Mentale Metadiegese

Sebastian Berlich, Jasper Stephan

 

Beitrag als PDF

 

Definition und Abgrenzung

Eine mentale Metadiegese ist eine figurengebundene, filmische Introspektion, die zudem einen Wechsel der diegetischen Ebene vorsieht. Sie gehört zu den Formen der visuellen Gedankenrepräsentation, die unter dem Begriff ‚Mindscreen‘ zusammenzufassen sind (zum Mindscreen zählen außerdem ‚Mentale Projektion‘, ‚Mentale Einblendung‘ sowie ‚Mentale Metalepse‘; Kuhn 2013: 191). Die Verfahren des Mind-screen sind von den verschiedenen Formen sprachlicher Gedankenrepräsentation im Film zu unterscheiden (‚Szenischer Monolog‘, ‚Pseudo-voice-over‘, ‚Filmischer innerer Monolog‘ und ‚Innere Stimmen‘; ebd.), wenngleich Verfahren aus beiden Kategorien problemlos in Kombination auftreten können.

Die mentale Metadiegese repräsentiert den mentalen Zustand einer Figur und löst sich dabei von der filmischen Wirklichkeit. Damit steht sie im Gegensatz zur mentalen Einblendung und der mentalen Projektion, die einen derartigen diegetischen Ebenenwechsel nicht vorsehen. Die Grenzen zwischen diesen Formen des Mindscreen können jedoch fließend sein, etwa, wenn im Rahmen einer mentalen Einblendung Elemente auftauchen, die mit der filmischen Wirklichkeit nicht vereinbar sind. Entscheidend zur Identifikation einer mentalen Metadiegese sind eindeutige Markierungen1 durch konventionalisierte filmische Verfahren. Dazu zählt vor allem die Zuordnung entsprechender Sequenzen zu einer bestimmten Figur durch die audiovisuelle Erzählinstanz (AVEI), wobei der Grad der Eindeutigkeit je nach Werk, bedienter Konvention und Kenntnisstand des Zuschauers divergieren kann. Die audiovisuelle Gestaltung kann ebenfalls Hinweise auf den Status der Diegese liefern, insbesondere darauf, um welche Form des repräsentierten mentalen Zustands es sich handelt. Träume, Erinnerungen oder Vorstellungen werden in der Regel unterschiedlich umgesetzt, auch hier ist jedoch auf die jeweiligen textuellen sowie kontextuellen Konventionen zu achten.

Die aufgrund des repräsentierten Zustands unterschiedenen Typen mentaler Metadiegesen unterscheiden sich nicht nur aufgrund ihrer Rahmung, sondern weisen auch formale Unterschiede auf. Sequenzen, die Erinnerungen repräsentieren, sind etwa in der Regel so leicht mit der Diegese in Einklang zu bringen, dass es einer besonderen Leistung von RezipientInnen bedarf, festzustellen, ob es sich hierbei lediglich um eine Analepse oder eine mentale Metadiegese handelt, was für den Status der Sequenz entscheidende Folgen hat. Bei einer Analepse kann davon ausgegangen werden, dass gewissermaßen objektiv eine vorausgegangene Wirklichkeit zur Filmhandlung erzählt wird. Wird die gleiche Sequenz als mentale Metadiegese erkannt, bedeutet die Figurengebundenheit des Konzepts, dass von einer stärker subjektiv gefärbten Erzählperspektive ausgegangen werden muss. Zeigt eine Erinnerungssequenz etwas, das die entsprechende Figur nicht gesehen haben kann, kommt es zu einem ‚visuellen Ebenenkurzschluss‘ und es ist von einer ‚Pseudo-Metadiegese‘ zu sprechen (vgl. ebd.: 310–14). Dass es sich bei der Sequenz lediglich um eine Repräsentation der Erinnerung und nicht um die tatsächliche Erinnerung der Figur handelt, wird in diesem Fall besonders deutlich ausgestellt, da „die einer intradiegetischen Figur zuzuschreibende Metadiegese größtenteils von einer extradiegetischen VEI gezeigt wird“ (Kuhn 2013: 312 [Hervorh. im Orig.]).

Im Gegensatz dazu sind Sequenzen, die Träume repräsentieren, meist stark symbolisch aufgeladen, beeinflusst auch von der psychoanalytischen Tradition, in der der Traumdiskurs steht. Mentale Metadiegesen dieser Art verschaffen den RezipientInnen zudem Einblick in das Unbewusste einer Figur, was traditionelle psycho-narration nur schwer leisten kann.

