Joh 1, 1-18 Weihnachten am Tag – Freiheit und Hoffnung

I
Vor wenigen Stunden haben wir heilige Nacht gefeiert: Lichterbaum, Kerzenglanz, Musik, ein gutes Essen. Und davor – kaum davon unterschieden – die adventlichen Wochen, die schon lange nichts mehr mit Einkehr, Besinnung, Bereitung auf die Heilige Nacht zu tun haben. Stattdessen ein Event, das sich kaum mehr vom Karneval unterscheiden lässt. In der Stadt, in der ich seit mehr als 20 Jahren lebe, gibt es fünf Weihnachtsmärkte. Täglich karren 60-80 Busse Menschen aus den nahen Nachbarstädten her, die lärmend durch die Stadt ziehen, Shopping-Tour machen, sich ein Rentiergeweih aus Pappmaché oder eine Nikolausmütze mit Blinklichtern aufsetzen, mit Glühwein zudröhnen und dann zum Bus zurückwanken. Das ist dann Advent für sie.

Papst Franziskus, der gern vorbereitete Redetexte beiseitelegt und dann kein Blatt vor den Mund nimmt, sagte vor einigen Wochen: Weihnachten – das ist für mich, so wörtlich, ein Affenzirkus. Er hatte vor Augen, was im Nahen Osten derzeit geschieht und das, was er auf seiner brandgefährlichen und so unglaublich mutigen Afrikareise gesehen hatte. Wie er überhaupt überzeugt ist, dass die, die am Rand stehen, die Ausgestoßenen und Abgeschriebenen und Abgehängten, neben der Bibel und der Tradition der Kirche so etwas eine dritte Quelle der Offenbarung sind: Weil man an ihnen am direktesten erahnen kann, was es um den Menschen ist: das wir nichts aus uns sind und haben. Und dass wir in der Begegnung mit ihnen am direktesten vor die Mitte unseres Glaubens geführt werden: die Liebe und die Barmherzigkeit, die wir ihnen allein deshalb schon schulden, weil wir selbst von der Liebe und Barmherzigkeit Gottes leben.

II
Dass Sie mich nicht falsch verstehen: Ich will Ihnen Weihnachten absolut nicht madig machen. Mir selbst übrigens auch nicht. Ich mag genauso wie vermutlich viele von Ihnen die adventlichen und weihnachtlichen Bräuche, den einen oder andern Christkindl-Markt, schöne Konzerte mit Bachs Weihnachtsoratorium zum Beispiel und dann auch festliche Gottesdienste, wie letzte Nacht oder morgen wieder. Und, dass wir uns etwas Schönes gönnen daheim zusammen mit Menschen, die wir mögen. Aber das allein ist noch nicht Weihnachten. Da kommt noch etwas anderes ins Spiel.

III
Dieses Andere steht im Evangelium, das für den Gottesdienst nach der Christmette und dem Hirtenamt in der Morgenfrühe für die Taghelle des Weihnachtsfest vorgesehen ist: diesem im Grunde nicht auszuschöpfenden Prolog des Johannesevangeliums, an dem sich Theologen und Philosophen seit Antike bis in die unmittelbare Gegenwart nicht nur die Zähne ausgebissen, sondern nicht selten regelrecht berauscht haben.

Da stehen steile Verse über das Wort, das am Anfang war und das bei Gott war, ja selber Gott war, und durch das alles geworden ist. Das ist so etwas wie eine dezente Korrektur der ersten Verse der Bibel im Buch Genesis: Nicht aus dem Nichts wird alles geschaffen, sondern aus dem – griechisch gesprochen – Logos, also dem Wort Gottes. Alles, was es überhaupt gibt, ist nichts anderes als Selbstaussprache des Gottes, der neben sich noch anderes gewollt hat, um es zu lieben und von ihm geliebt zu werden, wie ein mittelalterlicher Theologe dazusagte.

Aber mitten in diesem Schöpfungshymnus stehen ein paar Sätze, die bitter sind. Denn Johannes fügt seiner beglückenden Überzeugung, dass dieses Wort Gottes, das in Jesus ein menschliches Gesicht bekommen hat und den Menschen erleuchtet, also ihm sagt, was es um ihn ist und worauf es ankommt, – dem fügt er schnörkellos an:
Und das Licht leuchtet in der Finsternis,
und die Finsternis hat es nicht erfasst.
Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet,
kam in die Welt.
Er war in der Welt,
und die Welt ist durch ihn geworden,
aber die Welt erkannte ihn nicht.
Er kam in sein Eigentum,
aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.

IV
Aber die Seinen nahmen ihn nicht auf! Im Advent hörte ich von einem Pfarrer aus München reden, der auch sonst gelegentlich durch Ungewöhnliches auffällt. Er sagte, so habe ich gelesen: Am 11. November haben wir einen römischen Hauptmann gefeiert, den Heiligen Martin, am 6. Dezember einen türkischen Bischof, den Heiligen Nikolaus, am 8. Dezember ein jüdisches Mädchen, das in einer ganz besonderen Beziehung zu Gott steht – das Fest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria –, am 24. Dezember einen unehelichen Buben, der in einem Stall geboren wird,  und dann am 6. Januar ein paar komische Vögel aus Fernost, Magier oder – ganz fromm – Heilige Drei Könige genannt, vermutlich religiös seltsame Typen aus dem Irak oder dem Iran oder von noch weiter her. Und dann stellen Sie sich einmal vor: Diese ganze Truppe steht in Freilassing oder bei Passau an der Grenze. Würden unsere Polizisten die hereinlassen?

