mind-Bender

Die Ursache der Täuschung liegt in neueren Verfilmungen meist darin, dass die fokalisierte Hauptfigur an einer Amnesie leidet (Memento [USA 2000]), fehlerhafte Erinnerungen besitzt (Shutter Island) oder psychisch krank ist (Pi [USA 1998]). In älteren Verfilmungen lassen sich das Traum-Motiv (Abre Los Ojos [E/F/I 1997]) oder die Aufdeckung von Verschwörungstheorien wiederfinden. Durch den Plot-Twist stellt sich heraus, dass der Zuschauer „stärker auf das subjektive Erleben der Figur eingeschränkt war, als zunächst angenommen“ (Brütsch 2011: 4). Das Wissen des Zuschauers ist demjenigen der Figur zu keinem Zeitpunkt überlegen, da die Figur ihr eigenes Erleben für die Realität hält (vgl. ebd.). Detaillierter lässt sich der Plot-Twist laut Bernd Leiendecker in vier Kategorien unterteilen. In der Regel gibt ein Spielfilm bestimmte Hinweise bezüglich des Übergangs zwischen diegetischer Realität und Traum eines_r Protagonisten_In. Kann der Traumzustand jedoch erst rückwirkend von den ZuschauerInnen als solcher erkannt werden, wird von einem sogenannten rückwirkenden Verfahren der Traumdarstellung gesprochen (Abre Los Ojos). Eine weitere Kategorie des Plot-Twists bezeichnet die lügende Rückblende. Bei dieser Form des Twists wird erst am Ende des Films offenbart, dass ein Rückblick, ausgelöst durch die Erzählung oder die Erinnerung einer Figur, nicht der Wahrheit entspricht. Stattdessen basiert er auf einer Lüge oder einer falschen Wahrnehmung vergangener Ereignisse durch die jeweilige Figur (Shutter Island). Zudem ist der unbewusste Tod als eine Art des Plot-Twists zu nennen. In dieser Kategorie stellt sich heraus, dass mindestens eine relevante Figur bereits verstorben ist, ohne dass die Figur es realisiert hat. Der vierte Typ des Plot-Twists markiert die verborgene gespaltene Persönlichkeit. Erst am Ende des Films wird bei dieser Form ersichtlich, dass der_die ProtagonistIn unter einer gespaltenen Persönlichkeit leidet und teilweise auch Figuren, die der Zuschauer bis dato für real gehalten hat, nur im Kopf des_der Protagonisten_In existieren (Fight Club [D/USA 1999]; Leiendecker 2013: 261-265).

 

Filmbeispiel: Shutter Island

In der Regel mündet die Auflösung der Täuschung in Form des Plot-Twists in einer Dialogstruktur, „die klassisch im Schuss-Gegenschuss-Verfahren montiert ist“ (Strank 2014: 149) und von ,Flashback Tutorials‘ unterbrochen wird. Besonders in Shutter Island wird dieses Verfahren deutlich. Der Plot-Twist findet hier zum finalen Höhepunkt des Films statt und vollzieht sich durch das Gespräch zwischen Protagonist Edward ,Teddy‘ Daniels (bzw. Andrew Laeddis) und Prof. Dr. John Cawley im Leuchtturm, zu dem später Chuck Aule (bzw. Dr. Lester Sheehan) hinzustößt. Das Gespräch entwickelt sich zu einer für Plot-Twists typischen Intervention, die von Flashbacks seitens Teddy Daniels bezüglich seiner Frau und Kinder unterbrochen wird. Der Twist in Shutter Island bezieht sich wie in Mind-Bendern üblich auf die Identität des Protagonisten Teddy Daniels, dessen ursprünglich konstruierte Identität als US-Marshall sich als falsch herausstellt und der als psychisch kranker Patient Andrew Laeddis entlarvt wird. Da der Protagonist als oberste Erzählinstanz intern fokalisiert ist, verfügt der Zuschauer über dasselbe Wissen wie die Figur und durchlebt gemeinsam mit ihr den Moment der Überraschung bzw. des Schocks (vgl. ebd.: 62). Die für den Plot-Twist ebenso typische Katharsis stellt sich ein.

Das Verbergen der zweiten diegetischen Ebene innerhalb von Mind-Bendern kann dann problematisch werden, wenn der Prozess des Plot-Twists in immer ähnlicheren Mustern verfährt (vgl. Leiendecker 2013: 265). Jeder Film muss neue Modelle von Plot-Twists hervorbringen und Innovationen schaffen, um einen Überraschungsmoment zu ermöglichen. Nur wenn er „unerwartbar und zugleich plausibel ist“ (Strank 2014: 33), kann der Plot-Twist gelingen.