Geprägt durch Markus Kuhn, bestimmt der Gedanke hinter dem Terminus ‚mentale Metadiegese‘ die Forschung um Mind-Bender-Filme bereits seit Längerem. Mentale Zustände sind ein gängiges Erklärungsmotiv für die vorerst scheinbar bizarren Ereignisse, die Vertreter des Genres auf Histoire-Ebene auszeichnen; die später aber häufig in Form eines Plot Twists aufgelöst werden (Abre los ojos [E/F/I 1997]). Angelehnt ist der Begriff der mentalen Metadiegese an das durch Gérard Genette in die Narratologie eingeführte Konzept der Diegese, das auch die Überschreitung von diegetischen Ebenen in Form von Metadiegesen vorsah. Kuhn kritisiert an dem Begriff zwar in Anlehnung an die Kritiker Genettes die Vorstellung höherer Ebenen innerhalb der Diegese, behält ihn jedoch bei, obwohl mit dem Begriff ‚Hypodiegese‘ eine Alternative besteht, die das komplexe Verhältnis einzelner in Filmen auftretender Wirklichkeiten differenzierter zu vermitteln im Stande ist (Kuhn 2013: 104; Rimmon-Kenan 1983).

 

Beispiele des Mind-Bender-Films

Zu unterscheiden sind außerdem Ebenen der Diegese und der Fiktion. Zwar sind beide Konzepte narratologisch eng miteinander verknüpft, jedoch beschreiben sie verschiedene Prozesse. „Die diegetischen Ebenen werden als Akt der Vermittlung/Darstellung definiert, die Fiktionsebenen über den Status des Vermittelten/Dargestellten“ (Kuhn 2013: 288). Nur wenn also tatsächlich die Narration als solche markiert ist − Kuhn rechnet auch mentale Vorgänge hinzu −, kann von einem Wechsel der diegetischen Ebene gesprochen werden. Nicht jede Metadiegese besitzt aber einen anderen Fiktionsstatus als die erzählte Wirklichkeit. Handelt es sich etwa um eine Erinnerungssequenz, wird der Fiktionsstatus beider Diegeseebenen sich meistens entsprechen.

Die Verschränkung von diegetischen Ebenen und Fiktionsebenen lässt sich für den Mind-Bender-Film aber gerade deshalb produktiv machen, weil Vermittlung und Realitätsstatus der erzählten Welt durch die oft figurengebundene (teilweise pathologisch beeinflusste) Wahrnehmung des Geschehens gleichermaßen destabilisiert werden (Unzuverlässiges Erzählen).

Entfernt man sich von dieser begrifflichen Schwierigkeit und bindet das Konzept ‚mentale Metadiegese‘ auf filmische Beispiele zurück, findet sich eine Vielzahl von Beispielen aus dem Feld der Mind-Bender-Filme, die sich recht eindeutig in das skizzierte Schema einfügen (z. B. Traumsequenzen in Abre los ojos, Traumsequenzen in Shutter Island [USA 2010], Erinnerungssequenzen in Memento [USA 2000]). Die Grenzen des Begriffs werden jedoch deutlich, blickt man exemplarisch auf das Schaffen David Lynchs, insbesondere den Film Mulholland Dr. (F/USA 2001). Eine gängige Interpretation des zweigeteilten Films legt nahe, den ersten Teil der Handlung (bis die Kamera in das blaue Kästchen fährt) als Traumsequenz einer Figur des zweiten Teils zu deuten (vgl. Kaul/Palmier 2011: 118). Innerhalb der Histoire lassen sich dafür sowohl Pro- als auch Kontraargumente finden, mit Blick auf die Voraussetzungen für eine mentale Metadiegese müsste jedoch eine klare Rahmung erfolgen, die hier nur bedingt vorliegt – eine eindeutige Markierung, wie Kuhn sie fordert, ist nicht nachzuweisen.

Unmittelbar vor Einsetzen des ersten Teils zeigt die VEI eine intern fokalisierte Fahrt auf ein Kopfkissen, während nach dem Ende des ersten Teils eine nicht näher charakterisierte Figur von der zuvor etablierten, mysteriösen Figur des Cowboy aufgefordert wird, aufzuwachen. Sie befindet sich in Diane Selwyns Bett, jener Figur, der die potentiellen Traumsequenzen zugeordnet werden. Für andere Filme Lynchs wie Lost Highway (F/USA 1997) oder Inland Empire (F/PL/USA 2006) lassen sich ähnliche, auf mentale Metadiegesen abzielende Erklärungsmuster in der (wissenschaftlichen) Rezeption finden. Doch Mulholland Dr. wirft mit dieser angedeuteten Rahmung sowie der inhaltlich zwar diffusen, aber nicht zwingend traumartig-inszenierten Gestaltung des ersten Teils besonders deutlich die Frage danach auf, inwiefern die mentale Metadiegese formal definiert ist und in welcher Hinsicht sie als Funktion bestimmter narrativer Strategien dient (Narrative Verrätselung) oder aber lediglich eine Option neben anderen Ansätzen wie der Possible-Worlds-Theory darstellt, die ebenfalls eine gängige Interpretation des Films liefert.

 


1 Gerade für das Genre des Mind-Bender sollte beachtet werden, dass Deutlichkeit und Eindeutigkeit der Markierungen stark variieren und auch Uneindeutigkeit und Undeutlichkeit vom jeweiligen Text als narrative Mittel eingesetzt werden können.