V
Eher nicht, würde ich mal vorsichtig sagen. Alles zu undurchsichtig, zu schräg diese ganzen Typen. So ähnlich ist es auch mit Gott. Die Seinen nahmen ihn nicht auf. Dass Gott Mensch wird, das ist für den Menschen eigentlich zu viel. Ein Gott, der auf sein Gottsein, auf alle Macht und Pracht verzichtet, um seinen Geschöpfen nahe zu sein und ihnen auf Augenhöhe zu begegnen, damit sie sich nicht mehr fürchten vor ihm, das ist zu viel verlangt für das normale religiöse Bewusstsein. Denn da gilt: Gott groß, wir klein. Gott oben, wir unten. Weihnachten hebelt genau diese Logik aus, dreht sie um. Eigentlich ein einziges Fest der Freiheit.

Und dennoch: Die Seinen nahmen ihn nicht auf. Gott nicht und diejenigen nicht, in denen ihnen Gott am unmittelbarsten begegnen würde, den Flüchtlingen, die schier ihr Leben zu retten suchen vor Gewalt, Krieg, Verfolgung und einfach Angst. Das steht ja wörtlich im Evangelium, Matthäus 25, dass wir, was wir einem der Geringsten, die arm, nackt, verfolgt, hungrig sind, Christus und damit Gott selbst getan oder nicht getan hätten.

Aber: Die Seinen nahmen ihn nicht auf. Menschen wollen nicht wissen, wer und was sie sind. Alles, was wir in der Sprache des christlichen Glaubens „Sünde“ nennen, alles Unmenschliche, Gemeine, Böse, hat einzig darin seine Wurzeln: Wir verweigern dem die Anerkennung, was wir sind: Endliche, verwundbare, zerbrechliche Geschöpfe, die von der Güte derer leben, die sich ihnen zuwenden. Gott aber hat sich für uns zum Staubkorn, zum vergänglichen Menschen gemacht, um uns nahe zu bringen, dass das alles zu uns gehört.

VI
Das hat aber noch eine Rückseite: Gott offenbart in Jesus nicht bloß unser Ureigenes. Zugleich offenbart er uns auch das Tiefste seiner selbst in dem, was Jesus noch vor all seinem Tun selber ist: nämlich Mensch. Denn: dass Gott sich im Menschsein eines Menschen offenbart, das ist seiner Offenbarung nicht äußerlich. Es ist vielmehr der Inhalt dieser Botschaft schlechthin, die Mitte seiner Selbstmitteilung.
„Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gezeltet“,
sagt Johannes dafür. Das ist der Gipfelpunkt seines ganzen Evangeliums. Das Wort ist Fleisch geworden – der immer schon auf uns hin geöffnete Gott wird Fleisch, das heißt übersetzt in die Sprache von heute: Er selbst übernimmt unsere Daseinsart, unsere Endlichkeit, unsere Ohnmacht, unsere Zerbrechlichkeit. Er macht sich verletzlich. Er tut dies nicht für sich selbst, sondern um des gänzlich anderen, um des Menschen willen. So sehr sucht er uns, dass er dafür nichts scheut, nicht einmal den Verzicht auf die eigene Wesensart. Gott geht selbst ein in unsere Lebensweise, wird einer von uns. Er will sich finden lassen von uns in dem, was uns am nächsten ist, am vertrautesten: unsere eigene Wesensart als Menschen. In ihr kann er uns auch so begegnen, dass wir keine Angst mehr vor ihm haben. Deshalb wird er Fleisch, ohnmächtig, ein kleines Kind. Der Philosoph Ernst Bloch hatte schon Recht, wenn er meinte, dass im Kern des Christentums ein veritables Stück Atheismus stecke, der Abschied von einem Gott der reinen Jenseitigkeit, einem Gott der Macht und Pracht.

Dennoch hat Johannes das, was er mit den Augen seines Glaubens an der Gestalt Jesu von Gott sieht, „Herrlichkeit“ genannt. Was er da schauen durfte, überwältigt ihn:
„Wir haben seine Herrlichkeit gesehen, [ruft er aus; K.M.], die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.“
Gott verausgabt sich für uns bis hin zum schieren Zerbrechen sämtlicher unserer Gottesbilder. Nicht triumphalistisches Machtgebaren und Glimmer also machen Gottes Herrlichkeit aus, sondern das, was im Arme-Leute-Kind von Betlehem aufleuchtet: Gnade und Wahrheit. Das sind die ganze Bibel hindurch zwei besondere Worte. Denn Gnade heißt so viel wie Liebenswürdigkeit, Zuneigung, Bezauberung – griechisch „charis“, daher kommt unser Wort „Charme“. Und Wahrheit meint das, worauf ich mich ganz und gar verlassen kann, bedeutet also so viel wie Treue. Dass Gott uns für so liebenswert hält, dass er uns unbeschreibliche Zuneigung schenkt, die uns, die Beschenkten, eigentlich nur noch bezaubern kann – und dass er durch alles hindurch sogar noch um den Preis seiner selbst zu uns treu steht und uns niemals fallen lässt, – das steht unverbrüchlich als Zusage über einem Leben, egal ob es früh oder satt an Jahren zu Ende geht. Das ist der Kern von Weihnachten. Ein Hoffnungsfest ohnegleichen. Und alles Frohe und auch Romantische, das es umgibt, hat sein gutes Recht, wenn es nur nicht für das Wesentliche und das Ganze gehalten wird.