 

Filme

ABRE LOS OJOS (VIRTUAL NIGHTMARE – OPEN YOUR EYES, E/F/I 1997, Alejandro Amenábar).
FIGHT CLUB (USA 1999, David Fincher).
MEMENTO (USA 2000, Christopher Nolan).
PI (PI – SYSTEM IM CHAOS, USA 1998, Darren Aronofsky).
SHUTTER ISLAND (USA 2010, Martin Scorsese).

 

Forschungsliteratur

Bildhauer, Katharina: Drehbuch reloaded. Erzählen im Kino des 21. Jahrhunderts. Konstanz 2007.
Birr, Hannah (Hg.): Probleme filmischen Erzählens. Münster 2009.
Brütsch, Matthias: „Von der ironischen Distanz zur überraschenden Wendung. Wie sich das unzuverlässige Erzählen von der Literatur- in die Filmwissenschaft verschob“. In: kunsttexte.de 1 (2011). http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2011-1/bruetsch-matthias-8/PDF/bruetsch.pdf (05.11.2016).
Dablé, Nadine: Leerstellen transmedial. Auslassungsphänomene als narrative Strategie in Film und Fernsehen. Bielefeld 2012.
Fuxjäger, Anton: „Falsche Fährten. Ein Definitionsvorschlag und eine Erörterung jener Untervariante, die durch die Vorenthaltung von expositorischen Informationen zustande kommt“. In: Patric Blaser u.a. (Hgg.): Falsche Fährten in Film und Fernsehen. Wien u.a. 2007, S. 13–23.
Geimer, Alexander: „Der mindfuck als postmodernes Spielfilm-Genre. Ästhetisches Irritationspotential und dessen subjektive Aneignung untersucht anhand des Films The Others“. In: Jump Cut. Kritiken und Analysen zum Film. http://www.jump-cut.de/mindfuck1.html (05.11.2016).
Hartmann, Britta: „Von der Macht erster Eindrücke. Falsche Fährten als Textpragmatisches Krisenexperiment“. In: Fabienne Liptay/Yvonne Wolf (Hgg.): Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. München 2005, S. 154–174.
Hartmann, Britta: „Von roten Heringen und blinden Motiven. Spielarten Falscher Fährten im Film“. In: Blaser, Patric u.a. (Hgg.): Falsche Fährten in Film und Fernsehen. Wien u.a. 2007, S. 33–52.
Helbig, Jörg: „,Follow the White Rabbit!. Signale erzählerischer Unzuverlässigkeit im zeitgenössischen Spielfilm“. In: Fabienne Liptay/Yvonne Wolf (Hgg.): Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. München 2005, S. 131–146.
Höltgen, Stefan: „Paul Fox: The Dark Hours (Kanada 2005)“. In: Jump Cut. Kritiken und Analysen zum Film. http://www.jump-cut.de/filmkritik-thedarkhours.html (05.11.2016).
Kiefer, Bernd: „Die Unzuverlässigkeit der Interpretation des Unzuverlässigen. Überlegungen zur Unreliable Narration in Literatur und Film“. In: Fabienne Liptay/Yvonne Wolf (Hgg.): Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. München 2005, S. 72–88.
Klamt, Marlies: Das Spiel mit den Möglichkeiten. Variantenfilme – Zwischen Multiperspektivität und Chaostheorie. Stuttgart 2015.
Koebner, Thomas: „Was stimmt denn jetzt? ,Unzuverlässiges Erzählen‘ im Film“. In: Fabienne Liptay/Yvonne Wolf (Hg.): Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. München 2005, S. 19-38.
Kratochwill, Kerstin (Hg.): Kino der Lüge. Bielefeld 2004.
Krützen, Michaela: Dramaturgien des Films. Das etwas andere Hollywood. Frankfurt a.M. 2010.
Leiendecker, Bernd: „Leaving the Narrative Maze. The Plot Twist as a Device of Re-orientation“. In: Julia Eckel u.a. (Hgg.): (Dis)Orienting Media and Narrative Mazes. Bielefeld 2013, S. 257–272.
Leiendecker, Bernd: „They Only See What They Want To See“. Geschichte des unzuverlässigen Erzählens im Spielfilm. Marburg 2015.
Strank, Willem: Twist Endings. Umdeutende Film-Enden. Marburg: Schüren 2014.
Wulff, Hans J.: „,Hast du mich vergessen?. Falsche Fährten als Spiel mit dem Zuschauer“. In: Fabienne Liptay/Yvonne Wolf (Hgg.): Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. München 2005, S. 147–153.