 

Filme

Abre los ojos (Virtual Nightmare - Open your Eyes, E/F/I 1997, Alejandro Amenábar).
Inland Empire (F/PL/USA 2006, David Lynch).
Lost Highway (F/USA 1997, David Lynch).
Memento (USA 2000, Christopher Nolan).
Mulholland Dr. (Mulholland Drive - Straße der Finsternis, F/USA 2001, David Lynch).
Shutter Island (USA 2010, Martin Scorsese).

 

Forschungsliteratur

Genette, Gérard: Die Erzählung. München 1994.
Kaul, Susanne/Palmier, Jean-Pierre: David Lynch. Einführung in seine Filme und Filmästhetik. München 2011.
Kuhn, Markus: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell. Berlin/Boston 2013.
Rimmon-Kenan, Shlomith: Narrative Fiction. Contemporary Poetics. London 1983.
Thon, Jan-Noël: „Zur Metalepse im Film“. In: Hannah Birr u.a. (Hgg.): Probleme filmischen Erzählens. Münster 2009, S. 85–110.
Verstraten, Paul: „Diëgese“. In: Versus 1 (1989), S. 59–70.
Wulff, Hans J.: „Diegese“. In: Lexikon der Filmbegriffe (2012). http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=122 (03.03.2017).

 

Bezeichnung
Beschreibung Klassifizierung
Formen sprachlicher Gedankenrepräsentation: Verschiedene filmische Formen, in denen die Gedanken einer Figur sprachlich repräsentiert werden (Gedankenmonolog)
Szenischer Monolog Die Figur spricht (ihre Gedanken) lippensynchron in der Szene aus Selbstgespräch, Theatermonolog; Beiseite-Sprechen; Gespräch mit der Kamera, dem Spiegelbild etc.
Pseudo-voice-over Es ist nicht zu sehen, dass eine Figur in der Szene spricht (keine Lippenbewegung), während ihre Stimme ihre Gedanken formuliert Form des Voice-overs: interne Fokalisierung auf die Gedanken des erzählten Ichs; Variante der inneren Stimme
Innere Stimme Zu sehen ist eine Figur A, die nicht spricht; zu hören ist ihre Stimme oder die Stimme einer anderen Figur B, an die Figur A mutmaßlich denkt Kurze Voice-overs, die als Gedanken der zu sehenden Figur anzunehmen sind; häufig eingesetzt beim Lesen von Brieftexten
Formen visueller Gedankenrepräsentation: Verschiedene Formen, in denen die Gedanken/Vorstellungen einer Figur visuell repräsentiert werden
Mindscreen Oberbegriff für verschiedene Formen, in denen subjektive Wahrnehmungs- und Bewusstseinszustände, Gedanken, Vorstellungen, Erinnerungen und Einbildungen visuell auf dem Bildschirm repräsentiert, angezeigt oder symbolisiert werden Formen der Introspektion, in denen im übertragenen Sinn emotionale/mentale Zustände (Mind-) auf dem Bildschirm (screen) angezeigt werden. Mentale Metadiegese, Projektion, Einblendung und viele Formen der mentalen Metalepse bilden Untergruppen
Mentale Metadiegese Eine in der Regel anfangs- und endmarkierte metadiegetische Sequenz repräsentiert die Gedanken oder Erinnerungen einer Figur; dabei ist die Figur in der Regel von außen zu sehen (Introspektion ohne den Blick von innen) Form der Introspektion durch ontological embedding; d. h. der Wechsel der diegetischen Ebene ist geprägt durch den Wechsel der Fiktionsebene; die Metadiegese repräsentiert die Imagination einer Figur
Mentale Projektion Verzerrungen, Filter, digitale Effekte etc. symbolisieren den inneren Zustand einer Figur, die in der Regel von außen in der diegetischen Welt zu sehen ist Form der Introspektion ohne Ebenenwechsel; Nullokularisierung bei interner Fokalisierung
Mentale Einblendung Die Projektion von visuellen Einbildungen oder Phantasien einer Figur in oder auf das Filmbild; Mentale Einblendungen können durch Rahmung vom restlichen Kader abgetrennt sein, auf einen Gegenstand der Diegese oder in einen unwichtigen Bereich des Filmbilds eingeblendet werden Mentale Einblendungen kommen häufig in POV shots vor, die der Figur zugeordnet sind, der auch die eingeblendete Einbildung zugeordnet wird; interne Okularisierung und Introspektion spielen zusammen (interne Fokalisierung)
Mentale Metalepse Die figurale Einbildung einer Figur wird szenisch-real inszeniert, z.B. ein Alter Ego, das von einer schizophrenen Figur projiziert wird Form des Ebenenkurzschlusses (Metalepse): eine Figur von anderem diegetischen/ontologischen Status kommt in der Diegese vor

Abbildung entnommen aus Kuhn 2013, S. 191: Formen sprachlicher und visueller Repräsentation von Gedanken(welten) im Film.